Game of Thrones: Eine historisch-materialistische Analyse

 Die US-amerikanische Fernsehserie Game of Thrones begeistert weltweit Millionen Menschen. Neben der vorzüglichen Unterhaltung können wir von der, in einer fiktiven mittelalterlichen Welt angesiedelten, Handlung auch so einiges über Machtpolitik und Herrschaft lernen. Dieser Artikel richtet sich an Fans der Serie und ist keine politische Kritik, sondern der Versuch, mit der marxistischen Methode des historischen Materialismus die Welt von Game of Thrones zu analysieren, als wäre diese real.

Über die Parallelen von Game of Thrones zu Ereignissen der realen europäischen Geschichte wurde schon einiges geschrieben. So erinnern etwa die Familiennamen Stark und Lannister aus der Serie frappant an die Namen York und Lancaster, zwei Adelshäuser, die sich in den sogenannten Rosenkriegen zwischen 1455 und 1485 um die englische Krone stritten. Diese, sowie andere Parallelen hat der George R. R. Martin, der Autor der Bücher des „Lieds von Eis und Feuer“, welche als Vorlage für die Serie dienten, auch nie bestritten.

Auf Blogs und in Internet-Foren findet eine breite politische Debatte zur Darstellung der Figuren und Völker in Game of Thrones statt, die sich stark auf feministische und antirassistischen Aspekte konzentriert. Kritisiert wurde unter anderen, und das völlig zu Recht:

–        Die rassistische Darstellung der Völker von Essos, die dann zum Teil von einer blonden, weißen „Gottkönigin“ befreit werden

–        die sehr klischeehaften Frauenrollen (wobei es hier auch Ausnahmen gibt)

–        die übermäßige Darstellung sexualisierter Gewalt als Quotenbringer

–        Die Tatsache, dass die Darstellungsform „Fantasy“ nicht dazu genutzt wird, Klischees zu brechen (so wie das oft im Science Fiction-Genre gemacht wird)

und vieles mehr. Links zu einigen interessanten Texten dazu finden sich im Anhang. 

Was ist Historischer Materialismus?

Wie bereits erwähnt ist dieser Artikel keine weitere politische Kritik am Drehbuch, der Machart oder den Charakteren und Rollen der Fernsehserie. Vielmehr nimmt der den Artikel die in Game of Thrones dargestellte Welt als real an, um diese marxistisch analysieren zu können. Dabei soll insbesondere ein Augenmerk auf die verschieden historischen Produktionsweisen, die in dieser fiktiven Welt vorkommen, gelegt werden, sowie die Frage bearbeitet werden, ob sich in der Welt von Game of Thrones der Kapitalismus entwickeln könnte.

Wir bedienen uns dabei der marxistischen Methode des Historischen Materialismus. Dieser sieht den geschichtlichen Ablauf und die Entwicklung und Veränderung von Gesellschaften als von ökonomischen Prozessen (und nicht von Ideen oder Taten „großer Männer“) bestimmt. Ökonomie wird dabei allerdings sehr breit verstanden und beschränkt sich nicht nur auf „die Wirtschaft“. Kernelement ist die gesellschaftliche Praxis der Menschen bzw. die Notwendigkeit, ihr eigenes Leben zu sichern – das heißt zu produzieren. Um (ihr eigenes Überleben) zu produzieren, gehen die  Menschen miteinander bestimmte Beziehungen ein. Diese wirken wiederum auf sie zurück und machen uns Menschen daher zu gesellschaftlichen Wesen. Dazu Marx: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (MEW 8:115)

Kräfte, die zum Zweck der Produktion eingesetzt werden, heißen Produktivkräfte. Als Produktionsverhältnisse hingegen wird die Form bezeichnet, in welcher diese Produktivkräfte eingesetzt werden. Soll heißen: Sind etwa die Produktionsmittel Privateigentum oder gehören sie allen gemeinsam? Sind die Arbeitskräfte frei oder werden sie beispielsweise als SklavInnen gehalten? Die Einheit aus bestimmten Produktivkräften und bestimmten Produktionsverhältnissen wird als Produktionsweise bezeichnet. In der Geschichte der Menschheit gab es viele verschiedene Produktionsweise und einige davon finden wir auch in der Welt von Game of Thrones wieder. Ein wichtiges theoretisches Element des Historischen Materialismus ist es jedenfalls, dass sich eine neue Produktionsweise stets schon im Keim der vorangegangenen entwickelt. Zum Prozess der Umwälzung von einer Produktionsweise zu einer anderen kommt es dann, wenn „die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen“ geraten, wie es in einem der berühmtesten Marx-Zitate heißt (MEW 13:9). 

