Unter dem Motto „Notruf NRW. Gemeinsam stark für Entlastung“ haben sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen ab Anfang Mai gemeinsam für mehr Personal gestreikt (Aurora Nr. 26 berichtete). Im Juli gab es eine Einigung für einen Tarifvertrag Entlastung. Aus diesem Anlass sprachen wir mit Alexandra Willer vom „Bund Revolutionärer Arbeiter“ (BRA), die am Uniklinikum Essen beschäftigt ist und aktiv am dortigen Streik teilgenommen hat.
Aurora: Ihr habt insgesamt fast 12 Wochen für eine Entlastung des Krankenhauspersonals gestreikt. Eine sehr lange Zeit! Gibt es Erlebnisse, die dir persönlich besonders im Gedächtnis geblieben sind?
Alexandra Willer: Da weiß ich echt nicht, wo ich anfangen soll. Eine Sache, die ich sicher nicht vergessen werde, war an einem der letzten Streiktage. Wir haben im Klinikum zwei Bettenzentralen, wo Kollegen versteckt im Keller für eine der niedrigsten Entgeltgruppen die Betten reinigen und desinfizieren. Einer der Kollegen hat in der Streikversammlung gesagt, für ihn sei der größte Erfolg des Streiks, dass nun alle wüssten, dass sie existieren.
Mich persönlich hat auch ein Solidaritätsbesuch bei Kolleg:innen der Druckerei Barthel geprägt. Einige von ihnen waren zu unserem Solidaritätsfest gekommen, um uns ihre Solidarität zu zeigen und weil sie, wie sie sagten, von uns lernen wollten. Denn wenige Wochen später haben sie zum allerersten Mal gestreikt in diesem Betrieb, in dem es keinen Tarifvertrag gibt, die Anzahl der Urlaubstage sinkt, wenn man Krankenscheine hatte, und wo Frauen für die gleiche Arbeit weniger Lohn bekommen. Wir haben sie bei diesem ersten Streiktag mit einer Gruppe Streikender besucht und ebenfalls Kraft durch den Mut der Kolleg:innen geschöpft, die ganz bei Null anfangen. Da hat man wirklich gespürt: Wir machen vielleicht ganz verschiedene Arbeiten, unsere Betriebe sind ganz verschieden, doch wir Arbeitenden stehen alle auf der gleichen Seite und brauchen uns gegenseitig in unseren Kämpfen.
Aurora: Worin bestanden Stärken und Schwächen eurer Streikbewegung?
A. W.: Eine Stärke war zuerst einmal, dass wir mit sechs Unikliniken zusammen gestreikt haben. Und dass wir, trotz einer sehr unterschiedlichen Streikstärke und trotz der Manöver einzelner Vorstände, bis zum Schluss noch mehr zusammengewachsen sind.
Dann, dass ganz viel in diesem Streik nicht von Hauptamtlichen und auch nicht von langjährigen betrieblichen Gewerkschaftsaktivisten gemacht wurde, sondern von den ganz „normalen“ Kolleg:innen. Diejenigen, die durch ihren Arbeitsalltag am besten wissen, welchen Besetzungsschlüssel, welche Bedingungen und welche Ausstattung sie brauchen, haben die Forderungen für ihre Bereiche entwickelt. Und sie selber haben auf den Demonstrationen, vor der Presse und bei den Verhandlungen gesprochen und ihre Forderungen vertreten. Viele hätten sich das vorher nicht zugetraut. Und gerade weil sie ihren Arbeitsalltag kennen, haben sie sich von der Gegenseite nicht einwickeln lassen. Bei den Verhandlungen hat ein Vorstandsmitglied ernsthaft unsere Kolleg:innen gefragt, warum sie denn nachts auf der Intensivstation dieselbe Besetzung fordern würden wie tagsüber. Nachts würden die Patienten doch schlafen! Nach ein paar solcher Erlebnisse haben nicht wenige Kolleg:innen gesagt, dass die Krankenhäuser besser laufen würden, wenn wir Beschäftigte in ihnen das Sagen hätten.
Eine weitere Stärke unseres Streiks war, dass eine ganze Reihe Berufsgruppen in ihm zusammen gekämpft haben. Bis zur 9. Streikwoche haben Landesregierung und Vorstände immer wieder erklärt, für die Pflege würden sie vielleicht ein bisschen was geben, aber für die anderen Berufsgruppen wäre kein Geld da. Doch besonders diejenigen, die das schon aus dem Streik von 2018 kannten, haben auf die Gefahr aufmerksam gemacht und aufgezeigt, dass eine solche Spaltung am Ende alle schwächen würde. Und an allen sechs Kliniken haben bis zum Schluss alle zusammengestanden und gesagt: Wir hören erst auf zu streiken, wenn für alle Berufsgruppen, die streiken, auch etwas herauskommt.
