Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo: Thesen der RSO Wien zu Satire, Religion und Rassismus

Anlässlich des Anschlags auf Charlie Hebdo und der darauf folgenden neue Welle der Islamfeindlichkeit gab es viele Stellungnahmen linker Organisationen und Autor_innen. Während die einen vor allem die Verteidigung der Presse- und Meinungsfreiheit hochhielten, betonten die anderen den Kampf gegen antimuslimischen Rassismus oder kritisierten einzelne Cartoons der französischen Satirezeitung als rassistisch. Wir sehen viele richtige Aspekte in beiden Positionen und möchten die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Thematik betonen. Diese Thesen sind nicht endgültig, sondern eine Bestandsaufnahme unseres Diskussionsstandes.

Satire und die Freiheit der Kunst

1. Darf Satire alles? Satire muss nichts! Eine rein instrumentalistische Herangehensweise an Kunst lehnen wir ab. Rap-Musik ist nicht nur dann gut, wenn sie eine politische Message (im engeren Sinn) hat. Nicht jeder Cartoon muss das kapitalistische System und den bürgerlichen Staat kritisieren. Der extremste Ausdruck dieser Position würde die Gleichschaltung der Kunst, beispielsweise im sogenannten „sozialistischen Realismus“ zur Folge haben. Kunst war dort wiederum dann nur mehr als direkte Propaganda der herrschenden stalinistischen Partei möglich

2. Satire soll im Prinzip alles dürfen – auch Cartoons veröffentlichen, die rassistische oder sexistische Stereotype bedienen. Wir sind gegen staatliche Zensur der Kunst. Das heißt aber weder, dass wir diese Kunst gut finden und propagieren, noch, dass wir in jedem Fall aktiv für dieses Recht kämpfen würden.

3. Es gibt keine Freiheit der Kunst als abstraktes Prinzip. Kunst ist immer Produkt von Künstler_innen, die zwar ihr eigenes Werk machen, aber „nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Marx). Damit ist Kunst das Produkt der materiellen Verhältnisse ihrer Zeit. Und genau deshalb wurde und wird Kunst sehr häufig als Propagandamittel instrumentalisiert – von den jeweils Herrschenden in einer Gesellschaft.

4. Gerade weil aber Künstler_innen die Freiheit haben sollen, ihre Kunst ohne staatliche Zensur zu veröffentlichen, tragen sie (auch) eine politische Verantwortung. Wo ist die eindeutige Grenze zwischen legitimen Witzen und Verhetzung, die manche Linke so gerne klar ziehen würden? Es gibt sie nicht. Es wird immer ein ständiger Aushandlungsprozess sein. Die Grenze können wir höchstens im konkreten Fall durch kollektive und demokratische Diskussion festlegen, nicht jedoch durch objektive Richtlinien.

5. Wir können auch Kunst konsumieren, die wir gleichzeitig politisch kritisieren – zum Beispiel zu Musik tanzen, weil sie uns mitreißt, die aber gleichzeitig tradierte Rollenbilder reproduziert. Es geht darum, mit der Widersprüchlichkeit der Welt umgehen zu können.

Religion

6. Die RSO ist eine atheistische und materialistische Organisation. Wir erklären uns Bewusstsein, Ideen und Gefühle aus den materiellen Verhältnissen der Welt. Demzufolge analysieren wir auch Religion nicht als etwas von Gott Gegebenes, sondern von Menschen unter den Einflüssen ihrer konkreten historischen und materiellen Bedingungen Gemachtes.

7. Karl Marx hat Religion als „Opium des Volkes“ bezeichnet. Heißt das, Religion ist etwas absolut Verdammenswertes? Für uns nicht. Folgen wir der Metapher mit der Droge, so geht es wohl nicht darum, diese zu verbannen, sondern darum, wie Menschen in ihrem Leben damit umgehen. Wir kritisieren einen oberlehrerhaften, besserwisserischen Atheismus, der den Menschen ihre Religion einfach wegnehmen will, ohne ihnen eine Alternative anzubieten.

8. Wir führen politische Kämpfe auch gemeinsam mit religiösen Menschen. Wichtiger als die Einigkeit über das Himmelreich ist uns in diesem Fall die Einigkeit über das Leben auf Erden (sinngemäß nach Lenin).