In der Geschichte des Marxismus wurde dieser Ansatz leider von vielen als Geschichtsdeterminismus aufgefasst, d.h. dass sich die Geschichte der Menschheit automatisch und gesetzmäßig in eine bestimmte Richtung entwickeln müsste und es quasi eine vorgegebene Abfolge verschiebender Produktionsweisen gäbe. Wir weisen das zurück und verstehen den Marxismus als Methode, um Geschichte und Gesellschaften zu analysieren, so wie dies auch Marx oder Engels taten. Letzterer betonte in einem Brief, „dass die materialistische Methode in ihr Gegenteil umschlägt, wenn sie nicht als Leitfaden beim historischen Studium behandelt wird, sondern als fertige Schablone, wonach man sich die historischen Tatsachen zurechtschneidet.“ (MEW 22:81)

Soweit, so kurz. Eine gute Einführung in den Historischen Materialismus findet sich übrigens bei: Brosius, Bernd: Strukturen der Geschichte, Köln: ISP Verlag

Nun aber wollen wir uns konkret der Welt von Game of Thrones widmen.

Vier verschiedene Produktionsweisen in der Game of Thrones-Welt

In der Welt von Game of Thrones existieren mindestens vier verschiedene Produktionsweisen. Sehen wir uns diese in einem ersten Schritt kurz an und werfen die Frage auf, ob sich diese in eine jeweils „höhere“ transformieren könnten – und wenn nicht, warum nicht.

1.         Die offensichtlichste Produktionsweise ist der klassische Feudalismus des europäischen Mittelalters, der in ganz Westeros südlich der Mauer zu finden ist. Das Mehrprodukt wird hauptsächlich von der großen Masse unfreier Bauern/Bäuerinnen produziert und an das jeweilige Adelshaus abgeliefert. Die Überschüsse aus der Landwirtschaft sind die Lebensgrundlage des Adels, der nichts zum gesellschaftlichen Reichtum beiträgt.

Grund und Boden sowie Arbeitsmittel sind dabei nicht Eigentum der Bauern/Bäuerinnen, sondern der Adelshäuser. Im Unterschied zur Sklaverei, die mit dem Einfall der Andalen vor 6000 Jahren in Westeros sowie deren Religion vom Glauben der Sieben verboten wurde, „besitzen“ die Bauern/BäuerInnen aber Grund und Boden und bestellen diesen selbständig („besitzen“ also im Sinne von „sie sitzen darauf“). Auch sind sie nicht persönliches Eigentum der Adeligen. Daneben existieren HandwerkerInnen und HändlerInnen in den Städten; viele davon sind in Gilden zusammengeschlossen. Diese kommen aber leider, wie auch andere Angehörige der subalternen Klassen, in der Serie kaum vor. Ausnahmen sind beispielsweise der Schmied Gendry oder der mit Arya befreundete Metzgerssohn, der in der ersten Staffel auf Befehl von Prinz Joffrey getötet wird.

Politische Herrschaftsform ist ein Königreich, dem mehrere große Fürstentümer („Häuser“) unterstehen, welchen wiederum viele kleine Fürstentümer unterstellt sind. Obwohl der König seit der Eroberung durch die Targaryens, 300 Jahre vor Beginn der Serienhandlung, formell absolutistisch regiert, liegt die wahre Macht im Reich doch oft bei verschiedenen starken Fürstentümern, die wechselnd Koalitionen und Kriege miteinander eingehen. So befehligt der König etwa auch keine eigene Armee und ist im Kriegsfall auf die Entsendung von Heeren seiner loyalen Fürsten und deren Vasallen angewiesen. Andererseits existiert mit dem „Golddrachen“ eine einheitliche Währung, die überall in Westeros südlich der Mauer akzeptiert wird. Dennoch gleichen die sieben Königreiche eher dem Heiligem Römischen Reich im Mittelalter als den absolutistischen Monarchien der Neuzeit.