Die größte Schwäche unseres Streiks war eindeutig, dass es ein absoluter Minderheitenstreik war. Und wir haben es leider auch nicht geschafft, dass die Kolleg:innen der Tochter- und Subfirmen mitstreiken können. Mit dieser kleinen Minderheit haben wir uns gegen die Folgen einer jahrzehntelangen Sparpolitik und der systematischen Ausrichtung der Krankenhäuser auf Profit gestellt. Und das genau in einem Moment, wo die Krise diese Entwicklung noch einmal massiv beschleunigt hat, wo die Regierung wegen der Rekordverschuldung noch aggressiver sparen will und mitten im Streik Einsparungen beim Pflegebudget für die Krankenhäuser angekündigt hat.
Dass wir trotzdem einiges durchsetzen konnten, ist einzig der Tatsache zu verdanken, dass die Minderheit, die gestreikt hat, so hartnäckig und entschlossen war.
Aurora: Am UK Essen gab es ja ein gewähltes Streikkomitee. Kannst du uns mehr darüber erzählen, wie es dazu gekommen ist und wie ihr das dann organisiert habt?
A. W.: Wie bereits im Streik 2018 haben wir zu Beginn des Streiks vorgeschlagen, dass es jeden Tag eine Streikversammlung gibt, wo alle Fragen des Streiks offen diskutiert und abgestimmt werden. Und damit sichergestellt ist, dass die Streikversammlung auch alle Informationen erhält und die Mittel hat, ihre Entscheidungen umzusetzen, haben wir vorgeschlagen, dass sich die Streikenden ihre Streikleitung aus ihren eigenen Reihen wählen, die nur den Streikenden verpflichtet ist und die jede Woche neu gewählt wird.
Knapp 20 Kolleg:innen haben sich in das Streikkomitee wählen lassen. Ein Teil von ihnen war schon vorher länger gewerkschaftlich aktiv, ein Teil hat mit dem Streikkomitee 2018 angefangen sich zu engagieren, und ein Teil waren Kolleg:innen, für die der Streik die erste Auseinandersetzung war. Gerade diese Mischung macht eine solche Streikleitung viel besser, als wenn diese nur aus langjährigen Gewerkschafter:innen besteht.
Das Streikkomitee hat sich täglich getroffen. Wir haben gemeinsam eingeschätzt, wie sich die Streikzahlen und das Kräfteverhältnis entwickeln und welche Probleme und Ideen wir von den Streikenden zugetragen bekommen. Wir haben diskutiert, wie man den Streik nach innen stärken und vielleicht noch ausweiten kann, ob es irgendwo Spannungen mit nicht-streikenden Kolleg:innen gibt usw. Wir haben ebenfalls überlegt, wie wir den Streik nach außen stärken können, also zum Beispiel, zu welchen anderen Krankenhäusern, anderen Betrieben oder auch in welche Stadtviertel wir gehen können, um den Streik bekannt zu machen, Unterschriften sammeln und die Idee verbreiten können, dass sich unser Streik auf andere Betriebe und Branchen ausweiten müsste. Und nicht zuletzt haben wir eingeschätzt, wie wir mit den jeweiligen Aussagen, Tricks und Verhandlungsangeboten der Landesregierung und Klinikleitungen umgehen und welche Fallen sie uns stellen könnten.
Einige Kolleg:innen waren nur einzelne Wochen im Streikkomitee. Aber die große Mehrheit war die ganze Zeit dabei! Und man kann sich vorstellen, wie viel mehr man versteht und wie man sich verändert, wenn man sich 12 Wochen jeden Tag trifft und diese Fragen diskutiert.
Aber wie gesagt, alle Einschätzungen und Vorschläge inklusive aller Flugblätter wurden zwar im Streikkomitee vorbereitet. Aber all das wurde in der Streikversammlung vorgestellt, wo alle Streikenden gemeinsam darüber entschieden haben.
In einer der ersten Streikversammlungen haben wir auch entschieden, dass die Essener Tarifkommissionsmitglieder – die lange vor dem Streik bestimmt wurden – immer dahin wirken sollten, dass sie keine wichtigen Entscheidungen treffen, die nicht vorab in allen Streikzelten diskutiert und entschieden wurden. Und dass sie sich verpflichten, auf jeden Fall immer vorab sich mit dem Streikkomitee zu beraten und diesem auch keine Informationen vorenthalten dürfen.