9. Wir verteidigen das Recht auf freie Religionsausübung. Wir sprechen uns dafür aus, dass Religion Privatsache ist.

„Westliche Werte“

10. Ja, wir verteidigen bürgerliche Werte wie Pressefreiheit oder Meinungsfreiheit, die oft genug von der Arbeiter_innenbewegung blutig erkämpft wurden. Sitzen wir deshalb in einem Boot mit den herrschenden bürgerlichen Parteien? Natürlich nicht, genauso wie wir nicht in einem Boot mit Salafisten sitzen, nur weil diese sich, so wie wir, auch gegen antimuslismischen Rassismus aussprechen. Außerdem müssen bürgerliche Werte heutzutage ohnehin ständig gegen die Herrschenden in der bürgerlichen Gesellschaft verteidigt werden.

11. Heute heißt das, dass wir nicht den Herrschenden, die gerade versuchen, diese Stimmung für sich positiv zu vereinnahmen, hinterher traben, sondern eine eigenständige Position formulieren, die auch darauf abzielt, deren Verlogenheit und Heuchelei zu kritisieren. Der Aufmarsch der Staats- und Regierungschefs in Paris war eine einzige Parade der Heuchelei: dort marschierten Politiker_innen, die direkt verantwortlich sind für Kriege, Repression und Zensur. Den abertausenden Opfern islamistischer Mörderbanden oder imperialistischer Kriege außerhalb Europas gedenken sie bezeichnenderweise nicht.

12. Wir sind gegen das Verbot von Blasphemie und verteidigen auch das Recht, religiöse Inhalte zu kritisieren und sich darüber lustig zu machen. Ist deswegen Religionskritik und speziell Kritik am Islam heute, in einer Stimmung voll des Hasses gegen Muslime, unsere wichtigste politische Agenda? Nein!

Islam und Islamismus

13. Der Islam ist eine Religion, zu der sich rund 1,5 Milliarden Menschen bekennen und die in den unterschiedlichsten und teilweise widersprüchlichen Versionen praktiziert wird.

14. Anders als religiöse Fundamentalist_innen und so manche radikal-liberale Atheist_innen analysieren wir den Islam (wie jedes andere Phänomen auch) nicht essentialistisch. Wir bestimmen ihn nicht aus irgendwelchen Passagen aus jahrhundertealten Büchern. Diese sind ohnehin nur durch Interpretation zugänglich und werden daher auch vollkommen unterschiedlich interpretiert, von extrem reaktionären bis hin zu feministischen Lesarten.

15. Der Islamismus und seine militante Ausprägung, der Jihadismus, sind keine Phänomene des (sehr wissenschaftsfreundlichen islamischen) Mittelalters sondern der Moderne. Für ihren Aufstieg gibt es verschiedene Gründe: das Scheitern sozialistischer und bürgerlich-nationaler Befreiungsbewegungen in mehrheitlich von Muslimen bewohnten Ländern, genauso wie die Intervention des Imperialismus (der islamistische Kräfte wie die Taliban oft direkt unterstützt hat).

16. Diese Strömungen entstehen nicht naturwüchsig aus dem Islam heraus, sondern gegen den muslimischen Mainstream. Wenn „der Islam“ das Problem ist, warum zerstören Mörderbanden wie IS, Al-Quaida oder Boko Haram religiöse Stätten und ermorden tausende Moslems? Weltweit sind die allermeisten Opfer des Jihadismus Muslime, häufig sehr gläubige. Diese islamistischen Strömungen sind aber auch unsere Feinde, die Feinde von Emanzipation und Gleichheit. Sie werden auch nicht unsere Freunde, nur weil sie gegen den Imperialismus kämpfen.

Rassismus und Islamfeindlichkeit

17. Wir stellen uns entschieden gegen die massive Welle von Islamfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus, die uns derzeit überrollt. Immer mehr auch „liberale“ Kommentator_innen geifern nun gegen den Islam, gegen seine „Rückständigkeit“, gegen die „Unfähigkeit der Muslime zur Selbstkritik“ und so weiter. Permanent werden Muslime als homogene Einheit konstruiert und zu immer weiteren Distanzierungen genötigt – so als müssten sie die Verantwortung für die Taten von Al Quaida und IS übernehmen. Diese pauschalisierenden Vorwürfe kommen scheinbar aufgeklärt und wissenschaftlich daher und sind letztendlich doch oft nichts anderes als rassistischer Müll. In einem solchen politischen Klima werden wir das Element der Religionskritik zurückstellen und jenes der Verteidigung der Religionsfreiheit hervorheben.

18. Als Marxist_innen stehen wir immer auf der Seite der Unterdrückten. Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, eine Bewegung gegen den Kapitalismus aufzubauen, in der Menschen unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung aktiv sein können.