Ficken im Kapitalismus

Sexualität ist ein wichtiger Teil unseres Lebens. In der modernen kapitalistischen Gesellschaft sind sexualisierte Darstellungen allgegenwärtig. In der ArbeiterInnenbewegung und der Linken ist das Thema hingegen oft stark unterbelichtet. Wir stellen hier einige grundlegende Überlegungen an – zur Entwicklung von Sexualität im Kapitalismus, zum zeitgenössischen Attraktivitätsmarkt und zu den Positionen der sozialistischen Bewegung zu Sex, Liebe und Moral.

Heute ist Sexualität weitgehend von kapitalistischen Marktmechanismen durchdrungen. Das betrifft nicht nur Prostitution und den Heiratsmarkt, sondern auch die Auswahl von SexualpartnerInnen. Die grelle Kommerzialisierung und Pornografisierung von Sexualität steht in auffallendem Kontrast zu den weit verbreiteten Idealen von romantischer Liebe, monogamer Treue und „traditioneller“ Kleinfamilie. Diese Widersprüche sind Ausdruck der Entwicklung von Sexualität unter den Bedingungen der Klassengesellschaften der letzten Jahrhunderte.

Sex in Bauernschaft, Bourgeoisie und Proletariat

Im europäischen Feudalismus reproduzierten sich die Herrschaftsverhältnisse auch auf der Ebene der Sexualität. Die leibeigene Bevölkerung, insbesondere Frauen, waren den sexuellen Wünschen der adeligen Herren weitgehend ausgeliefert. Die Kirche vertrat die Linie „heiraten ist gut, aber nicht heiraten ist besser“, um so das Personal für den Klerus zu rekrutieren. Außerhalb des Klerus war die Ehe das zentrale Bezugssystem. Die bäuerliche Familie war eine soziale Einheit, der auch das Gesinde angehörte. Für die Auswahl der EhepartnerInnen waren Besitz, Erbschaft und Arbeitsfähigkeit entscheidend und nicht sexuelle oder emotionale Anziehung.

Große Teile der Bevölkerung waren allerdings vom Recht auf Heirat ausgeschlossen: unterbäuerliche Schichten, Gesinde, nichterbende Geschwister. Sie waren einerseits den sexuellen Begehrlichkeiten des Patriarchen des bäuerlichen Haushaltes ausgesetzt. Andererseits entwickelten sich auch innerhalb dieser unteren Schichten sexuelle Beziehungen; da sie „illegitim“ waren, mussten sie oft versteckt stattfinden (nicht zufällig entwickelte sich im alpinen Raum der Spruch „auf der Alm, da gibt´s ka Sünd`“, waren doch durch die Almwirtschaft Knechte und Mägde oft monatelang der direkten Kontrolle des Herren und der Kirche entzogen).

Heiratsverbote und die Ächtung unehelicher Kinder sollten das Bevölkerungswachstum eindämmen. Das funktionierte nur teilweise; dadurch, dass eine große Anzahl an Kindern in der Feudalgesellschaft unehelich war, wurden die ländlichen Unterschichten reproduziert. Sexualität war durch Sitten und Gebräuche geprägt; Abweichungen wurden von der kirchlich vorgegebenen Norm als „Sodomie“ verurteilt. Im Falle von Vergewaltigungen („Nothzucht“) mussten Frauen beweisen, ihre „Scham“ ausreichend verteidigt zu haben. Frauen aus den unteren Schichten hatten gegen höher gestellte Vergewaltiger ohnehin keine realen rechtlichen Möglichkeiten.

Im 19. Jahrhundert fand eine erste „sexuelle Revolution“ statt. Die Entwicklung der Industrie und der damit verbundene Arbeitskräftebedarf führten zu einer erhöhten Mobilität. In der Folge kam es zu einer Erosion der hausrechtlichen Abhängigkeit des Gesindes. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es erhöhte Raten von „illegitimen“, also unehelichen Geburten. Unter dem Druck der tatsächlichen sozialen Veränderung wurde auch die Gesetzgebung gemildert: Der voreheliche Geschlechtsverkehr wurde entkriminalisiert.

