Noch nie gab es gegen eine Fußball-Weltmeisterschaft derart heftige Proteste wie aktuell in Brasilien. Ausgerechnet in einem der fußballverrücktesten Länder der Welt gehen massenhaft Menschen gegen die sozialen Begleiterscheinungen des Mega-Events auf die Straße. Sollten wir als Linke also diese WM nicht boykottieren?
„FIFA go to hell!“, „We don't need the world cup!“, „FIFA go home!“ und ähnliche Slogans sind auf den Schildern der Demonstrant_innen zu sehen, die in etlichen großen Städten Brasiliens gegen die Auswirkungen der Fußball-WM protestieren. Sie fordern höhere Ausgaben für Bildung, Wohnungen oder Krankenversicherung anstatt für Flughäfen und sündteure Stadionneubauten.
Bereits im Juni 2013, während des Konföderations-Pokals, der als Generalprobe für die Fußball-WM der Männer gilt, kam es in Brasilien zu Massenprotesten. Entzündet hatten sie sich letztlich an der Erhöhung derPreise für Bustickets doch dies war nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Rund 300.000 Menschen demonstrierten allein in Rio de Janeiro, an die zwei Millionen waren es im ganzen Land. Auch bekannte brasilianische Fußballer wie Dante oder Neymar solidarisierten sich mit den Protesten. Doch warum freuen sich eigentlich viele Brasilianer_innen nicht über die WM? Bringt diese denn nicht auch wirtschaftliche Vorteile für die breite Bevölkerung?
Nachhaltigkeit sieht anders aus
Wie bei anderen Sportveranstaltungen dieser Art stellt sich auch hier wieder einmal die Frage der Nachhaltigkeit. Die großen Sportverbände wie das IOC oder eben die FIFA verlangen immer höhere Auflagen für die Austragung ihrer Events, die zu immer höheren Kosten führen. Und wenn dann noch eine Regierung hinzukommt, die sämtliche Städte bzw. Bundesstaaten (und Bauunternehmen) bedienen will, ist die Geldverschwendung perfekt. Obwohl für die Austragung der WM nur acht Stadien notwendig gewesen wären, wurden zwölf errichtet – um umgerechnet 2,68 Milliarden Euro, mehr als Deutschland und Südafrika zusammen gerechnet für ihre WM-Stadien ausgaben. Und wie in Südafrika, wo die als „weiße Elefanten“ bezeichneten Arenen nun großteils leer stehen, oder in Österreich, wo die Betreiber_innen des EM-Stadions in Klagenfurt verzweifelt nach Bespielungsmöglichkeiten suchen, werden selbst in Brasilien einige Stadien in Zukunft nicht mehr gebraucht werden. So wurde etwa in der Hauptstadt Brasilia ein Stadion um 505 Millionen Euro (!) errichtet, obwohl es dort nicht einmal einen Klub in den drei höchsten Ligen gibt, der dieses nach der WM nutzen könnte.
Für den Bau von Stadien und zur Imagepflege wurden Armenviertel platt gemacht und schätzungsweise 150.000 Menschen aus ihren Heimen vertrieben. Soziale Gemeinschaften und Lebensperspektiven unzähliger Menschen wurden so von einem Tag auf den anderen zerstört. Dass nun ein Drittel aller Stadien gar nicht rechtzeitig fertig werden, ist ein schlechter Treppenwitz der Geschichte.
FIFA und Konzerne kassieren ab
Von den Ausgaben für die WM profitiert die breite Bevölkerung reichlich wenig. Im Gegenteil, es ist davon auszugehen, dass sie noch jahrelang dafür zahlen wird müssen. Das große Geschäft machen hingegen einige wenige Großkonzerne, die als FIFA-Sponsoren ein Monopol in und rund um die Stadien haben (existenzbedrohend für viele Straßenhändler_innen), sowie der Fußballweltverband selbst. Und während sich die WM-Sponsoren Adidas, Budweiser, Coca Cola und Co. weigern, ihre Gewinne zu versteuern (dafür wurde 2011 sogar ein eigenes Gesetz verabschiedet, welches FIFA-Partner für vier Jahre umfassend von Steuern befreit), werden die Kosten für die notwendige Infrastruktur zu 99 Prozent aus staatlichen Mitteln finanziert. Die Bilanz könnte ähnlich verheerend ausfallen wie bei der WM in Südafrika vor vier Jahren. Dort waren die Kosten für den Staat am Ende um 1700 Prozent höher als erwartet. Anstelle eines prognostizierten Gewinns von 570 Millionen Euro stand schließlich ein Verlust von 2,3 Milliarden – während die FIFA einen Gewinn in ungefähr derselben Höhe einfuhr.
Die Fußball-WM ist ein gigantisches Umverteilungsprojekt von unten nach oben. Viele Brasilianer_innen haben das erkannt und äußern ihren Unmut. Obwohl die Teilnahme an den Protesten seit Juni 2013 zurückgegangen ist – was auch mit der massiven Polizeigewalt zu tun hat – ist das Land alles andere als zur Ruhe gekommen. Laut einer aktuellen Umfrage unterstützen nur 48% der Bevölkerung die WM. Die brasilianische Regierung hofft nun wohl (so wie viele andere Regierungen auch) auf einen Erfolg ihres Nationalteams, um die Unzufriedenheit in patriotischem Trubel zu ertränken.
Sollten wir die WM boykottieren?
Für fußballinteressierte Linke in Europa stellt sich nun die Frage: sollen wir diese WM boykottieren? Können wir die Spiele mitverfolgen und trotzdem kritisch sein?
Wir von der RSO sind nicht gegen Fußball an sich. Etliche unserer Aktivist_innen spielen selbst Fußball oder sind Fans verschiedener Teams; andere wiederum interessieren sich nicht dafür. Wichtig finden wir es aber in jedem Fall, uns mit den politischen und sozialen Begleiterscheinungen auseinanderzusetzen.. Wir finden es in Ordnung (und zum Teil sogar notwendig, um sich in dieser Gesellschaft nicht zu isolieren und psychisch zu Grunde zu gehen), an verschiedenen Formen der kapitalistischen Massenkultur mit all ihren Widersprüchen teilzunehmen. Dazu gehört für viele auch der Konsum von Fußball in seiner derzeitigen Form. Was für die einen die seichte Soap Opera ist, um nach der Arbeit ein bisschen abzuschalten, ist für die anderen ein gutes Fußballspiel. Sich ausschließlich in vermeintlich politisch korrekte Subkulturen zurückzuziehen (die in der Regel ebenso von kapitalistischen Widersprüchen geprägt sind) ist nicht unser Ding.
Es ist nicht verwerflich, sich die WM anzuschauen. Wichtig ist es aber, sich eine Kritik an solchen Kommerz-Ereignissen zu behalten. Und noch viel wichtiger ist es, die sozialen Kämpfe in Brasilien zu unterstützen. Das tun wir am besten, indem wir auch hier gegen das kapitalistische System und seine Auswirkungen kämpfen. Und wenn am Ende das Finale in Rio wegen Massenprotesten nicht statt finden kann, wird es uns auch nicht stören…
Diskussionsveranstaltung am 12.6. in Wien: