Buchbesprechung: –„Aufbruch der zweiten Generation–“

Das Interesse an den Lebensbedingungen, Einstellungen und Kämpfen der chinesischen ArbeiterInnenklasse hat innerhalb der deutschsprachigen Linken in den letzten Jahren stark zugenommen. Ein neues Buch beschäftigt sich nun ausführlich mit der Klassenzusammensetzung und den Klassenkämpfen in China.

In China gibt es weder linksbürgerliche Präsidenten, die gegen die USA wettern, wie in Lateinamerika, noch Besetzungen von Unis, wie in Europa. Was es in China jedoch in immer größeren Ausmaß gibt, sind Kämpfe, die viele europäische Linke bereits abgeschrieben haben: Es sind die Kämpfe von räumlich hoch konzentrierten, industriellen ArbeiterInnen, die Kämpfe der chinesischen ArbeiterInnenklasse. Doch wer sind diese ArbeiterInnen? Wie leben sie? Wie denken sie? Und vor allem – wie kämpfen sie? Der Sammelband „Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China“ widmet sich diesen Fragen.

Gongchao

Herausgegeben wird das Buch von AktivistInnen aus dem Umfeld der Website http://www.gongchao.org (der chinesische Begriff „Gongchao“ steht für Streik, Streikbewegung oder -welle, auch Arbeiterinnenmobilisierung oder -bewegung). Die „FreundInnen von gongchao“, wie sie sich selbst nennen, haben 2007 bereits die „Wildcat“-Beilage „Unruhen in China“ sowie 2008 das Buch „Dagongmei“ herausgebracht, in dem junge chinesische Arbeiterinnen aus ihrem Leben berichten.

„Aufbruch der zweiten Generation“ enthält nun verschiedenste Beiträge chinesischer SozialwissenschaftlerInnen der letzten Jahre. „Zweite Generation“ deshalb, weil es hauptsächlich um jene Schichten von „WanderarbeiterInnen“ geht, die in den 2000er Jahren erwachsen wurden und deren Kämpfe seit 2003 stark zunehmen. Anders als ihre bäuerlichen Eltern, die erste Generation der Wanderarbeit, betrachten sie die Stadt als ihren Lebensmittelpunkt, sind mobiler, aktiver und aufmüpfiger.

Im Vorwort merken die HerausgeberInnen selbst kritisch an, dass die Beiträge der chinesischen WissenschaftlerInnen, die ihre Studien hauptsächlich mittels Interviews und teilnehmenden Beobachtungen erstellt haben, oft mit reformistischen Problemlösungsstrategien enden. Das ist für universitäre Arbeiten jedoch nicht verwunderlich und ändert nichts am durchaus interessanten Inhalt der Studien.

So ist der Beitrag von Pun Ngai und Lu Huilin eine gute Sozialreportage über die BauarbeiterInnen in Chinas SubunternehmerInnensystem. Es entsteht jedoch ein wenig der Eindruck, als wären dem Text unnötigerweise akademische Theorien und Begriffe übergestülpt. Zhang Lu beschäftigt sich in ihrem Artikel mit den „Fabrikregimes“, also den unterschiedlichen Herrschaftsmethoden in der chinesischen Autoindustrie und stellt die Frage, warum es in dieser Branche bislang zu verhältnismäßig wenigen Arbeitskämpfen gekommen ist (was durch die jüngsten Entwicklungen wieder umgestoßen wurde, dazu weiter unten).

Sehr interessant ist auch die Untersuchung von Zhang Xia über die so genannten „bangbang“, die Lastenträger in der Mega-Metropole Chongqing. Wie auch in einigen anderen Beiträgen des Buches wird hier die postmoderne Diskursanalyse zwar ein bisschen überbewertet, nichtsdestotrotz gelingt der Autorin eine interessante Darstellung der Klassenstellung der bangbang zwischen „Lumpenproletariat“ und Kleinbürgertum.

Der spannendste Beitrag im ersten Teil des Buches („Untersuchung der neuen Klassensubjekte“) ist vielleicht die Studie von Zheng Tiantian zur Ethnographie der chinesischen Karaoke-Sexindustrie. Während ihrer 20-monatigen Feldforschung in Dalian hat die Autorin selbst als Barhostesse in verschiedenen „Karaoke-Bars“ gearbeitet, wo die in China illegale Prostitution oft stattfindet. Die Beschreibung ihrer teilnehmenden Beobachtung ist mitreißend, so zum Beispiel wenn Zheng davon berichtet, wie sie gemeinsam mit anderen Frauen vor mafiösen Schlägertrupps flüchten musste.

Prozesse der Klassenzusammensetzung

Der zweite Teil des Buches trägt den Titel „Prozesse der Klassenzusammensetzung“ – ein Begriff des italienischen Operaismus, der darauf abzielt, dass sich die ArbeiterInnenklasse in Zyklen von Kämpfen und ökonomischen Umbrüchen immer wieder neu zusammensetzt. Im ersten Artikel gibt Ching Kwan Lee einen Überblick über die Entwicklung des ArbeiterInnenaufruhrs in China. Die Autorin betont dabei, dass es große Wellen an Klassenkämpfen im modernen China schon immer gegeben hat. So etwa die Streikwelle 1956-57, Streiks während der „Kulturrevolution“ oder die Bewegung Ende der 1980er Jahre (Stichwort Tiananmen-Massaker), die in „westlichen“ Medien zu Unrecht als StudentInnenbewegung dargestellt wird. Auch die Problematik der Staatsgewerkschaften sowie die vielfältigen Reaktionen der Regierung auf die Proteste, die von Repression bis hin zu besseren Arbeitsgesetzen reichen, werden diskutiert.