Inwiefern sich diese feudale Produktionsweise weiter in eine kapitalistische transformieren könnte, ist die zentrale Frage dieses Artikels, und soll erst weiter unten behandelt werden. 

2.         In weiten Teilen von Essos finden wir eine Form der antiken Produktionsweise vor. So etwa in den meisten „freien Städten“ im Westen des Kontinents oder den Städten der Sklavenbucht im Süden. (Diese sind politisch gesehen klassische Stadtstaaten, wie wir sie beispielsweise aus dem antiken Griechenland kennen).  Auch im untergegangenen valyrischen Imperium (das an das antike Römische Reich erinnert) existierte die Sklaverei von Beginn an. SklavInnen sind das persönliche Eigentum ihrer BesitzerInnen und erhalten in der Regel nur das notwendigste, um sich selbst zu reproduzieren. Im Gegensatz zu LohnarbeiterInnen, deren Arbeitskraft eine Ware ist, die durch Lohn gekauft wird, sind sie selbst Waren, menschliche Waren, die gekauft und weiter verkauft werden können.

SklavInnen machen einen großen Teil der Population aus, so heißt es zum Beispiel über die „freie Stadt“ Volantis, dass dort fünf Sklaven auf jeden freien Mann kommen. SklavInnen werden nicht nur eingesetzt, um auf Feldern oder in Mienen zu arbeiten, zum Teil werden sie auch zu Soldaten ausgebildet, wie das Beispiel der „Unbefleckten“ aus Astapor zeigt. Hier könnten wir die Frage stellen, wie riskant ein solcher Einsatz tatsächlich ist. Bei der Behandlung der SklavInnen, die wir aus der Serie kennen, scheinen immer wieder kehrende Aufstände nämlich sehr wahrscheinlich. In der echten Weltgeschichte gab es zwar vielfach Sklavenheere, so etwa im arabischen Raum des Mittelalters. Diese waren jedoch eher Söldner auf Lebenszeit als klassische Arbeitssklaven.

Für eine Transformation der eben erwähnten Gesellschaften auf eine „höher“ entwickelte Stufe wird sich SklavInnenarbeit wohl als Schranke herausstellen. Denn rein ökonomisch betrachtet eignet sich dieses Produktionsverhältnis nur für körperlich harte (aber nicht zu harte!), relativ simple Tätigkeiten. Zudem verschlingt die Kontrolle der SklavInnen eine Menge an unproduktiv eingesetzten Ressourcen. Dies gilt noch viel mehr für die „Gewinnung“ neuer SklavInnen durch ressourcenfressende Kriege – denn im Gegensatz zu Lohnarbeit reproduziert sich SklavInnenarbeit nicht von selbst. 

3.         Ebenfalls in Essos leben die Dothraki, die eine kriegerische, nomadische Produktionsweise praktizieren. Historische Vorbilder waren hier wohl die zentralasiatischen mongolischen Stämme des 12. und 13. Jahrhunderts (die allerdings viel kultivierter waren, als die Dothraki dargestellt werden die ja nicht einmal ein Wort für „Danke“ kennen) oder auch ältere Ethnien wie die Skythen (die, wie die Dothraki, ebenfalls keine Schrift besaßen). Die Produktionsweise der Dothraki konzentriert sich fast ausschließlich rund um das Pferd, welches als Reittier aber auch als Nahrungsquelle benutzt wird. Ackerbau wird nicht betrieben.