Mit der sich durchsetzenden kapitalistischen Produktionsweise fielen Produktion und Reproduktion immer mehr auseinander. In der Folge entstand die bürgerliche Kleinfamilie. Die wissenschaftliche Betrachtung von Sexualität wurde zur neuen Ideologie: Es wurden Normen von Sexualität, Männlichkeit und Weiblichkeit wissenschaftlich definiert, Männern ein „Geschlechtstrieb“, Frauen ein „Liebestrieb“ zugewiesen. In dieser Zeit kam es auch zu einer Pathologisierung weiblicher Sexualität (Nymphomanie, Hysterie). Homosexualität wurde biologisiert und ebenfalls als krankhaft und degeneriert eingeordnet. Erstmals geriet dabei auch lesbische Sexualität in den Blick. Generell wurde alles außer vaginaler Penetration zu „unnatürlichen“ Koitusarten erklärt. Selbstbefriedigung wurde weiterhin abgelehnt und als Ursache für Krankheit und frühen Tod dargestellt.

In der ArbeiterInnenklasse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren uneheliche Beziehungen üblich und vorehelicher Sex mehr oder weniger die Norm. Die SexualpartnerInnen fanden sich am Arbeitsplatz, im Wohnviertel und im Freundeskreis. Diese in gewisser Hinsicht „freien“ sexuellen Beziehungen waren aber in Wirklichkeit ganz stark von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen geprägt. Besser verdienende Arbeiter unterstützten ihre Sexualpartnerinnen oft finanziell, die Grenze zur Prostitution war oft fließend. Durch eine Mischung aus Begünstigungen und Drohung mit Sanktionen schufen sich Vorgesetzte auch einen sexuellen Zugriff auf Fabriksarbeiterinnen; der Ausdruck der „zweiten Schicht“ der Arbeiterinnen (im Bett von Vorgesetzten) wurde geprägt. Egal ob in der vielschichtigen Prostitution oder in relativ freien Sexualbeziehungen in der ArbeiterInnenklasse: Das Hauptproblem (vor allem natürlich für die Frauen) waren ungewollte Schwangerschaften, standen doch kaum verlässliche Verhütungsmethoden zur Verfügung.

Sex bei den marxistischen KlassikerInnen

Bei den marxistischen TheoretikerInnen, die sich mit der Frage von Sexualität auseinandersetzen, stand der Kampf gegen die konservative Sexualmoral, die von den IdeologInnen der herrschenden Klasse und der Kirchen verbreitet wurde, mit im Vordergrund. Sie spielten in dieser Hinsicht im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang eine progressive Rolle. Es gab bei ihnen, in unterschiedlichem Ausmaß, aber auch zweifelhafte und falsche Konzepte. Sie wiesen empört und mit Recht darauf hin, wie sehr im Kapitalismus auch die sexuellen Beziehungen von materiellen Abhängigkeiten und Machtverhältnissen geprägt sind, reproduzierten dabei aber auch romantische Vorstellungen von „reiner Liebe“ und stellten die ArbeiterInnenbewegung als deren konsequenteste Vertreterin dar. In der marxistischen Sexualdebatte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging der Blick kaum über die klassische Heterosexualität hinaus. Die Diskussion um „freie Liebe“ war eine kontroversielle.

Alexandra Kollontai, russische Kommunistin, meinte, der Kapitalismus bringe einen „neuen Frauentypus“, unabhängigere und auch sexuell selbstbewusstere Frauen, hervor. Der Sexualakt sei etwas „Natürliches wie der Durst“. Gleichzeitig warnte sie aber davor, dass übermäßiger Sex zu einem „Auszehren“ führe. „Freie Liebe“ belaste die Menschen – durch die im Kapitalismus bestehende verkrüppelte Psyche und durch die Konkurrenz um SexualpartnerInnen. In der Folge trat sie für serielle Monogamie ein, wobei sie Liebe stark mit ehelicher Gemeinschaft (mit „Seelennähe“) identifizierte. Den Kampf für eine neue Sexualmoral sah sie als Teil des revolutionären Kampfes. Gleichzeitig vertrat sie – wie schon gute Teile der proletarischen Frauenbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts, insbesondere auch Clara Zetkin – sehr stark Mutterkult-Ideen.