Für jene, die sich bereits etwas ausführlicher mit der chinesischen ArbeiterInnenklasse beschäftigt haben, ist der Beitrag der „FreundInnen von gongchao“ sicherlich der interessanteste des ganzen Buches. Er handelt nämlich von der jüngsten Streikwelle in der chinesischen Autoindustrie im Frühjahr 2010 – die größte Welle von sich ausbreitenden Streiks in China seit jenen in den Staatsunternehmen 2002. Der Artikel zeigt, wie weit ein kämpferisches Bewusstsein unter Teilen der chinesischen ArbeiterInnenklasse bereits verbreitet ist, über welche – potenzielle – enorme ökonomische und damit politische Macht diese Schichten zum Teil verfügen und wie es sogar im autoritären China gelingen kann, mittels Handy und Internet zu mobilisieren und Proteste auszuweiten. In einigen der bestreikten Automobilwerke hatten sich kurzfristig sogar Streikkomitees gebildet (eine riskante Sache, da die RepräsentantInnen dieser Komitees damit zur Zielscheibe staatlicher Repression werden).

Abgeschlossen wird das Buch mit einem Beitrag von Pun Ngai und Chris King-Chi Chan, die eine Analyse des Klassendiskurses in China seit der Mao-Ära liefern. Der Text ist nicht uninteressant, dennoch stößt die entbehrliche akademische Sprache („strukturelle Textualität“, „Dyslexie der Klassen-Sprache“) sauer auf und macht den Artikel nicht gerade einfach verständlich.

Resümee

Insgesamt haben die HerausgeberInnen mit „Aufbruch der zweiten Generation“ ein wichtiges Buch vorgelegt, dass vor allem für all jene politischen AktivistInnen interessant ist, die sich noch nicht so ausführlich mit dem Thema auseinander gesetzt haben. Doch auch für „Fortgeschrittene“ bietet das Buch jede Menge Information, die jedoch teilweise eher von soziologischem als von rein politischem Interesse ist. Kritisch anzumerken wäre, dass nicht nur die WissenschaftlerInnen (die großteils in Hongkong oder den USA arbeiten), sondern auch die HerausgeberInnen das China der Mao-Ära ein wenig undifferenziert als „sozialistisch“ oder „staatssozialistisch“ bezeichnen. Diese Begrifflichkeiten sind nicht nur ein Widerspruch in sich (wie kann ein Staat „sozialistisch“ sein?, siehe dazu unsere Broschüre „Marxistische Staatstheorie “) sondern führen auch die bürgerliche Diffamierung des Wortes Sozialismus weiter. Hier wäre eine Auseinandersetzung mit der trotzkistischen Theorie des Stalinismus sinnvoll, jedoch ist das zugegebenermaßen nicht die Hauptaufgabe eines solchen Buches.

„Aufbruch der zweiten Generation“ kann helfen, die politischen und ökonomischen Prozesse in China besser zu verstehen. Und das ist auch wichtig, denn hier ist eine ArbeiterInnenbewegung im Entstehen, die das Potenzial hat, in zukünftigen revolutionären Prozessen eine herausragende Rolle zu spielen.

 

 

Inhalt:

FreundInnen von gongchao: Vorwort – Aufbruch der zweiten Generation

 

Teil 1 – Untersuchung der neuen Klassensubjekte

Pun Ngai/Lu Huilin: Klassenerfahrung der BauarbeiterInnen in Chinas Subunternehmersystem

Zhang Lu: Chinas Automobilindustrie. Schlanke Produktion und Kontrolle der ArbeiterInnen in einem Zeitalter der Globalisierung

Xue Hong: Strategien der Arbeitskontrolle in drei Elektronikfabriken Südchinas

Zhang Xia: ziyou (Freiheit), Berufswahl und Arbeit: bangbang in Chongqing, China

Zheng Tiantian: Von Bäuerinnen zu Barhostessen. Eine Ethnographie der Karaoke-Sexindustrie Chinas

Yan Hairong: Zwischen Ruralität und Autonomie im Arbeitsprozess. Migrantische Hausangestellte im heutigen China

Teil 2 – Prozesse der Klassenzusammensetzung

Ching Kwan Lee: Die Entwicklung des Arbeiteraufruhrs in China

FreundInnen von gongchao: "Sie haben das selbst organisiert" – Die Streikwelle von Mai bis Juli 2010 in China

Pun Ngai/Chris King-Chi Chan: Die Subsumtion des Klassendiskurses in China

Kurzbiographien der AutorInnen

Index

aufbruch-coverPun Ngai, Ching Kwan Lee u.a.: Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China

18 Euro, 294 Seiten, Assoziation a, Oktober 2010

 

 

 

 

 

RSO-Publikationen zum Thema:

Marxismus Nr. 17: China unter MaoChina unter Mao

Von der Entstehung zum Niedergang der Volksrepublik 
Marxismus Nr. 17, August 2000, 232 Seiten A5, 10 Euro

 Erhältlich im Webshop der RSO

 

 

 

 China auf dem Weg zur Weltmacht?

Historische Hintergründe 
Restauration des Kapitalismus 
Chinesischer Imperialismus? 
Soziale Lage und Klassenkämpfe 

Marxismus Sondernummer 26, Januar 2008 
100 Seiten A5, 3,5 Euro

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