Bericht: Das Leben in gelb

Von Nantes bis Auxerre, von Caen bis Bordeaux, von Toulouse bis Lyon, von Puy-en-Velay bis Lannion, von Saint-Malo bis Straßburg….. Das Leben in Gelb

Ist das das Erwachen der Arbeiterklasse? Auf seiner eigenen Klassenbasis? Wir werden es in den nächsten Tagen wissen. Auf jeden Fall steht die populäre und manchmal geradezu proletarische Natur der Bewegung der gelben Westen, die Tiefe der Wut, die sie zum Ausdruck bringt, außer Zweifel.

“Die Kreisverkehre sind unser Hauptquartier.”

Ein Zelt oder eine Laube, Wände aus mit Planen bedeckten Holzpaletten – mit Strom und Licht, die von den Einfallsreichsten an der nächsten Straßenbeleuchtung angeschlossen werden – sind in der Nacht bei der Zufahrt zum Kreisverkehr aus dem Boden gewachsen, wo man jeden Tag zur Arbeit vorbei kommt. Zweifellos haben die gelben Westen ihr Zuhause gewählt. “Du musst das als 3×8 Schichtdienst machen”, sagte ein Demonstrant am 17. November in Nantes: 8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Pause, 8 Stunden Mobilisierung.

Es ist anzunehmen, dass es in ganz Frankreich gehört wurde, denn seitdem wechseln wir uns so gut wir können für die Blockaden ab. Die meisten der Anwesenden arbeiten tagsüber – oder nachts. Viele Arbeitslose haben es als eine neue Tätigkeit empfunden, die nicht bezahlt, sondern viel lohnender ist. “Ich habe hier in 15 Tagen mehr gelernt als in meiner gesamten Schulzeit”, sagt einer von ihnen.

Um die Kreisverkehre herum haben immer mehr Autos eine gelbe Weste hinter der Windschutzscheibe. Es ist wahr, dass bei einigen Blockaden, besonders zu später Stunde, der Autofahrer, besonders wenn er eine schöne Limousine fährt, einen groben Empfang erleben kann. Aber an den Kreisverkehren, die durchhalten, haben wir uns konsequent organisiert. Einzelne werden nicht mehr blockiert, man ist sich bewusst, dass die Bewegung die Sympathie aufrecht erhalten muss, die sie bei den unteren 80% der Bevölkerung gewonnen hat. Alkohol ist verboten, wie in Yonne. Und im Großen und Ganzen ist es eine wahre Solidarität, die zum Ausdruck kommt, durch Hupzeichen oder Gebäcklieferungen kommt das zum Ausdruck. In Caen organisierten gelbe Westen sogar die Verteilung von überschüssiger Lebensmittel der Tafeln. Und dann gibt es noch die LkW-Fahrer, die sich blockieren lassen, die Rohre zum Blockieren der großen Supermärkte bringen, Holz auf Anhängern… oder sie nehmen an den Demos teil.

Wieder in Caen treffen zwei gelbe Westen auf dem Weg zum Ausgangspunkt der Demo am 1. Dezember auf andere, die in die entgegengesetzte Richtung ziehen: Dies ist das erste Mal in ihrem Leben, dass diese Familie den Theaterplatz besucht. Die Demonstration beginnt pünktlich. Ein Gewerkschafter, der sich für die Gelben Westen einsetzt, kommentiert: “Sie glauben wirklich, dass sie gewinnen können, wir beschäftigen uns eine halbe Stunde lang, weil wir nicht mehr wirklich daran glauben”. “Es gibt nicht viele von uns”, beschwert sich ein Demonstrant. Es ist offensichtlich, dass er es nicht gewohnt ist lange durch die Straßen zu demonstrieren, denn wir sind mehr als bei den meisten Demos des Jahres, außer einer Protestkundgebung während des Eisenbahnerstreiks im vergangenen Frühjahr. Andere haben kein gutes Augenmaß. “Am 17. November waren es nicht 300.000 Menschen im ganzen Land, es waren mindestens 1,8 oder 2 Millionen”, ist einer von ihnen überzeugt. Wir unterhalten uns ein wenig. Er irrt sich viel, betont aber ein reales Element: Die Blockaden haben sich an diesem Wochenende vervielfacht, weit über das hinaus, was die Polizei-Präfekturen bekannt geben. Dutzende, ja sogar Hunderte von Menschen folgten einander.

