Mali: Neokolonialer Taumel

Es herrscht Krieg – überall auf Welt. Die stattfindende Militärintervention in Mali ist ein neokolonialer Angriff. Über dahinterstehende Zusammenhänge und Interessen wird getäuscht oder gelogen. Die Situation in Nordafrika und Nahost explodiert und die Antwort des Westens ist einfach: Gewalt und Repression.

Die Angst vor einem vor der europäischen Haustür gelegenen „Afrikanistan“, also einem Afrika, dass, wie Afghanistan, mit islamischen GotteskriegerInnen durchsetzt ist, geht um. Mali wird nun zu einem weiteren Schauplatz eines angeblich humanistischen Bodenkrieges für Menschenrechte, Demokratie und Freiheit. Frankreich schreitet stolzer Brust voran, in der historischen Verantwortung für sein Kolonialreich „Französisch-Sudan“ („Französisch-Westafrika“) – gefolgt von seiner europäischen Kompagnons.

Die Malikrise und in der westlichen Entsprechung die kriegerische Intervention wird in der Öffentlichkeit als einfaches Oberflächenphänomen, als Reaktion auf islamistischen Terror, kommuniziert. Die Ursachen der Konfliktsituation liegen weit tiefer.

Koloniale Vergangenheit und Gegenwart

Erst 1960 wurde die französische Provinz „Französisch-Sudan“ nach 77 Jahren Kolonialherrschaft zu „Mali“ und in die formale Unabhängigkeit entlassen. Der Versuch einer sozialistischen Transformation des Landes fand durch einen Militärputsch 1968 ein jähes Ende. Die Diktatur unter Oberst Traoré sorgte dafür, dass Mali nach den ökonomischen Interessen Frankreichs zugerichtet wurde. Erst durch einen weiteren Militärputsch konnte 1992 ein parlamentarisches Regime eingeführt werden.

Die ökonomische Abhängigkeit zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich konnte nie aufgelöst werden. Mit der Einführung des Parlamentarismus 1992 kam es zu keinem personellen Wechsel in der Staatsbürokratie, die in kolonialer Tradition vererbbar und korrupt ist. Stattdessen wurde eine neoliberale Kur durch IWF/Weltbank verordnet. Privatisierungen und Marktöffnung für ausländische InvestorInnen schufen neue Formen der Abhängigkeit und der Einflussnahme. Die Staatsverschuldung liegt über dreieinhalb Mrd. US-Dollar und ist im Steigen begriffen.

Malis Bevölkerung ist bitterarm, 36% der MalierInnen unter der Armutsgrenze, die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei nur 48 Jahren und die Kindersterblichkeitsrate liegt bei fast 12%. Das sind nur offizielle Angaben, die Dunkelziffern liegen weit höher und der Krieg wird sie weiter in die Höhe treiben. Die nutzbaren Anbauflachen werden in Mali mit Baumwoll-Monokulturen überzogen und im wichtigen Wirtschaftszweig Bergbau sind hauptsächlich ausländische Spezialkräfte beschäftigt. Infolge liegt die offizielle Arbeitslosenquote bei über 30%. Eine wichtige Einnahmequelle für die Bevölkerung sind mittlerweile „remittances“ geworden, finanzielle Rücküberweisungen durch malische ArbeitsmigrantInnen im Ausland.

Als Folge der Aufteilung Westafrikas durch die verschiedenen Okkupanten fanden mehr oder weniger willkürlich verhandelte Grenzziehungen statt, die als Erbe des Kolonialismus Afrika auch heute noch zerklüften. Die malische Bevölkerung setzt sich heute daher aus über 30 Ethnien zusammen.

In künstlich geschaffenen, multiethnischen Territorien herrscht enorme soziale Spannung, Eigenidentifikation findet über Ausgrenzung und Feindseligkeit statt und Verteilungs- und Hegemoniekämpfe sind die logische Folge. Solche feindlichen Sozialräume haben sich nicht natürlich entwickelt, sondern sind das historische Ergebnis von Zwangsverwaltung. So haben die Kolonisatoren, ob in Lateinamerika oder Afrika, unter den jeweiligen Bevölkerungen bewusst unterschieden, einerseits in lokale Eliten, die für Verwaltung und Herrschaft praktisch waren und sind und andererseits, um potentielle soziale Revolten im Keim zu ersticken.

Nicht allein deshalb ist Mali heute vielgeteilt. Staatliche Investitionen und internationale Fördermittel kommen stets dem Süden, in dessen Hauptstadt Bamako die Regierung sitzt, zugute. Der Norden wurde sich selbst überlassen. Hier herrscht die Wüste mit Dürre und Armut, die Nomadenkultur der Tuareg zerbricht und als einzige Überlebensmöglichkeit sehen die meisten NordmalierInnen die organisierte Kriminalität.