Weiters unterjochen die Dothraki wehrlose Hirtenvölker wie die Lhazaren, fordern aber auch von  „höher“ entwickelten städtischen Gesellschaften ihren Tribut. Auch die Dothraki setzen SklavInnen ein, diese dürften jedoch eine untergeordnete Rolle in ihrer Ökonomie spielen. Zwar sind die Dothraki in weiten Teilen von Essos gefürchtet, ihre Gefährlichkeit stößt jedoch an die Grenzen ihrer wenig entwickelten Produktivkräfte. Augenscheinlich wird das daran, dass sie keinerlei Schiffbau bzw. Schiffsfahrt betreiben, wodurch es ihnen verunmöglicht wird, im (bevölkerungs-)reichen Westeros auf Beutezug zu gehen. Zwar könnten sie Schiffe problemlos von SklavInnen antreiben lassen, der Bau und die Navigation würden aber die Produktivkraftentwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erfordern, die bei den Dothraki nicht wirklich ausgeprägt ist.

Anhand der Denkweisen, Mythen und religiösen Vorstellungen der Dothraki können wir gut sehen, wie das gesellschaftliche Sein ihr Bewusstsein bestimmt. Sie trauen, so heißt es, dem Salzwasser nicht, da ihre Pferde es nicht trinken können. Tatsächlich aber rührt diese Denkweise – der ideologische „Überbau“ – nur daher, dass sie eben ökonomisch nicht dazu imstande sind, Schiffe zu bauen und Schiffsfahrt zu betreiben.

Starke Machteinbußen würden die Dothraki durch die Erfindung des Schießpulvers in der Game of Thrones-Welt erfahren; ihre Reiterheere wären machtlos gegen mit Gewehren und Kanonen bestückten Armeen.

Möglich wäre allerdings auch, dass die Dothraki die ökonomisch und technisch höher entwickelten Stadtstaaten im Westen von Essos erobern, sich als herrschende Kaste an die Spitze dieser Gesellschaften stellen und deren Kultur und Produktionsweise übernehmen, so wie es etwa die Mongolen unter Dschingis Khan im 12. Jahrhundert nach der Eroberung Chinas praktiziert haben. Gelänge einer geeinten dothrakischen Armee ein derartiger Eroberungszug, so wäre in weiterer Folge auch ein Einfall in Westeros möglich.

Politische Herrschaftsform der Dothraki ist das sogenannte Khalasar, eine extrem patriarchale Stammesgruppe, die aus einem dutzend bis hin zu zehntausenden Menschen bestehen kann. Innerhalb dieser von einem Heerführer geleiteten Gruppen dürften die Hierarchien recht einfach gestrickt sein. Die Khalasare sind nicht vereint, wohl aber existiert in der Religion vom „großen Hengst“ die Prophezeiung, dass einmal ein Hengst „die ganze Welt besteigen“ wird, was einer Vereinigung aller Dothraki entsprechen würde. 

4. Eine weitere Produktionsweise, nämlich den Urkommunismus der JägerInnen und SammlerInnen, finden wir in Westeros nördlich der Mauer, bei den „Wildlings“ bzw. dem „freien Volk“. Diese Gesellschaft hat das Neolithikum, also die Sesshaftigkeit mit Ackerbau und Viehzucht, noch nicht erreicht (und wird es unter den gegebenen klimatischen Bedingungen extremer Kälte wohl auch nicht erreichen können). Ihre Nahrung produzieren sie durch Jagen und Sammeln, ihre Waffen bestehen großteils aus Stein, Holz oder Bronze. Da sie weder Bergbau noch Eisenverhüttung kennen, besitzen sie Gegenstände aus Eisen nur dann, wenn sie diese toten Grenzsoldaten der Nachtwache abnehmen. Da unter den extremen klimatischen Bedingungen nördlich der Mauer kaum ein Überschuss an Nahrungsmittel produziert werden kann, gibt es gar keine ökonomische Voraussetzung für die Herausbildung einer dauerhaften und stabilen herrschenden Klasse, die von einem solchen Mehrprodukt leben könnte.