Wut und Entschlossenheit

Die Tiefe der Bewegung ist besser an der Ablehnung Macrons und seiner Minister zu ermessen als durch Zählungen. Jedes Mal, wenn die Minister sprachen, bestärkten sie die gelben Westen. In der Hitparade der Demonstrationen wird die Marseillaise – die einige noch für das halten, was sie 1792 war, nämlich ein revolutionäres Lied – gerade von den Parolen überholt, wie “Macron, tritt zurück!“ („Macron, démission!“ – im Französischen reimt es sich). “Wenn nicht, gibt’s die Revolution!” („Sinon la révolution“!), fügten am 1. Dezember einige in Lyon hinzu. Viele gelbe Westen hatten zumindest zu Beginn der Bewegung ein positives Bild von den Bullen. Und viele von ihnen waren offener sympathisierend mit der Bewegung, da er nicht als links erschien. Aber die Art und Weise, wie die Regierung seine Leute einsetzt, verändert die Situation. Überall verfolgten wir die Pariser Demonstrationen, manchmal live in einem Kreisverkehr oder in einem Demonstrationszug, mit dem Gefühl, dass die Regierung die Zusammenstöße provozierte: “Bei Macrons Verachtung musste es dazu kommen, es ist alles seine Schuld”, sagten die aus Malouins am 25. November. In der folgenden Woche waren überall in den sozialen Netzwerken Bilder zu sehen, wie ein Bulle seine gelbe Weste auszog, nachdem er sich wieder in die mobilen Einheiten der Sicherheitskräfte eingereiht hat.

In vielen Städten erhellt der Kontakt mit dem Tränengas das Bewusstsein ebenso wie es die Augen erblinden lässt. In Bordeaux hörte eine NPA-Aktivistin Rentnerinnen nach der Tränengas-Demo am 1. Dezember sagen: “Als uns im Fernsehen von den Randalierern berichtet wurde, glaubten wir das, aber tatsächlich, wir stellen fest, die Randalierer, das sind wir Großmütter“. Gleichzeitig kam es in Puy-en-Velay (Haute-Loire), Tours (Indre) oder Avignon (Vaucluse) zu echten Unruhen, einfach weil sich die Demonstranten weigerten, der Repression nachzugeben. Warum? In Caen erklärte es eine arme Rentnerin, die zum ersten Mal in ihrem Leben unter Tränengas gelitten hat, auf ihre eigene Art und Weise: “Ich weine lieber wegen des Gases als wegen meiner Schulden”. Es ist schon eine Ewigkeit her, dass der Preis für Dieselkraftstoff die Gemüter der Menschenmengen nicht so erhitzt. Wir bemerkten nicht einmal, dass er gefallen war. Die gelben Westen haben noch andere Sorgen im Kopf: “Leben, nicht überleben!“.

“Ich habe die Nase voll von den Politikern!”

