Ein Jahr Krieg in der Ukraine

Seit fast einem Jahr tobt der Krieg, den der russische Präsident Putin am 24. 2. 2022 gegen die Ukraine begonnen hat. Ein Krieg, der mindestens 7.000 zivile Todesopfer in der Ukraine gefordert und rund ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung zu Flüchtlingen gemacht hat: 8 Mio. ukrainische Flüchtlinge sind in Europa registriert worden1, schätzungsweise 7 Mio. Binnenflüchtlinge gibt es in der Ukraine.

Die Zahl der Soldat:innen, die in diesem Krieg ihr Leben gelassen haben, ist Teil der Kriegspropaganda und deshalb nicht seriös zu ermitteln. Im November sprachen US-Militärs von jeweils rund 100.000 Soldat:innen auf russischer und ukrainischer Seite, die getötet oder verwundet worden seien. Hinzu kommt die systematische Zerstörung der „kritischen Infrastruktur“ in der Ukraine, also von Wasser- und Energieversorgung.

Ein Krieg, der noch lange dauern könnte

Warum führt Putin diesen Krieg? Krieg ist die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, wie schon der preußische Militärstratege Clausewitz wusste. Im Falle Putins ist es die Fortsetzung der Politik der Einflussnahme auf das Nachbarland, das von ihm als angestammter Teil des russischen Herrschaftsbereiches angesehen wird. Dabei ist Putin kein „gefährlicher irrer Einzeltäter“, sondern er vertritt die Interessen der herrschenden kapitalistischen Klasse Russlands, die in einer Ausweitung des von ihrem Staat kontrollierten Gebiets eine Ausweitung und Sicherstellung ihrer Profitmöglichkeiten sieht.1

Doch der russische Imperialismus ist nicht der einzige, der ein Auge auf die Ukraine geworfen hat.2 Der historisch beispiellose Umfang von NATO-Militärhilfen und -Waffenlieferungen liegt nicht daran, dass die NATO-Staaten nun plötzlich ihr Herz für Völkerrecht, Freiheit und Demokratie entdeckt hätten, oder welche schön klingenden Worte noch bemüht werden, um im Zuge der „Zeitenwende“ Militarisierung und deutsche Aufrüstung voranzutreiben.

Nein, die NATO ist noch dasselbe Militärbündnis, das im Irak, Afghanistan und anderswo selbst neokoloniale Kriege (ge)führt (hat). Die NATO-Staaten haben ihre eigenen Ziele und Motive im Zusammenhang mit diesem Krieg. In den sich verschärfenden internationalen Spannungen wollen sie militärisch vorherrschend bleiben (56 % der weltweiten Rüstungsausgaben gehen aufs Konto der NATO) und die Regionalmacht Russland dauerhaft militärisch schwächen. Deshalb werden auch von der Bundesregierung immer schwerere Waffen geliefert: Erst „Defensivwaffen“, dann Raketenwerfer, später Schützenpanzer, nun Kampfpanzer … alle Waffengattungen, die zuvor noch ausgeschlossen wurden, sind inzwischen dabei. Und nun wird über Kampfflugzeuge diskutiert.

Die westlichen Waffen verschaffen der Ukraine aber keine Übermacht. Von der militärischen Rückeroberung aller Gebiete einschließlich der Krim, die der ukrainische Präsident Selenskyj als Kriegsziel ausgegeben hat, ist er weit entfernt. Gegen die eigene Bevölkerung kann er leichtere Erfolge verzeichnen. So mit der faktischen Abschaffung des Arbeitsrechts im Sinne der Kapitalist:innen3 und der Verhängung drakonischer Strafen gegen „Deserteur:innen“: bis zu 12 Jahre Haft.

Wie können wir uns gegen den Krieg stellen?

Den meisten Stimmen in Deutschland, die sich der militaristischen Zeitenwende entgegenstellen wollen, fällt nicht mehr ein, als vom westlichen Imperialismus Verhandlungen und einen
Kompromiss mit Putin zu fordern. So appellierte der Parteivorstand der Linkspartei am 17. 12. 2022: „Bundeskanzler Scholz sollte sich jetzt für Deeskalation und Verhandlungen einsetzen, wie sie SPD-Fraktionschef Mützenich von Außenministerin Baerbock gefordert hat. […] der Westen […] muss initiativ werden für Abrüstung und Entspannungspolitik, für gerechte Weltwirtschaftsstrukturen, für zivile Konfliktlösungen und die Sicherstellung und Anerkennung der Menschenrechte.“ Ganz ähnlich klingt übrigens die AfD, die zum Besten „der deutschen Interessen“ den Zugang zu billigem russischem Gas möglichst schnell wieder herstellen will.