W.I. Lenin, Führer der Bolschewiki, wandte sich gegen die „Fäulnis der bürgerlichen Ehe“, gegen die „Versklavung der Frau“ in ihr und im Allgemeinen gegen die „ekelhafte Verlogenheit“ in den sexuellen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft. Er sprach sich für eine „Revolutionierung der sexuellen Beziehungen“ aus, sah aber gleichzeitig das Proletariat als Verteidiger der Liebesehe gegen die unmoralische Bourgeoisie. Sexuelle Zügellosigkeit betrachtete Lenin als bürgerliche Verfallserscheinung. Dementsprechend war er gegen Konzeptionen der „freien Liebe“, wie sie von Ruth Fischer vertreten und in der KPD-Jugend populär wurden.

Ruth Fischer (eigentlich Elfriede Friedländer), österreichisch-deutsche Kommunistin, vertrat in ihrer Broschüre „Sexualethik des Kommunismus“ die Position, dass Menschen „triebhaft polygam veranlagt“ seien. Im Kommunismus gebe es eine Freiheit des sexuellen Lebens von der ökonomischen Existenz. Es müsse eine individuelle Entscheidung sein, ob man/frau „promiskue, polygam oder monogam“ lebe – und das gelte „selbstverständlich“ auch für Homosexualität. So sehr Fischer damit ihrer Zeit voraus war, so vertrat sie teilweise auch antiquierte Ansichten, etwa, dass übermäßiger Sex zu „Verblödung“ führe.

Wilhelm Reich, österreichisch-deutscher Kommunist und Sexualforscher, verfasste mit seinem Buch „Die sexuelle Revolution“ eine Kritik der reaktionären Sexualpolitik des Stalinismus. Er versuchte eine Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus und gründete ein Sexualpolitik-Institut. Er betonte, dass die Sexfrage keine Ablenkung vom Klassenkampf und auch nicht privat sei, sondern politisch und der „Kern“ der kulturellen Revolution. Es sei eine Erziehung zur Sexbejahung nötig, wobei sich das nur auf Heterosexualität bezog. Zu Homosexualität, die Reich – in mangelnder Abgrenzung zu den konservativen Vorurteilen seiner Zeit – als unnatürlich betrachtete, hatte er ein therapeutisches Verhältnis.. Im späteren US-Exil entwickelte er ausgesprochen esoterische Theorien.

Von der Zwischenkriegszeit zur 68er-Revolte

Zwischen den beiden Weltkriegen spielte in Europa der Kampf für einen Zugang zu Verhütungsmitteln und für das Recht auf Abtreibung eine wichtige Rolle. In der ArbeiterInnenbewegung wurde über einen Gebärstreik als politisches Druckmittel diskutiert. Insgesamt entstanden in der ArbeiterInnenbewegung Elemente einer Gegenkultur, in der traditionelle Sichtweisen von Sexualität und Moral weniger stark ausgeprägt waren als im Rest der Gesellschaft. Durch aus dem BürgerInnentum kommende FührerInnen der ArbeiterInnenbewegung und ihre Lebensweise sowie generell durch die sich an das System anpassende bürokratische Schicht wurden gleichzeitig bürgerliche Familiennormen in der ArbeiterInnenklasse verbreitet; eine Entwicklung, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hatte.

Der Nationalsozialismus bedeutete eine Förderung der sexuellen Liberalisierung. Allerdings galt das nur für Heterosexualität von „gesunden ArierInnen“. Das NS-Regime stand auch für eine Säkularisierung von Sexualität: Sex und Leidenschaft wurden als eine Art religiöses Erlebnis dargestellt. Während des Krieges gaben die Nazis zum Trost für die Soldaten die Parole „jedem Hänschen sein Sabinchen“ aus. Durch die Ausbeutung der besetzten Gebiete wurden dort unter der NS-Herrschaft viele Frauen und Mädchen in die Prostitution gezwungen, um überleben zu können; die Wehrmachtsbordelle wurden unter Kontrolle von oben betrieben und mit der Zeit geschlechtskrank gewordene (Zwangs-) Prostituierte ermordet.

Die vom US-Imperialismus geprägte Nachkriegsordnung brachte auch in Westeuropa in der Frage der Sexualität eine konservative Wende. Sie stand in Abgrenzung zur ArbeiterInnenbewegung, aber auch zum Nationalsozialismus: Abtreibung etwa wurde wie schon im Nationalsozialismus verfemt und nun sogar mit Mord und KZ gleichgesetzt. Propagiert wurden Ehe, Familie, „sexuelle Reinheit“ und Treue. Verboten waren Homosexualität und Pornografie, abgelehnt wurden Selbstbefriedigung und „abnormer“ Geschlechtsverkehr (also alles außer vaginaler Penetration). Selbstverständlich unterschied sich die Praxis erheblich von dieser konservativen Sexualmoral.