Umkämpfte Wüste

Im Norden Malis, in der östlichen Zentralsaharaa, siedeln neben vielen anderen kleinen Ethnien die Tuareg. Andere Tuareg leben mehrheitlich in Niger, aber auch in Algerien oder Libyen. Ihren Namen haben sie von orthodoxen Muslimen und er bedeutet „von Gott Verstoßene“, da sie sich zwar am Islam orientieren, ihn aber an die Nomadenkultur anpassen. So tragen nicht etwa die Frauen einen Schleier, sondern die Männer und die Frau nimmt eine zentrale Rolle ein. So sind die Tuareg-Gesellschaften matrilinear organisiert, was bedeutet, dass Besitz von der Mutter an die Tochter vererbt wird und auch bei einer Trennung so gut wie alles an die Frau geht.

Die Tuareg-Hierarchien werden durch ein Kastensystem bestimmt. Früher lebten sie von Viehzucht, Subsistenzwirtschaft, Handel und Tributsystemen. Sie sind lange Zeit ohne Zentralgewalt ausgekommen, erst beim Überfall der EuropäerInnen wurden Föderationen gebildet, um sich gegenseitig zu koordinieren und auch zu bekämpfen, aber vor allem um den Kolonisatoren Widerstand entgegenzusetzen. Mehrere Dekaden konnten sie sich erfolgreich wehren, erst in den 1920er-Jahren wurden sie unterworfen.

Die französische Kolonialverwaltung bereitet den Niedergang der Nomadenkultur vor. Sie erhoben Steuern und verboten etablierte Handelssysteme. Die territoriale Aufsplitterung Afrikas hat Wanderrouten, Weidegebiete und Stammesverbindungen unterbrochen und zerstört. Der Name Tuareg ist selbst ein Ausdruck für Fremdbestimmung, ihre Eigenbezeichnung lautet – nach wie vor – Imuhar.

Seit dieser katastrophalen Entwicklung fordern die WüstennomadInnen Selbstbestimmung in Form eines eigenen Staates. 1963 wurde kam es zu Aufständen gegen die sozialistischen Zentralgewalt, sie wurden jedoch niedergeschlagen und viele Tuareg flüchteten danach nach Libyen.

In den 1980er-Jahren – nach Ende des Ölbooms – wurden die arbeitslosen Tuareg aus Algerien nach Niger oder Mali zurückgeschickt. Internationale Hilfsgelder zur Wiedereingliederung kamen nur der korrupten Bürokratie zugute. 1990 kam es in Niger zu einem Aufstand der in Lager eingepferchten Tuareg für Autonomie und Gleichstellung, der auch auf Mali übergriff.

Die antiafrikanisch-rassistische Stimmung nach dem Krieg von 2011 vertrieb die Tuareg – wie viele andere nicht-arabische Ethnien – aus Libyen. Die RückkehrerInnen wollten sich mit den elenden Bedingungen nicht abfinden und Kämpfe um Unabhängigkeit und Ressourcenverteilung flammten erneut auf. Die gut ausgestatteten libyschen Ex-Offizieren und SoldatInnen stärkten die RebellInnen, die sich in der Befreiungsbewegung MNLA (Mouvement National pour la Libération de l’Azawad) organisieren. In nur wenigen Monaten konnte die malische Nationalarmee aus dem Norden vertrieben und die Unabhängigkeit ausgerufen werden.

Der neu ausgerufene Staat Azawad wurde allerdings von keinem Land anerkannt. Radikale IslamistInnen, die aus dem algerischen Bürgerkrieg der 1990er-Jahre im Norden Malis ein Fluchtareal entdeckten und im Kampf gegen die Nationalarmee involviert waren, wollten die Scharia im neuen Staate durchsetzten. Die laizistisch-orientierte MNLA konnte sich gegen die IslamistInnen nicht durchsetzten, da diese wesentlich besser finanziert und bewaffnet sind. Ihre Ressourcen und finanziellen Rücklagen haben sie durch Lösegelderpressungen, Drogenhandel und reaktionäre Gönner aus den Golfmonarchien erlangt.

Pflichtbewusstes Frankreich

Im März 2012 wurde der gewählte Präsident Touré durch einen Militärputsch aus dem Amt entfernt. Im Dezember 2012 kam es zu einem weiteren Putsch, wie im März angeführt durch den US-nahen Hauptmann Amadou Sanogo, in dessen Verlauf der Premierminister der Übergangsregierung festgenommen wurde. USA, EU und ECOWAS (afrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS) geben sich empört.

Berichte über Übergriffe durch irreguläre Milizen gegen die Tuareg häufen sich nun. Die Militärjunta unter Sanogo scheitert, es kommt zu einem Ausgleich zwischen ECOWAS und den Putschisten. Der jetzige Präsident Traoré wird von den Putschisten im Einvernehmen mit der ECOWAS eingesetzt.

Auf das Vorrücken der rund tausend islamischen GotteskriegerInnen (unterschieden in der unterschiedlichen Rebellenfraktionen: MUJAO, AQMI und Ansar Dine) in den Süden reagierte nun Frankreich mit dem Lostreten eines Bodenkrieges, der „Operation Serval“ – Seite an Seite mit der illegitimen, antidemokratischen Putschistenregierung und ECOWAS.

Doch das interessiert weder die EU noch die Vereinten Nationen, die den Militäreinsatz legitimieren. Frankreich bezieht aus den Tuareg-Gebieten einen Großteil des Urans für seine Atomwirtschaft. Die dort Ansässigen MalierInnen sind der verstrahlten, zerstörten Uran-Abbau-Landschaft ausgeliefert, oft ohne zu wissen, welchen Gefahren sie sich aussetzen. Es geht auch um noch nicht erschlossene Uran-Lagerstätten und erst kürzlich entdeckte Erdöl-Vorkommen.

Die Sicherung der sich hauptsächlich in französischem Besitz befindlichen Wirtschaft im Süden Malis ist zentral. Frankreich hat in den vergangenen fünfzig Jahren einen Filz von Politikern, Konzernen, Geheimdiensten, Militärs und despotischen Regimen in Afrika entweder aus der Kolonialzeit erhalten oder neu aufgebaut. Dieses korrupte Netzwerk wird im Französischen „Françafrique“ genannt.

Die „Operation Serval“ in Mali hat viele Vorläufer. Frankreichs Armee hat in den letzten vierzig Jahren unter anderem im Tschad, in der Westsahara, der Elfenbeinküste, in Ruanda und Kongo militärisch interveniert. Ziele und Interessen waren immer die gleichen. Das Abstecken von territorialen, politischen und ökonomischen Einflussspähren. Frankreich verantwortet den Terrorismus – historisch und aktuell – gegen die AfrikanerInnen mit und kann deswegen die Probleme auf diesem Kontinent nicht lösen, schon gar nicht militärisch.

Dass Deutschland als neuer imperialistischer Akteur mitmischt, darf nicht verwundern. „Unser Feld ist die Welt“ sagt der deutsche Staatssekretär Rüdiger Wolf auf der Handelsblatt-Konferenz (2012). Deutschland ist drittgrößter Waffenexporteur der Welt, das findet in der Außenpolitik seine Entsprechung. Rüstungsexport und weltweite Militäreinsetze finden im Einklang mit dem offiziellen „Gestaltungsmächtekonzept“ von 2012 statt. Der deutsche Bundespräsident Gauck flankiert diese Entwicklung wohlwollend, er predigt die „gerechten Kriege“ pastoral und hetzerisch.

Was droht

Der Bodenkrieg in Mali wird nicht für Menschenrechte, Demokratie und Freiheit oder gar im Interesse der MalierInnen geführt. Daran ändert sich auch nichts, wenn die lokale „Befreiung“ von radikalislamischer Unterdrückung durch die ausländischen Soldaten von MalierInnen als positiv empfunden wird. Hunger, Kriminalität und Krankheit könnten zivil erfolgreicher und billiger bekämpft werden. Die bisherigen Antiterrorkriege, Antidrogenfeldzüge und Militäreinsätze gegen Kriminalität und Fundamentalismus sind aufschlussreich genug. Sie bedeuten Terrorismus gegen die zivile Bevölkerung und Fremdaneignung der lokalen Ressourcen. Das gilt für Irak, Afghanistan, Kosovo, Somalia, Mali und viele mehr.

Die militärische Eskalation in Mali hat schon und wird noch weiter Flüchtlingswellen auslösen, die Menschen zwangsweise entwurzeln oder Existenzen vernichten. Weder ECOWAS-Truppen, noch die französischen, deutschen, belgischen und englischen SoldatInnen oder gar amerikanische Drohnen werden zwischen Tuareg und Dschihadisten unterscheiden. Schon jetzt gibt es Meldungen von Massakern an Tuareg-HirtInnen. Dazu kommt, dass gerade das malische Militär voller Hass über die Niederlage gegen die Tuareg im vergangen Jahr ist – und dies die zivile Bevölkerung auch spüren lässt.

Welches Elend droht, ist noch gar nicht absehbar. Wenn der Kapitalismus in der Krise steckt, dann wird er brachialer in der Erschließung neuer Profitquellen, also Mensch und Natur. Wir erleben, wie eine neue, natürlich modernisierte Form der Kolonisierung entsteht, angefangen an der europäische Peripherie bis in die entferntesten Plätze der Welt, wo Ressourcen locken, die Profit versprechen.