Aurora: Würdest du sagen, dass dies auch einen Einfluss auf das Ergebnis des Streiks hatte?
A. W.: Ja, es hat zum Beispiel eine große Rolle für das Ende des Streiks gespielt. 2018 haben wir uns hier davon überrumpeln lassen, dass die Vorstände ein Ultimatum gesetzt hatten. Ein um 3 Uhr morgens erreichtes Verhandlungsergebnis musste bis zum Mittag von den Streikenden angenommen oder abgelehnt werden. Auch die Hauptamtlichen haben starken Druck ausgeübt, das Ergebnis anzunehmen. Dadurch hatten die Streikenden weder Zeit noch Möglichkeit, sich wirklich eine Meinung zu bilden und diese wichtige Frage zu entscheiden. Das hat noch lange nach dem Streik Empörung, aber auch Verbitterung hinterlassen.
Diesmal konnten wir direkt zu Beginn durchsetzen, dass die Streikenden ausreichend Zeit erhalten, um ein mögliches Verhandlungsergebnis zu diskutieren und darüber zu entscheiden. Und dass die Tarifkommission auch erst auf Basis dieses Ergebnisses formell über ein Streik-Ende abstimmen darf.
In Essen haben wir außerdem nach jedem Verhandlungstag detailliert in der Streikversammlung über den Stand der Verhandlungen berichtet, Probleme diskutiert und bei Bedarf abgestimmt. Dadurch konnten sich viele frühzeitig eine Meinung bilden. Am letzten Streiktag hat das Streikkomitee die Abschlussdiskussion organisiert und darauf geachtet, dass alle wirklich frei diskutieren und entscheiden konnten. Zuerst haben die Kolleg:innen in kleinen Gruppen diskutiert, damit sich möglichst viele einbringen können und nicht nur die reden, die sich am ehesten trauen, vor vielen Leuten zu sprechen. Sie haben erstens eingeschätzt, ob sie das Ergebnis akzeptabel finden oder nicht, und zweitens, ob sie der Ansicht sind noch mehr durchsetzen zu können, wenn man weiterstreikt. Alle Gruppen haben ihre Einschätzungen vorgetragen, die dann nochmal gemeinsam diskutiert wurden. Erst dann wurde abgestimmt. So hat das Streikkomitee sichergestellt, dass die Entscheidung keine von oben aufgezwungene, sondern eine gemeinsame Entscheidung der Streikenden ist.
Aurora: Wo wir schon beim Ergebnis sind: Kannst du es für uns zusammenfassen? Wie wurde es von den Streikenden insgesamt aufgenommen?
A. W.: Es ist nicht einfach, das komplexe Ergebnis zusammenzufassen. Für die größte Gruppe der Streikenden – die Pflegekräfte – wurden pro Abteilung Besetzungsschlüssel ausgehandelt, sprich wie viele Patient:innen eine Pflegekraft maximal zu betreuen hat. Künftig wird auf jeder Schicht die Zahl der Patient:innen und Pflegekräfte digital erfasst. Und für alle Schichten, in denen sie mehr Patienten betreuen müssen, bekommen die Pflegekräfte dann einen Belastungsausgleich: am Ende bis zu 18 zusätzliche freie Tage im Jahr, von denen fünf ausgezahlt werden. All das gilt aber erst in zwei Jahren. Bis dahin bekommen die Pflegekräfte nur fünf zusätzliche freie Tage. Diese lange Übergangszeit ist der mit Abstand größte Kritikpunkt vieler Kolleg:innen am Abschluss.
In den Bereichen Kita, Radiologie, Service und Therapeut:innen werden zwischen 10 und 15 % zusätzlicher Stellen geschaffen. Und in jedem Jahr, in dem Stellen nicht besetzt sind, bekommen alle Kolleg:innen des Bereichs fünf freie Tage als Ausgleich. Für die weiteren streikenden Bereiche, die je nach Uniklinikum verschieden waren (z. B. Ambulanzen, Steri, Einkauf, Labor, Küche, usw.), werden in jedem Uniklinikum 30 zusätzliche Stellen geschaffen, die unter Mitsprache der betroffenen Streikenden auf diese Bereiche verteilt werden. Und in jedem Jahr, in dem Stellen nicht besetzt sind, bekommen alle Kolleg:innen des Bereichs drei freie Tage als Ausgleich. Die Kolleg:innen in diesen ganzen Bereichen finden es kein gutes Ergebnis, dass es bei ihnen keine Koppelung der Stellenzahl an die Zahl der Patient:innen oder Geräte gibt – vor allem, da angesichts der Krankenhausschließungen künftig noch mehr Patient:innen zu erwarten sind. Doch nachdem es neun Wochen lang hieß, ihr bekommt nicht eine einzige Stelle, kann ich zumindest für Essen sagen, dass viele stolz darauf sind, was sie erkämpft haben.