Das im Kalten Krieg verwurzelte Lagerdenken (wer gegen die NATO sei, müsse die russische Staatsführung in Schutz nehmen), ist leider in der deutschen Linken tief verwurzelt. Der Wunsch nach einem schnellen Ende des Krieges mit all seinen geschilderten Gräueln ist mehr als verständlich. Aber man darf sich keinen Illusionen hingeben:

Der Krieg in der Ukraine ist von russischer Seite ein imperialistischer Krieg, der geführt wird, um Teile der Ukraine zu annektieren, wie die sogenannten Referenden und die offizielle Eingliederung in russisches Staatsgebiet gezeigt haben. Die Ukraine wird von den westlichen imperialistischen Mächten unterstützt, damit sie Russland militärisch standhalten kann. Beide Seiten können diesen Krieg noch lange weiterführen.

Es lohnt sich ein Blick zurück in die Geschichte, wenn wir verstehen wollen, wie imperialistische Kriege beendet werden können. Durch Verhandlungen? Eher nicht! Zu Waffenstillständen und Friedensverhandlungen kommt es dann, wenn: A) Eine Partei ihre Kriegsziele erreicht – den Krieg gewonnen hat. B) Es zu einem Patt kommt, wo keine Seite mehr etwas zu gewinnen hat und beide Seiten erschöpft sind. Im Fall der Ukraine kann es zusätzlich sein, dass irgendwann die westlichen Imperialismen zu der Schlussfolgerung kommen, dass sie ihre Ziele in Bezug auf diesen Krieg erreicht haben und über die Köpfe der Ukrainer:innen hinweg mit Putin eine Aufteilung der Ukraine verhandeln. Von beidem sind wir im Moment weit entfernt.

Doch es gibt eine weitere Möglichkeit: C) Wenn die Bevölkerungen gegen die Fortsetzung des Krieges aufbegehren. So hat die russische Revolution den Ersten Weltkrieg im Osten beendet, weil die Arbeiter:innen und Bäuer:innen erst den Zaren, dann die bürgerliche Regierung gestürzt haben, die den Krieg
weiterführen wollten. Die russische Revolution hat ein Echo in der deutschen Revolution von 1918 gefunden, die zumindest das Kriegsende beschleunigt hat. Noch ein näher liegendes Beispiel: Der imperialistische Krieg, den die USA in Vietnam geführt haben, wurde nicht zuletzt deshalb beendet, weil die Friedens- und Anti-Kriegsbewegung in den USA selbst die politischen Kosten immer weiter in die Höhe getrieben hat.

Es hilft nichts, an die Imperialisten – wahlweise Putin, Biden oder Scholz – zu appellieren, den Krieg doch bitte zu beenden. Nur eine Bewegung von unten gegen die Kriegstreiber, die zynisch
Zigtausende Menschenleben opfern, kann eine Perspektive eröffnen. Natürlich in Russland selbst, wo mit der „Teil“-mobilmachung Hunderttausende in einem traumatisierenden Bruder-Krieg verheizt werden. Trotz der extrem harten Repression gab es Proteste sowohl zu Beginn des Krieges, als auch im Moment der Mobilmachung. Jede Opposition in Russland gegen den Krieg muss unterstützt werden, auch durch bedingungsloses Asyl für russische Deserteur:innen.

Auch in der Ukraine müssen wir darauf setzen, dass die große Masse der Arbeitenden trotz des betäubenden Kriegszustands erkennt, dass Selenskyj nicht der große Volksheld ist, als der er sich seit Putins Überfall gibt. Dass die Ukrainer:innen nicht nur auf westliche Waffen vertrauen, um die russische Armee zurückzuschlagen. Sondern dass sie sich trotz aller Schwierigkeiten als Arbeitende organisieren, sich an die einfachen russischen Soldat:innen wenden und die gemeinsamen Interessen aller Arbeitenden betonen, gegen die Ausbeuter:innen, die diesen Krieg vom Zaun gebrochen haben.

Für eine solche Perspektive können wir uns nur dann glaubwürdig einsetzen, wenn wir in Deutschland selber jeder Aufrüstung und der Rüstungsproduktion entschieden entgegentreten, die nun unter dem Vorwand der Waffenlieferungen an die Ukraine weiter ausgeweitet werden soll. Aber auch, indem wir den russischen imperialistischen Krieg nicht relativieren und uns klar auf die Seite der ukrainischen Bevölkerung stellen, die sich gegen die Zerstörung ihres Landes durch eine ausländische Armee zur Wehr setzt.

4. 2. 2023, Richard Lux, Berlin

1 data.unhcr.org/en/situations/ukraine

2 vgl. W. Ischtschenko: Wer kann diesen Krieg wollen, Jacobin Magazin #10.

3 Ausführlicher in früheren Artikeln:
sozialismus.click/category/artikel/ukraine/

4 sozialismus.click/waehrend-des-kriegs-haben-die-oligarchen-ihr-wahres-gesicht-gezeigt/