Überall wollten die gelben Westen zunächst Recht und Ordnung respektieren. Mit den fremdenfeindlichen Vorurteilen, die damit einhergehen. So weit, dass einige am 20. November in Flixecourt/ an der Somme so weit gingen, mit den Polizisten zusammenzuarbeiten und Migranten, die sich in einem Lastwagen versteckt hatten, an die Bullen übergaben. Ein Verhalten, das zu Recht viele Menschen angewidert hat. Aber paradoxerweise ist die Bewegung durch eine sehr starke Ablehnung aller Formen von Autorität, einschließlich die der Polizei, gekennzeichnet, sobald sie gegen die gelben Westen vorgeht. Dasselbe gilt für die “natürlichen” Ansprüche der politischen und gewerkschaftlichen Apparate, die für sich beanspruchen die Kämpfe der Arbeiter zu lenken. Die Aktivisten, die kommen, um sich und ihre Fähigkeiten einzubringen, sind willkommen. Aber wenn sie versuchen, die Apparate zu loben oder für ihre Organisationen werben, dann werden sie ausgebuht, das ist sicher. Andererseits werden alle organisatorischen Initiativen von Basisorganisationen gut angenommen.

Dieses Misstrauen gilt für alle, die glauben, dass die Zeit gekommen ist, dass sie die Führung der Bewegung übernehmen sollten. Dies gilt nicht nur für die acht selbsternannten zeitweiligen nationalen Sprecher, sondern auch für viele Führungskräfte vor Ort, die oft ihre Fähigkeiten als “Kleinunternehmer” und ihre Talente als “Verhandlungsführer” anführen. “Bevor wir nach oben gehen, um zu diskutieren”, erklärte ein Gelbe Weste-Aktivist von Caen kurz vor der Demonstration am 1. Dezember, “müssen wir uns zuerst unter uns besprechen, von Angesicht zu Angesicht. Soziale Netzwerke sind gut für die Organisation von Aktionen, aber wir müssen uns einigen, bevor wir zur Regierung gehen.” Der Aufbau der Bewegung verliert an Geschwindigkeit? Vielleicht, aber es ist teuflisch effektiv, um eine feindliche Übernahme der Wut der Bevölkerung durch einen dahergelaufenen Abenteurer zu verhindern.

In Lannion wurde die rechtsextreme Motorradgruppe, die anfangs die Kontrolle über den Kreisverkehr übernommen hatte, Ende November von den Arbeitern – oder besser gesagt von den Arbeiterinnen, die in Lannion in der Mehrheit sind – mit diesen Worten vertrieben: “Wir kämpfen gegen die Macron-Diktatur, nicht um uns hier den Führern zu unterwerfen.” In Caen sagten die Automobilarbeiter bei einer Abstimmung auf der offenen Vollversammlung am 1. Dezember: “Aber abstimmen über was? Wir haben nichts gehört. Abstimmen ohne zu wissen, worüber, so landet man bei Präsident Macron.” An einer Straßenabsperrung ging ein anderer noch weiter: “Tatsächlich beginnt es in der Schule. Man lernt zu schweigen und die Autorität zu respektieren. Das ist es, was geändert werden muss.“ Während wir diese Zeilen schreiben, ist noch nichts gewonnen. Es ist noch ein langer Weg, bis das, was wir vor Augen haben und anstreben stark genug ist, um die Kapitalisten zu zwingen, wenigstens einen kleinen Schritt zurück zu machen. Insbesondere bleibt noch viel zu tun, um zwischen den Minderheiten, die sich voll und ganz in den Aktionen, Demonstrationen, Blockaden einbringen, und der Mehrheit, die diese mit Sympathie nur betrachtet, eine Verbindung zu schaffen…. Die entschlossensten der Gelben Westen wiederholen: “Streik wäre gut, aber er ist unmöglich.” Wir werden sehen, ob die Dynamik des Kampfes diese Prognose widerlegt… ein bisschen wie die Behauptung von Gewerkschaftern und linken Aktivisten, für die die Mobilisierung der Gelben Westen nichts als reaktionär wäre. Inzwischen hat die Regierung nicht mehr nur einen Stein im Schuh, sondern einen Klotz am Bein, der sie schnell zum Stolpern bringen könnte.

 

Aus dem Französischen, erschienen in der Zeitung unserer französischen GenossInnen “convergences révolutionnaires”

2. Dezember 2018