Alle haben auch gesagt, dass dies nicht der letzte Kampf gewesen sein darf und dass wir beim nächsten Mal stärker werden müssen. Dass wir beim letzten Streik zwei Kliniken waren, jetzt sechs und beim nächsten Mal versuchen sollten, mit noch mehr Kliniken gemeinsam zu streiken. Allen ist außerdem bewusst, dass bereits ein Kampf nötig sein wird, damit der jetzige Tarifvertrag auch in die Tat umgesetzt wird.
Aurora: Eine Besonderheit war ja, dass ver.di eine private Firma namens „Organizi.ng“ beauftragt hatte, die (wie schon in der Berliner Krankenhausbewegung) an allen Standorten präsent war. Wie siehst du die Rolle der Organizer:innen? Waren sie hilfreich für euren Streik oder eher nicht?
A. W.: Ich glaube, jeder freut sich über engagierte junge Leute, die mehrere Wochen den ganzen Tag mit Kolleg:innen im Betrieb diskutieren. Bei uns haben sie viel dazu beigetragen, in der Pflege ganze Bereiche, zu denen wir vorher wenig Kontakt hatten, dafür zu gewinnen aktiv zu werden und zu streiken.
Die Organizer:innen haben die Streikstrategie von ver.di in vielen Punkten geprägt. Dazu zählt, dass sie dafür eingetreten sind, dass die Beschäftigten ihre Forderungen selber aufstellen und dass die Verhandlungen unter breiter Kontrolle von Beschäftigten stattfinden. Dies hat uns natürlich ebenfalls sehr geholfen.
Allerdings hatten die Organizer:innen quasi ein fertiges „Erfolgsrezept“, den Streik an der Charité, und das sollte um jeden Preis so umgesetzt werden. Mal ganz abgesehen davon, dass dies sehr wenig Freiraum für Kreativität und eigene Entscheidungen der Streikenden lässt. Durch dieses fertige Schema war anfangs zum Beispiel alles auf die Landtagswahlen ausgerichtet, die als fast genauso wichtig dargestellt wurden wie der Streik. Das hat viele falsche Hoffnungen und Illusionen in die Wahlversprechen und die Rolle der Politiker:innen geschürt, die dann enttäuscht wurden. Wir haben uns stattdessen darum bemüht, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, warum alle Parteien an der Regierung bei uns weiter sparen werden und dass nicht der Wunsch nach Wählerstimmen, sondern nur ein hartnäckiger Kampf sie dazu bringen kann, ein bisschen was herauszurücken. Und so ist es ja dann auch gekommen.
Durch dieses starre Schema hat sich auch etwas eigentlich Gutes ins Gegenteil verkehrt. Den Organizer:innen war es genau wie uns wichtig, dass die Verhandlungen unter möglichst breiter Kontrolle und Beteiligung der Beschäftigten stattfinden sollten. Doch dies sollte dadurch gewährleistet werden, dass die gesamte Tarifkommission von 75 Leuten und weitere 200 von den streikenden Berufsgruppen gewählte Delegierte jeden Verhandlungstag die ganze Zeit am Verhandlungsort anwesend sein sollten. Sprich ein Viertel, großteils sehr aktive Streikende, haben viele Tage lang jeden Tag in Köln verbracht. Das hat den Streik nicht demokratischer gemacht, vielleicht im Gegenteil. Denn für die meisten Kliniken war Köln so weit weg, dass diejenigen, die dort waren, nicht am nächsten Morgen in den Streikversammlungen waren, sodass die übrigen Streikenden weder über die Verhandlungen wirklich informiert wurden noch den Anwesenden in Köln Rückmeldungen und Entscheidungen mitgeben konnten.
Aber vor allem hat es den Streik geschwächt. Denn das waren 250 Streikende, die die Zeit hätten nutzen können, um in den Betrieb zu gehen und mit nicht-Streikenden zu sprechen, um andere Krankenhäuser für die Bewegung zu gewinnen, um zu anderen Betrieben oder auf die Straße zu gehen, um mit sonstigen Aktionen Druck zu machen. Sprich, um den Streik zu stärken und damit letztlich das einzige schlagkräftige Argument in den Verhandlungen.
Interview geführt von Richard Lux, Berlin