“Die Krise ist so stark, die Menschen müssen revoltieren!”

In Griechenland gibt es täglich neue Massenproteste, Streikwellen und Jugendproteste beherrschen die Stimmung im Land. Wir sprachen mit Maria Christofi und Margarita Koutalaki von der Organisation OKDE über die aktuellen Proteste, über die soziale Situation im Land und über die Aussichten für die Zukunft.

Maria und Margarita sind langjährige Aktivistinnen der OKDE. Die Organisation der Kommunisten-Internationalisten Griechenlands – Arbeiterkampf ist eine trotzkistische Organisation, ihre Schwerpunkte liegen in Thessaloniki, Athen und einigen weiteren Städten. Die OKDE macht Gewerkschaftsarbeit und hat Einfluss in einigen Betriebsgewerkschaften, für Jugendliche und StudentInnen bietet sie Mitarbeit in ihrer Jugendorganisation SSP an.

Das Interview mit Maria und Margarita führte Michael Mlady von der RSO Wien.

 

Könnt ihr zu Beginn etwas über die soziale Situation und die Einsparungen der Regierung erzählen?

Gern. Wir wollen hier nur ein paar Beispiele geben, was die sozialdemokratische PASOK-Regierung derzeit tut.

Im Gesundheitssektor etwa soll es künftig – außer in Athen – in jeder Stadt nur mehr ein Spital geben. Zum Vergleich: in Thessaloniki gibt es derzeit sieben oder acht. Spitäler müssen bereits derzeit öfter ihre Arbeit stoppen, einfach weil kein Material mehr da ist. PatientInnen werden auch ersucht, ihr eigenes Bettzeug und ihre eigenen Injektionsnadeln mitzunehmen. Auch Untersuchungen kosten, für ein Röntgen etwa müssen PatientInnen 60 Euro bezahlen.

Im Bildungssektor sollen 1000 Schulen geschlossen werden. Die Gehälter der LehrerInnen wurden bereits um mehr als 25% gekürzt, es soll nun eine weitere Kürzung geben. Im öffentlichen Dienst werden Stellen kaum mehr nachbesetzt, derzeit wird von 10 Stellen nur eine nachbesetzt, in manchen Monaten gar keine.

Für Arbeitslose gibt es nur noch Unterstützung, wenn sie keine eigene Wohnung, kein Haus, kein Auto oder kein Feld besitzen. Nachdem es in Griechenland recht üblich ist, Eigentumswohnungen zu besitzen oder auch vielleicht noch irgendwo ein Feld von den Großeltern geerbt zu haben, trifft das breiteste Schichten, gar nicht zu reden vom Besitz des Autos, das oft ja schon notwendig ist, um in die Arbeit zu kommen.

Die Regierung plant ja auch umfassende Privatisierungen. Welche Bereiche betrifft das konkret?

Ja, es soll umfangreich privatisiert werden, etwa die Strom- und Wasserversorgung, die Häfen, die Flughäfen und die staatliche Telekom-Gesellschaft. Es gab auch bereits einige kleinere Streiks in all diesen Bereichen, aber die sozialdemokratisch kontrollierte Gewerkschaft GSEE führt die Streiks nicht zusammen und vereinheitlicht sie.

Kommen wir zu den jüngsten Ereignissen. Was könnt ihr über die neue "BürgerInnenbewegung" erzählen?

Diese Bewegung begann am 25. Mai und sie wächst schnell. Zuletzt waren bei einer Kundgebung 400.000 am zentralen Syntagma-Platz vor dem Parlament in Athen und zeitgleich 50.000 in Thessaloniki. Am Anfang war die Bewegung sehr diffus, doch die Ziele werden mit jedem Tag klarer.

Jeden Tag wird über die Forderungen und Losungen abgestimmt, dabei beteiligen sich tausende, bis zu 20.000 in Athen und bis zu 5.000 in Thessaloniki. Die formulierten Ziele sind nun der Rücktritt der Regierung, die Annulierung aller Schulden, der Rückzug der "Troika" aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds sowie etwas, was die AktivistInnen nach spanischem Vorbild "echte Demokratie" nennen.