Privateigentum an Produktionsmitteln – in ihrem Fall das Land, auf dem sie jagen und sammeln – kennen die freien Völker des Nordens nicht. Politische Autoritäten – in der Regel Heerführer – werden gewählt, haben aber keine besonderen Privilegien. Frauen sind in dieser Gesellschaft gleichberechtigt, was sie unter anderem daran zeigt, dass auch sie KriegerInnen sein bzw. anführen können.

Die Clans nördlich der Mauer bilden keine komplett friedliche Gesellschaft. Einerseits gibt es auch Rivalitäten untereinander, andererseits unternehmen einige Stämme immer wieder „Ausflüge“ in den Süden (wobei sie – was technisch gesehen ein wenig unrealistisch erscheint – über die Mauer klettern oder sie mit kleinen Booten umschiffen) um dort zu stehlen und zu plündern.

Jedoch dürften nicht alle Verbände des „freien Volkes“  komplett egalitär sein, es scheint unten ihnen auch „Häuptlingsgesellschaften“ mit simpler Hierarchie zu geben, die auch vor Gewalt nach innen nicht zurückschrecken. Ein Beispiel dafür wäre der misanthropische Patriarch Craster, der mit seinen Frauen und Töchtern, die er regelmäßig vergewaltigt, recht einsam auf einem befestigten Bauernhof mitten im Wald lebt.

Könnte sich in der Welt von Game of Thrones der Kapitalismus entwickeln? 

Gemäß dem marxistischen Verständnis entwickelt sich eine neue Produktionsweise im Keim immer schon „im Schoß der alten Gesellschaft“ (MEW 13:9). Das kann passieren, wenn sich neuartige Produktivkräfte entwickeln, die in Widerspruch mit den alten Produktionsverhältnissen geraten. Sind die neuen Produktivkräfte stärker als die alten Produktionsverhältnisse, so kommt es zur sozialen Revolution. Dass dies allerdings kein Automatismus ist, wird schon dadurch klar, dass Marx auch die menschliche Arbeitskraft als Produktivkraft (sogar als wichtigste) bezeichnet hat.

Der historische Kapitalismus in der realen Welt hat sich aus dem europäischen Feudalismus heraus entwickelt. Einige Voraussetzungen und Entwicklungen führten dabei zur Herausbildung des Kapitalismus. Zum einen war es die Befreiung der menschlichen Arbeit von den feudalen Fesseln (in England, den Niederlanden oder Norditalien ab ca. 1400). Zum anderen war dies die Entstehung einer Klasse von KapitalistInnen, die die frei gewordene Arbeitskraft kaufen konnte. Während aus ehemals unfreien (ländlichen) Bauern/BäuerInnen (städtische) ArbeiterInnen wurden, speiste sich  die neue Bourgeoise aus dem alten Adel, dem städtischen Handwerk sowie HändlerInnen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Einher ging dies stets mit der Entwicklung neuer Produktionsmittel (wie z.B. die Nutzung der Windkraft in den Niederlanden ab 1550).

Auf eine erste Revolution der Produktivkräfte (Protoindustrialisierung im frühneuzeitlichen Europa, z.B. durch die Erfindung des Tretspinnrads oder von Hochöfen) folgte also eine Revolution der Produktionsverhältnisse (Lohnarbeit wird vorherrschend), welche dann wiederum eine zweite Revolution der Produktivkräfte auslöst (industrielle Revolution z.B. durch Entwicklung der Dampfmaschine, der Eisenbahn, der Elektrizität etc.).

Die Frage ist also: Gibt es in der Welt von Game of Thrones Produktivkräfte in relevantem Ausmaß, welche die Entwicklung neuer (kapitalistischer) Produktionsverhältnisse erfordern? Oder sind die alten Produktionsverhältnisse noch stärker als neue Produktivkräfte?

Fangen wir bei den Produktionsmitteln an? Revolutionäre technische Erneuerungen des Spätmittelalters wie das Schießpulver oder den Buchdruck gibt es in der Game of Thrones-Welt nicht. Ob andere  Produktionsmittel des Spätmittelalters, wie Hochöfen, die Kohlefeuerung, oder das Tretspinnrad existieren, ist nicht klar. Andererseits aber verfügt man über ein recht wirksames Kommunikationsnetz basierend auf Raben, die Briefe zwischen den einzelnen Burgen und Städten transportieren. Wichtige Nachrichten verbreiten sich dadurch oft schon innerhalb weniger Tage über den Kontinent, was kaum den Kommunikationsmöglichkeiten des realen Mittelalters entspricht.