Mitte/Ende der 1960er Jahre waren diese verkrusteten Moralvorstellungen nicht mehr mit der gesellschaftlichen Modernisierung in Einklang zu bringen. Auch die Durchsetzung der „Anti-Baby-Pille“ ab Anfang der 1960er Jahre spielte eine Rolle. Die Folge war die so genannte „sexuelle Revolution“, die mit dem Jahr 1968 assoziiert wird. In der Hippie-Szene und in der linken Jugend- und StudentInnenbewegung wurde mit „freier Liebe“, Kommunen etc. experimentiert. Das bedeutete einerseits einen tatsächlichen Bruch mit der spießigen Heuchelei der vergangenen Jahrzehnte. Gleichzeitig aber wurden in „der Bewegung“ auch Geschlechterrollen reproduziert: „hübsche“ Frauen als Aufputz für die „Anführer“, Aufwertung von Frauen über „berühmte Genossen“. Teilweise gab es Interpretationen der „freien Liebe“, die Frauen ständige sexuelle Verfügbarkeit abverlangten.

Was waren die Ergebnisse der „68er-Revolte“ auf dem Gebiet der Sexualität? Es wurde die konservative Sexualmoral zurückgedrängt. Insgesamt stieg aber – durch die Pille und durch die Freizügigkeitsideologie bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung patriarchaler Machtstrukturen – auch die Vorstellung, dass Frauen sexuell stärker verfügbar sein müssten; und teilweise entsprach das auch der Realität. Der Feminismus wurde mit der Zeit offiziell und institutionalisiert. Teilweise bildeten sich seltsame Koalitionen: die VerfechterInnen der sexuellen Befreiung gemeinsam mit dem sexistischen Pornoproduzenten Larry Flint, Feministinnen wie Alice Schwarzer gemeinsam mit der Kirche und anderen ReaktionärInnen. Jedenfalls bedeutete der 68er-Bruch eine Liberalisierung des Sexualmarktes.

Sex- und Attraktivitätsmarkt

Sexualität ist in der kapitalistischen Gesellschaft stark von Marktmechanismen geprägt – und zwar auf verschiedensten Ebenen. In manchen Bereichen ist das offensichtlich. Beispielsweise macht die Pornobranche weltweit einen Jahresumsatz von geschätzten 20 Milliarden US-Dollar. Prostitution ist weltweit einer der größten Geschäftszweige: Bereits 2005 wurde er auf einen Umsatz von 60 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt, Tendenz steigend; 2010 war dann allein für Deutschland von 15 Milliarden Euro im Jahr die Rede. Unverhüllt um ein Geschäft handelt es sich auch bei traditionellen Heiraten, wo Arrangements, Mitgiften etc. im Spiel sind.

Nicht mehr ganz so offen, aber doch noch klar erkennbar sind die Austauschverhältnisse bei Beziehungen nach dem Strickmuster „alter reicher Mann“ und „schöne junge Frau“ oder „Mann aus Europa oder Nordamerika“ und „junge Frau aus abhängigem Land“, die oft wie in einem Katalog ausgesucht, „bestellt“ und bei Bedarf auch wieder „umgetauscht“ werden kann; mag es in manchen Fällen auch tatsächliche Zuneigung geben, so ist die Grenze zur Prostitution dennoch fließend. Nicht so offensichtlich wie bei den beschriebenen Formen des Sexmarktes ist der Einfluss der kapitalistischen Marktverhältnisse auf dem „Attraktivitätsmarkt“, auf dem die Individuen – insbesondere in den „modernen“ kapitalistischen Metropolen – zueinander in Beziehung treten beziehungsweise miteinander „ins Geschäft“ kommen.

Der Attraktivitätsmarkt, auf dem sich marktförmige Verhältnisse reproduzieren, findet an verschiedenen Orten statt: in Bars, auf Partys, im sozialen Netz, am Arbeitsplatz oder mittlerweile immer öfter in Paarbörsen im Internet. Bestimmt ist das Ganze durch die Konkurrenz der Sex- und/oder Beziehungssuchenden zueinander. Eine Voraussetzung ist die soziale und ideologische Konstruktion des Individuums, versinnbildlicht im Singlehaushalt. In urbanen und besonders studentischen Milieus sind es nahezu zu erfüllende soziale Normen, „Erfahrungen gemacht“ zu haben: einmal in einer WG gelebt, einmal allein gewohnt, eine ausreichende Anzahl von SexualpartnerInnen gehabt zu haben etc.

