„Gelbwesten“ in Frankreich: Wenn Not zu Wut und Widerstand wird

Seit Mitte November hält die Bewegung der gelben Westen Frankreich in Atem, die sich nach den Warnwesten benennen, die sie als Erkennungszeichen überziehen. Deutsche Medien berichten vor allem von „Krawallen“ und Gewalt angeblicher politischer Extremisten.

Doch in Wirklichkeit gehen ganz normale Menschen seit Wochen gegen die Regierung auf die Straße, weil sie mit den steigenden Preisen nicht mehr über die Runden kommen.

Die Bild-Zeitung titelte „Die Schreckens-Bilanz von Paris“ und empörte sich: „Statt Menschen in Pelzmänteln beim vorweihnachtlichen Luxusshopping waren [auf den Champs-Elysées] Demonstranten in gelben Warnwesten zu sehen.“ Die Gelbwesten gehören in der Tat zu der großen arbeitenden Mehrheit, die sich weder Pelzmäntel noch Luxusshopping leisten können und nun ihre Wut gegen die soziale Ungerechtigkeit nicht länger runterschlucken: Krankenpfleger_innen, Kassierer_innen, Bauarbeiter_innen, prekär Beschäftigte, Entlassene, die als selbstständige Unternehmer_innen arbeiten, Arbeitslose und Rentner_innen. Und so unterstützen laut Meinungsumfragen fast drei Viertel der französischen Bevölkerung die Proteste.

Auslöser war die geplante Erhöhung der Benzinsteuern, mobilisiert wurde in den sozialen Netzwerken mit einer online-Petition und dem Vorschlag, das Land mit Straßensperren lahmzulegen. Am 17. November beteiligten sich zum Auftakt landesweit 300.000 an Demonstrationen. An den folgenden beiden Wochenenden gab es „nur“ noch 100.000-150.000 Demonstrierende. Die Regierung von Präsident Macron versucht sich damit zu trösten und die Bewegung totzusagen. Doch die lebt längst nicht mehr nur von wöchentlichen Demonstrationen, sondern von vielfältigen lokalen (Blockade-)Aktionen in ganz Frankreich. Und auch immer mehr Schüler_innen schließen sich an, bestreiken und blockieren ihre Schulen.

Alles öko oder was?

Die Erhöhung der Benzinsteuern soll angeblich die Energiewende finanzieren. Doch die Sorge um die Umwelt ist vorgeschoben: Diese Steuererhöhung gleicht finanziell nur aus, was der Staat durch die von Macron abgeschaffte Vermögenssteuer verloren hat. Den CO2-Ausstoß zu senken wäre dringend nötig, aber dafür müsste man sich mit Energie- und Auto-Konzernen anlegen, statt den Arbeitenden in die Tasche zu greifen, die als Pendler_innen oder im ländlichen Raum auf ein Auto angewiesen sind und für die gar keine ökologische Alternative existiert. Für die Gelbwesten ist aber die Kraftstoffsteuer längst nicht mehr das Hauptanliegen. Es war nur der Tropfen, „der den Tank explodieren ließ“, wie ein Demonstrant es ausdrückte. Es geht um alles, was das Leben unbezahlbar macht, die horrenden Mieten, zu niedrige Renten und Löhne, hohe Steuern. Die Forderungen der Gelbwesten sind dementsprechend Erhöhung des Mindestlohns und der Renten, und Wiedereinführung der Vermögensteuer.

Welche Perspektiven für den Protest?

Die Bewegung ist unabhängig von den Gewerkschaften entstanden und das ist auch eines der Probleme von Macron: Er hat keine Gesprächspartner, mit denen er im Hinterzimmer faule Kompromisse aushandeln könnte. Doch damit ist auch unklar, in welche Richtung sich die Bewegung entwickeln wird. Gerade zu Beginn hat auch die radikale Rechte versucht, Einfluss zu bekommen, die ja immer gern mit Steuersenkungen Wahlkampf macht. Doch je mehr allgemeine soziale Forderungen aufgestellt wurden, desto weniger war sie dazu in der Lage. Innerhalb weniger Tage ist ein beachtlicher Teil der Arbeiterklasse – ausgerechnet der am wenigsten gewerkschaftlich organisierte Teil – von selbst in den Kampf getreten und hat örtlich angefangen, sich selbst zu organisieren. Um sich gegen die Regierung und die mächtigen Konzerninteressen durchzusetzen, müsste die Bewegung ihre Fortsetzung in den Betrieben finden.

Denn Streiks treffen das kapitalistische System dort, wo es ihm wirklich weh tut: beim Profit. Und wer streikt, hat auch Zeit, sich zu organisieren, Aktionen vorzubereiten und durchzuführen. Die Entschlossenheit der Gelbwesten hat das Land aufgerüttelt und ihr Protest hat das Potenzial, in einen Kampf aller Arbeitenden zu münden und das Kräfteverhältnis auf ihre Seite zu verschieben.

 

Das ist der Leitartikel der Betriebsflugblätter der RSO Deutschland im Dezember. Die Betriebsflugblätter werden vor Betrieben, Krankenhäusern und auf Bahnhöfen kontinuierlich verteilt.