Wie sieht es mit den nicht-materiellen Produktivkräften aus d.h. mit dem Stand der Wissenschaft? In Westeros scheint die „Religion der Sieben“ weit weniger Macht und Einfluss auf die Gesellschaft zu haben, als die Katholische Kirche im europäischen Feudalismus. Tatsächlich spielt Religion in der Serie anfangs eine untergeordnete Rolle, wir erfahren auch recht wenig über den Klerus der dominanten Glaubensrichtung Westeros'. Es wäre daher anzunehmen, dass sie somit auch weit weniger als Hemmschuh für Wissenschaft und Forschung in Erscheinung treten würde.

Eine weitere gute Voraussetzung für die Entwicklung des Kapitalismus ist die relativ starke Vereinheitlichung in Westeros (immerhin ein Kontinent in der Größe Europas) auf ganz bestimmten Bereichen. So existiert ja, wie oben bereits erwähnt, ein einheitliches Währungssystem, etwas, das es beispielsweise in Deutschland erst ab 1871 (!) gab. Auch die einheitliche Sprache scheint eine gute (aber letztendlich auch nicht notwendige) Voraussetzung zu sein. Daneben gibt es aber auch einige bedeutende Schranken für einen kapitalistischen Durchbruch, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll.

Schranke 1: Die Städte in Westeros

Eine wesentliche Schranke für die Herausbildung relevanter kapitalistischer Produktionsverhältnisse könnte sein, dass es in Westeros kaum „freie Städte“ gibt, wo sich eine mächtige Bourgeoise parallel zum dominierenden Hochadel entwickeln könnte. Die Städte Westeros' sind in der Regel immer Herrschaftssitze der verschiedenen Fürstentümer. Interessant ist jedoch, dass nur zwei der fünf größten Städte des Kontinents vom Hochadel regiert werden. Während King's Landing bekanntlich der Sitz des Königs und Hauptstadt des Reichs ist, wird Lannisport von nicht erstgeborenen Thronfolgern der Lannisters verwaltet. Doch die anderen drei Großstädte, Gulltown, White Harbor sowie die zweitgrößte Stadt von Westeros, Oldtown, werden allesamt von Vasallenhäusern regiert. Hier könnte sich eventuell ein Interessenskonflikt zwischen politisch mächtigen Häusern des Hochadels und ökonomisch mächtigen kleineren Häusern, die möglicherweise einen immer größeren Teil ihres Reichtums aus kapitalistischen Aktivitäten wie Seehandel und nicht aus Frondiensten beziehen, herausbilden.

Eine Personifizierung eines solchen Interessenskonfliktes finden wir im Charakter des Lord Baelish. Er entstammt einem kleinen, unbedeutenden Adelsgeschlecht und wurde doch zu einem der mächtigsten Männer in Westeros; schaffte es bis zum Schatzmeister des Reiches und in den kleinen Rat. Dabei stammt sein Reichtum großteils aus dem Besitz von Bordellen (eine der wenigen Branchen in Westeros, in denen Lohnarbeit vorherrschend ist). Baelish ist eindeutig Kapitalist, nicht Feudalherr.

Allerdings scheint es so, als wären die politisch mächtigsten Häuser – zumindest oberflächlich betrachtet – auch die ökonomisch mächtigsten. Allen voran natürlich die Lannisters und die Tyrells. Sollte in Westeros ein Prozess der Überlagerung und Durchdringung der traditionellen Feudalwirtschaft durch kapitalistische Elemente einsetzen, so hätten hier jedenfalls Fall die Tyrells die besten Karten in der Hand. Denn der wahre Reichtum liegt nicht bei den Lannisters, die lediglich Gold haben, weil sie Goldminen besitzen, sondern bei den Tyrells die über die fruchtbarsten Regionen des Kontinents herrschen und somit „reale“ Ressourcen kontrollieren, wie hier schlüssig argumentiert wird.