Am Attraktivitätsmarkt sind genug Individuen vorhanden, die auf der Suche nach einer Beziehung und/oder Sex sind, aber – und das ist Teil der Marktlogik – nicht jede/r bekommt jemanden ab. Und man/frau muss selbst „schön“ und/oder „cool“ sein, damit man/frau jemanden „Schönen/Coolen“ kriegt. Die Ware Attraktivität, die Schönheit/Coolness von Individuen, sind objektive, gesellschaftlich definierte Kategorien und damit Herrschaftsstrukturen. Das Schönheitsregime schafft erst die „Hässlichen“.

Durch Arbeit (und teilweise auch Kapitaleinsatz) im Vorfeld des Austauschprozesses am Attraktivitätsmarkt kann der Wert der Ware Attraktivität gesteigert werden. Dazu gehört das Verfolgen der Mode, sich informieren, einkaufen etc., um nicht auf den ersten Blick als HinterwäldlerIn oder als „von gestern“ zu erscheinen. Es bedeutet, den Körper fit zu halten und zu pflegen: Sport, Diät, Rasieren/Epilieren, Schönheitsoperation. Schließlich, vor dem Auftritt auf dem Markt, heißt es „sich schön machen“, also das Richtige anziehen, sich stylen, schminken etc. Die Wertsteigerungsmöglichkeiten bleiben aber nicht auf das Aussehen beschränkt: Durch Rhetorikkurse, Flirtseminare und allerlei Fortbildungen zur Hebung des Bildungsniveaus sollen die Chancen erhöht werden. Dazu kommt kontinuierliche Beratung mit FreundInnen, eine Art Supervision für den Attraktivitätsmarkt.

Sexuelle Ökonomie

Schlussendlich muss der Warenwert dann aber auch realisiert werden. Dann heißt es, angepasst an den jeweiligen Marktplatz, witzig sein und lachen, „gut drauf“ sein (notfalls mit Alkohol unterstützt) – denn mies gelaunte oder nachdenkliche LangweilerInnen will niemand. Gefragt ist, „cool“ und interessant zu sein, offen, aber nicht zu aufdringlich – denn das wirkt billig. Die Geschäftsanbahnung kann beginnen: schauen und beschaut werden, tanzen und lässig an der Wand lehnen. Zu große Freizügigkeit kann (vor allem bei Frauen), dazu führen, dass der Wert sinkt. Und manchmal bleiben teure Produkte unverkauft und können – wenn man/frau auf der Party bis zum Schluss durchhält – dann „unter Wert“ erworben werden.

Am heterosexuellen Attraktivitätsmarkt gilt das Schönheitsregime in erster Linie für Frauen, die besonders nach ihrem Äußeren beurteilt werden, die überproportional den Vorgaben der Modeindustrie und zuletzt auch den Enthaarungsnormen der Pornobranche ausgesetzt sind. Aber auch für Männer gilt die (immer schon überzeichnete) Weisheit „Was ein Mann schöner is‘ wie ein Aff, is‘ ein Luxus“ längst nicht mehr: fitte, muskulöse Männerkörper sind ebenso gefragt wie der richtige Haarschnitt und die angesagte Enthaarung. Männer können ein Scheitern an der Schönheitsnorm immerhin noch partiell durch Geld, Macht oder Intellekt ausgleichen. Für Frauen sind diese Möglichkeiten geringer. Aber auch Frauen sind (zumindest in den urbanen Gesellschaften der westlichen Metropolen) in viel stärkerem Ausmaß als früher „freie Warenbesitzerinnen“, können also über den Verkauf ihrer Attraktivität selbst bestimmen.