Die Bewegung ist gut organisiert, es gibt Komitees für verschiedene Aufgaben, etwa Versorgung oder Reinigung. Wir haben die Initiative zu einem Komitee ergriffen, wo nun täglich in die verschiedenen Viertel von Athen gegangen wird, um in den Betrieben, den Nachbarschaften und den Schulen zu informieren.

Was neu ist, ist dass es nicht gewünscht ist, dass Parteien und Gewerkschaften als solche auftreten. Das ist natürlich ein Problem, es ist aber auch ein Reflex auf schlechte Erfahrungen und die Bürokratie. Es ist möglich, beispielsweise zu sagen, von welcher Organisation wir sind, wenn wir sprechen, Infotische aber sind nicht erwünscht. Unsere Flugblätter geben wir im Namen von drei bekannten AktivistInnen der Organisation, darunter eine von uns beiden, Margarita, heraus. Wir glauben aber jedenfalls, dass die Bewegung wegen der sehr breiten Beteiligung ein großer Fortschritt ist.

Es sind sehr viele Menschen aktiv geworden, die vorher nichts getan haben, wir müssen teils also unsere Sprache anpassen. Wenn wir also beispielsweise sagen, dass wir einen Generalstreik wollen, stoßen wir auf Skepsis, weil die bisherigen kurzen Generalstreiks ja wenig gebracht haben. Wenn wir aber sagen, dass wir ein paar Wochen die Arbeit niederlegen sollten, damit die Regierung geht, finden die Menschen das gut.

Bis jetzt haben viele AktivistInnen die Erfahrung gemacht, dass die Generalstreiks nun kein Schritt mehr vorwärts sind. Was passiert, wenn es mit den BürgerInnenversammlungen ähnlich passiert?

Viele radikalisieren sich gerade sehr positiv, auch viele junge ArbeiterInnen nehmen an der Bewegung teil. Sie trauen sich oft nicht, im Betrieb etwas zu tun, weil sie Angst vor Arbeitslosigkeit haben, aber hier können sie sich einbringen.

Wir denken, dass die Erfahrung dieser BürgerInnenversammlungen an sich extrem wichtig ist. Die Menschen lernen auch sehr viel und lernen zu kämpfen. Die BürgerInnenversammlung hat das so formuliert: "Der einzige Kampf, der verloren geht, ist der Kampf, der nicht geführt wird."

Wie seht ihr derzeit die Gefahr von breiter Repression gegen die Bewegung? Es ist ja ein Dokument der CIA aus der US-Botschaft in Athen aufgetaucht, wo als eine Variante ein Putsch erwähnt wird.

Die Polizei prügelt natürlich immer wieder in die Demonstrationen, am 11. Mai etwa wurde ein Mann lebensgefährlich verletzt. Unsere Demoblöcke sind Tränengas ausgesetzt und es werden auch Menschen verurteilt wegen ihrer Beteiligung an der Bewegung, ein Genosse von uns etwa zu sechs Monaten bedingter Haft.

Die Gefahr für einen Putsch sehen wir derzeit aber nicht, dazu ist die Bewegung zu stark. Was aber passieren könnte, ist eine Art "weicher Diktatur", also die Aussetzung der Wahlen.

Derzeit aber setzen die EU und die Herrschenden in Griechenland eher auf eine politische Lösung. Eine Möglichkeit wäre eine Regierung der "nationalen Einheit" aus der sozialdemokratischen PASOK und der konservativen Nea Dimokratia [Anmerkung: diese Option hat die PASOK mittlerweile vorgeschlagen], eine andere ein "TechnokratInnenkabinett" aus "bekannten Männern", es werden auch neue "unverbauchte" Parteien gegründet.

Die Regierung hat den linken Parteien im Parlament, der stalinistischen KKE und dem Linksbündnis SYRIZA, auch vorgeschlagen, selbst Vorschläge für den Umgang mit den Kürzungen auszuarbeiten. Das haben aber beide abgelehnt, es wäre wohl auch ihr politisches Ende.

Es hat ja jüngst auch organisierte Übergriffe von FaschistInnen gegeben. Besteht hier Gefahr?

Es stimmt, die FaschistInnen von Chrisi Avgi (Goldener Sonnenaufgang) haben den Tod eines Mannes im Zentrum von Athen dazu benützt, eine organisierte Jagd auf MigrantInnen in diesem Viertel durchzuführen. In Athen haben sie auch einen Abgeordneten im Stadtrat und bekamen bei den Wahlen im November 2010 in Athen fünf Prozent der Stimmen.

Wir müssen natürlich sehr wachsam sein, dennoch denken wir nicht, dass eine unmittelbare Gefahr besteht, dass die FaschistInnen sehr stark wachsen.

Könnt ihr ein wenig mehr über die Politik der linken Parteien sagen?

Die KKE spielt leider ihr übliches Spiel. Wenn sie Bewegungen nicht kontrollieren kann, bleibt sie abstinent oder denunziert sie sogar. Das Diffamieren geht derzeit nicht, weil die Bewegung zu stark ist, aber die KKE beteiligt sich nicht aktiv.

Das Bündnis SYRIZA, dem neben der eurokommunistischen SYNASPISMOS auch einige Organisationen aus trotzkistischer oder maostischer Tradition angehören, macht derzeit eine Krise durch zwischen den verschiedenen politischen Flügeln. Offiziell fordert SYRIZA nun nicht den Rücktritt der Regierung, sondern ein Referendum über die Schulden und sogar ein Komitee, das prüfen soll, welche Schulden in Ordnung gehen und welche annulliert werden sollen.

Daneben gibt es das linksradikale Wahlbündnis ANTARSYA, wo trotzkistische und andere kommunistische Organisationen versammelt sind. Für uns scheint, dass sowohl SYRIZA wie ANTARSYA leider wenig Plan haben, sie sind auch in der Bewegung kaum sichtbar.

Bei Wahlen ist die Linke derzeit recht stark, in der Region um Athen etwa hatten KKE, SYRIZA und ANTARSYA bei den jüngsten Wahlen gemeinsam rund 25% der Stimmen – allerdings bei nur rund 50% Wahlbeteiligung. Doch keine Partei kann die Stimmen wirklich in Mobilisierung umwandeln, es sind auch eher Stimmen gegen die Regierung als für die Politik der jeweiligen Parteien.

Die Regierung sagt derzeit, entweder wir gehen aus dem Euro raus und machen den Staatsbankrott oder wir machen Sparpakete. Manche auf der Linken sagen, wir sollen im Euro bleiben. Wir hingegen sagen, dass das nicht der Punkt ist, sondern dass die Sparpakete bereits der Bankrott sind.

Zum Abschluss: wie geht es mit euer Arbeit und wie geht es nun weiter?

Unsere Arbeit geht ganz gut voran. Wir machen Fortschritte mit einigen Betriebsgewerkschaften [Anmerkung: das entspricht mehr oder weniger den BetriebsrätInnen im deutschsprachigen Raum] und unsere Arbeit unter den Restaurantbeschäftigen in Thessaloniki bleibt weiter wichtig. (Mehr dazu in "Griechenland: Repression gegen Restaurant-ArbeiterInnen ")  Die Arbeit ist natürlich hart, auch weil viele GenossInnen selbst von der Krise betroffen sind, viele sind etwa arbeitslos geworden. Aber wir werden weiter kämpfen. Wir treten aktuell für einen unbefristeten Generalstreik und für den Sturz der Regierung ein. Wir glauben auch, dass die Bewegung weiter gehen wird. Die Krise ist so stark, die Menschen müssen einfach revoltieren!

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg in eurem Kampf!

 

Zum Weiterlesen:

Der Stand des Klassenkampfes in Griechenland (Jänner/Januar 2011)

Vereinigen wir die Kämpfe in ganz Europa! Gemeinsame Erklärung von OKDE und RSO zur Krise und den bevorstehenden Klassenkämpfen. (Juni 2010)

Rubrik Griechenland auf sozialismus.net

 

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