Auf jeden Fall müsste es irgendeinen endo- oder exogenen Anstoß für einen solchen Prozess geben, so wie es die Agrarkrise des späten Mittelalters in Europa war, die das Einkommen der Grundherren verringerte und einerseits zu kapitalistischen „Gegenmaßnahmen“ führte und andererseits der städtischen Bourgeoise ermöglichte, Grund und Boden zu erwerben und gewinnorientiert zu nutzen.

Braavos als frühkapitalistischer Kristallisationspunkt?

Marx hat das Handelskapital als historische Form des Kapitals überhaupt beschrieben. „Seine Existenz und Entwicklung zu einer gewissen Höhe ist selbst historische Voraussetzung für die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, 1. als Vorbedingung der Konzentration von Geldvermögen, und 2. weil die kapitalistische Produktionsweise Produktion für den Handel voraussetzt. (…) Andererseits wirkt alle Entwicklung des Kaufmannskapitals darauf hin, der Produktion einen mehr und mehr auf den Tauschwert gerichteten Charakter zu geben, die Produkte mehr und mehr in Waren zu verwandeln.“ (MEW 25:339)

In diesem Sinne könnte ein möglicher Kristallisationspunkt für eine kapitalistische Entwicklung die reiche Stadt Braavos im Nordwesten von Essos sein, die an die frühkapitalistischen Handelsstädte Norditaliens oder der Hanse erinnert. Im Gegensatz zu den anderen „freien Städten“ dürfte das ökonomische, politische und kulturelle Klima dort tatsächlich relativ „frei“ und liberal sein. So wird der politische Anführer, der sogenannte Seelord, gewählt und nicht durch Erbfolge bestimmt. Braavos' Reichtum basiert auf dem Seehandel der zur Herausbildung einerseits von bedeutendem Handelskapital und andererseits von einflussreichen Banken geführt hat. Dass sogar der König von Westeros bei der „Eisernen Bank“ von Braavos Schulden angehäuft hat, zeigt wie mächtig diese Institution ist. Hier sehen wir auch wieder den Interessenskonflikt zwischen Adel und aufstrebender Bourgeoise.

Schranke 2: Die Mauer

Aus der Geschichte der Menschheit kennen wir einige Befestigungssysteme, die die Gesellschaft ihrer ErrichterInnen vor als „barbarischen“ bezeichneten Völkern jenseits der Grenze schützen sollte. Das bekannteste und eindrucksvollste Beispiel ist sicher die Große Mauer in China, aber auch der Hadrianswall, der die römischen BesatzerInnen im heutigen Großbritannien vor den Stämmen aus dem Norden beschützen sollte.

In der Welt von Game of Thrones gibt es ebenfalls eine große Mauer, die mit ihren 240 Metern Höhe die Chinesische Mauer deutlich in den Schatten stellen würde. Im Norden von Westeros gelegen und vor rund 8000 Jahren aus Eis errichtet, soll sie die „zivilisierten“ Königreiche vor den „Wildlingen“ schützen. Bewacht wird die Mauer von der Nachtwache, einer überregionalen militärischen Einheit, die sich nicht einzelnen Adelshäusern sondern einzig dem „Reich“ verantwortlich fühlt. Nun erscheint es ein wenig fragwürdig, warum man sich vor technisch wie militärisch wenig entwickelten Stämmen mittels einer überdimensionierten Mauer schützen muss. Wichtig dürfte vor allem ihr symbolischer Wert sein, als Warnung vor einem unberechenbaren, wilden, furchteinflößenden Außenfeind. So erfüllen auch die Geschichten von den White Walkers, mystischen zombiehaften Wesen aus dem hohen Norden, wie sie etwa von Old Nan in Winterfell erzählt werden, eine wichtige ideologische Funktion. Auch wenn die White Walkers zu Beginn der Serie schon seit hunderten Jahren nicht mehr gesehen wurden, müssen diese als Außenfeind stets aufs Neue konstruiert werden, um Spannungen im inneren des Reichs zu überdecken (was freilich nur von mäßigem Erfolg gekrönt ist).