Ist das Geschäft am Attraktivitätsmarkt einmal abgeschlossen, steht der Konsum der erworbenen Waren auf der Tagesordnung. Dann herrscht nicht Freizeit oder Erholung, sondern es gilt, auf dem Sex- und Beziehungsmarkt zu bestehen. Es geht nun darum, „gut im Bett“ zu sein, bestimmte Techniken und das zu guten Teilen gesellschaftlich genormte Spiel von laut/leise und aktiv/passiv zu beherrschen, bestimmte Fassaden und Tabus zu berücksichtigen, zum richtigen Zeitpunkt und oft genug einen Orgasmus und insgesamt die passende Inszenierung zu haben. All das ist schließlich mitentscheidend für die Wiederholung des Tauschprozesses. Narzisstische Bodycounts sind ein integraler Bestandteil der Mechanismen am Attraktivitätsmarkt – in den meisten Milieus bei Männern sicher immer noch stärker als bei Frauen. Die Gesetzmäßigkeiten des Schönheitsregimes und von Angebot und Nachfrage am Attraktivitätsmarkt wirken in allen Klassen und auch in den „kritischen“ linken Milieus.

Trotz aller Liberalisierung der letzten Jahrzehnte ist der Attraktivitätsmarkt nicht völlig frei; es gibt weiterhin Markteinschränkungen etwa durch das weit verbreitete Homosexualitätstabu, durch das ein Teil der potenziellen SexualpartnerInnen von vorne herein ausgeschlossen ist. Dazu kommt Rassismus: Während die Angehörigen mancher ethnischer Gruppen, weil „exotisch“, einen besonders guten Marktwert haben (Stichwort „Latin Lover“), sind die Mehrheit etwa der ArbeitsmigrantInnen mit schlechten Karten ausgestattet und scheiden für viele bewusst oder unbewusst als PartnerInnen aus.

Ein Ausstieg aus der Sex- oder Attraktivitätsökonomie ist im Rahmen des Kapitalismus kaum möglich. Was aber durchaus geht und passiert, ist die Bildung oder Erschließung einer Art von „lokalen Märkten“, also von Subkulturen, in denen die vorherrschenden Schönheitsideale und sonstige Attraktivitätsattribute teilweise außer Kraft gesetzt sind. Das heißt aber nicht, dass es in diesen Subkulturen keinen Attraktivitäts- und Sexmarkt gibt. Vielmehr bestehen einfach alternative Schönheitsregimes und andere Attraktivitätskriterien. Ein Beispiel für einen solchen „lokalen Markt“ sind die schwule, lesbische oder Queer-Sexökonomie.

Oversexed and underfucked?

Haben also die 68er-Revolte und deren Folgen zu einer sexuellen Befreiung geführt? Durchaus nicht. Die im Zuge der „sexuellen Revolution“ geübte Kritik an den monogamen Beziehungsstrukturen und den Begleiterscheinungen wie Besitzanspruch und Eifersucht war natürlich richtig. Sie war aber nicht antikapitalistisch, sondern die Kritik an einer bestimmten Beziehungsform im Kapitalismus. Tatsächlich wurden in Folge des Aufbruches nach 1968 brachliegende Werte der Zirkulation am Attraktivitätsmarkt zugeführt; es kam zu einer Marktliberalisierung. Die Folgen waren eine verstärkte wertförmige Normierung und eine Ausweitung der Konkurrenz.

Hat sich eine „freie Liebe“ durchgesetzt? 1968 hat vor allem für einige männliche Protagonisten ein Befreiungsgefühl gebracht, eine Verfügung über weibliche Körper, die keine Komplikationen machen. Das gewachsene Angebot an kostenlosem und unverbindlichem Sex führte in den 1970er Jahren zu einem deutlichen Rückgang der Zahl der Prostituierten und einem starken Preisverfall ihrer Dienste. Mit „freier Liebe“ im Sinne der Debatte in der sozialistischen Bewegung hatte das freilich wenig zu tun. „Freie Liebe“ im Kapitalismus, also unter der Konkurrenzlogik und dem Schönheitsregime, bedeutet nichts anderes als freier Sexualmarkt. Und das reformistische Konzept „offene Beziehung“ ist ein letztlich schwieriger Spagat zwischen zwei kapitalistischen Normen.

Die letzten Jahrzehnte brachten eine massive und allgegenwärtige Sexualisierung der Gesellschaft. Vieles wurde enttabuisiert. Gleichzeitig entstanden aber neue Normen. Das betrifft Körper und ihre „Schönheit“, aber auch sexuelle Leistungsnormen (Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, Erfolg bei Orgasmen, Anzahl der SexualpartnerInnen). Insbesondere führte die Sexualisierung auch zu einer Pornografisierung der sexuellen Beziehungen, was sich in Re-Inszenierungen von dem in pornografischen Darstellungen Gesehenen ausdrückt. Immer mehr Menschen müssen an Teilen von oder all diesen neuen Normen scheitern, verstecken ihre („unzulänglichen“) Körper, leiden unter sexueller Lustlosigkeit und haben immer weniger Sex und/oder sexuelle Beziehungen.