Ein nicht beabsichtigter Effekt der Mauer dürfte weiters sein – und hierauf wird in der Serie nur wenig eingegangen – dass die Mauer gigantische Ressourcen bindet. Schließlich muss ein Bauwerk dieser Größe mit seinen Toren und Wachtürmen, noch dazu in einer solch unwirtlichen Gegend, regelmäßig repariert werden. Auch die Rekrutierung und Versorgung der, wenn auch nur 1000 Mann starken, Nachtwache muss gewährleistet sein.

Ein Grund für die Stagnation der feudalen Gesellschaft in Westeros könnte sein, dass eben diese Mauer immer wieder entstehende ökonomische Überschüsse sofort verschlingt bzw. bindet, ähnlich wie das die Große Mauer mit den Ressourcen des chinesischen Kaiserreiches gemacht hat. (Eine gute Erklärung dazu findet sich bei Wallerstein, Immanuel:  Das moderne Weltsystem – Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäischen Weltökonomie im 16. Jahrhundert, Frankfurt/Main)

Schranke 3: Drachen 

Eine noch größere Schranke könnte jedoch die Existenz von Drachen in der Welt von Game of Thrones sein. Ihr Einsatz als Kriegsmittel kann immer wieder zu enormer Produktivkraftzerstörung führen, wodurch etwaige kapitalistische Produktionsverhältnisse bereits im Keim zerstört werden könnten. Das Vorhandensein von Drachen hieße umgelegt auf die reale Geschichte der Menschheit, dass es im Hochmittelalter Kampfjets gegeben hätte und zwar konzentriert in wenigen Händen. BesitzerInnen von Drachen – in der Serie die größenwahnsinnige Daenerys – könnten immer wieder relativ einfach große Teile der Welt erobern (so wie es ja auch unter Argon Targaryen geschah) oder zumindest schwächen und wären so nicht auf die Entwicklung neuer Produktivkräfte zur Vermehrung ihres Reichtums angewiesen. Auf der anderen Seite könnte sich durch die Drachen-Dominanz kaum in Teilen des Kontinents ein Kapitalismus parallel zum Feudalismus in anderen Regionen herausbilden, so wie es in Europa der Fall war. Selbiges gilt in abgewandelter Form auch für andere „übernatürliche“ Phänomene wie Magie oder die White Walker aus dem Norden.

Schranke 4: Das Klima

„Winter is coming“. Der Winter naht. Das Problem dabei ist halt, man weiß nie, wie lange er dauern wird. Ein Spezifikum der Game of Thrones-Welt sind bekanntlich die unregelmäßigen Jahreszeiten. Diese können Monate aber auch mehrere Jahre dauern und die jeweilige Länge ist kaum vorherzusehen. Es ist jedenfalls anzunehmen, dass die langen Winter die bäuerliche Bevölkerung Westeros', vor allem in den nördlicheren Regionen, immer wieder massiv reduzieren. So kann sich nur schwer eine ländliche Überpopulation entwickeln, die als potentielles Proletariat in die Städte zieht.

Fazit

Dass sich in der Welt von Game of Thrones ein Kapitalismus entwickeln könnte, ist nicht ausgeschlossen. Allerdings könnten die eben erwähnten Hindernisse eine Erklärung dafür liefern, warum die feudale Gesellschaft in Westeros bereits seit 6000 Jahren (!) besteht und somit eine beeindruckende Stabilität aufweist. Und zu guter Letzt dürfen wir eines nicht vergessen: Game of Thrones ist nur eine Fernsehserie. In diesem Sinne: Viel Spaß mit den neuen Folgen im Frühjahr 2014! Und gebt acht! Because winter is coming.

 

P.S.: Ein herzliches Dankeschön geht an alle GenossInnen verschiedener marxistischer Strömungen, die mit mir Thesen zu diesem Artikel diskutiert haben und somit zu einer Entstehung maßgeblich beigetragen haben.

 

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