Die Frustrationen des freien Sexualmarktes sind (neben konservativer Propaganda) eine wichtige Basis für das ideologische Revival von Monogamie, Treue etc. Vielen Menschen erscheint eine feste Zweierbeziehung als Zufluchtsort, wo man/frau vor all der Konkurrenz, dem Stress und den Unwägbarkeiten des Attraktivitätsmarktes in Sicherheit ist. Dass diese Sicherheit oft trügerisch ist (siehe Scheidungs- und Trennungsraten) und dass sie mit einer Wiederherstellung von Besitzansprüchen etc. einher geht, versteht sich von selbst. Unter kapitalistischen Verhältnissen ist die individuelle Entscheidung für das eine oder andere Modell letztlich eine zwischen Pest und Cholera. MarxistInnen kommen um diese individuelle Entscheidung in der heutigen Gesellschaft nicht herum. Wir sprechen uns aber in jedem Fall gegen die in Teilen der Linken vorhandene Prüderie aus.

Sex im Sozialismus

Genaue Prognosen über die Entwicklung von sexuellen Beziehungen in einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft wären unseriös. Es können aber durchaus einige Überlegungen angestellt werden, in welche Richtung es gehen könnte. Gewisse Schlussfolgerungen können dabei auch aus den Erfahrungen der bürokratischen Planwirtschaften gezogen werden. In den stalinistischen Staaten gab es zwar keine politische Herrschaft der ArbeiterInnenklasse und auch keine Überwindung von sexistischen Strukturen, aber doch immerhin eine partielle Beseitigung der kapitalistischen Marktmechanismen.

In der DDR etwa waren die 1950er Jahre von starker Prüderie geprägt. Es gab eine Förderung von Kindererziehung und ein Verbot von Abtreibung. Propagiert wurden Kleinfamilie und Heterosexualität, wie im Westen war Homosexualität verboten und wurde therapiert. Ebenfalls verboten war Pornografie. Ab Mitte der 1960er Jahre gab es deutliche Veränderungen: Abtreibung wurde legalisiert. Es gab eine progressive Sexualberatung, durch die besonders die Lust und die Orgasmusfähigkeit von Frauen gefördert werden sollten. Die sich von unten entwickelnde Freikörperkultur (FKK) wurde anfänglich bekämpft, dann aber toleriert und entwickelte sich zu einem breiten Phänomen. In Abgrenzung zur kapitalistischen „Sexwelle“ blieb Pornografie weiter verboten. Insgesamt war die ökonomische und soziale Stellung der Frauen in der Gesellschaft vergleichsweise stark – da auf das Arbeitskräftereservoir der Frauen nicht verzichtet werden sollte –, was sich auch auf das Selbstbewusstsein der Frauen in sexuellen Beziehungen auswirkte.

Was wir über eine sozialistische Gesellschaft, in der tatsächlich die ArbeiterInnen in Räten über diverse soziale und politische Dinge entscheiden, sagen können, ist zumindest Folgendes: Die Familie als Keimzelle der autoritären bürgerlichen Gesellschaft wird absterben. Heterosexualität wird keine gesellschaftlich vorgegebene Norm mehr sein. Die Konkurrenzlogik wird aus der Gesellschaft weitgehend zurückgedrängt sein. Es wird zu einer Erosion von Besitzansprüchen und Eifersucht kommen. Die heutigen Schönheitsnormen werden zerstört werden, was zu einem neuen Körpergefühl führen wird. Es wird in der Folge ein anderes Verhältnis zu Lust geben und einen offeneren, nicht normierten Zugang. All das wird neue Potenziale für verschiedenste Formen sexueller Beziehungen eröffnen.

Eine sozialistische Gesellschaft steht heute nicht unmittelbar auf der Tagesordnung. Dennoch sind diese Perspektiven als politische Richtpunkte wichtig. Was bedeutet das für MarxistInnen heute? Selbstverständlich sind der Kampf gegen Frauenunterdrückung und Homophobie, sind antisexistische Propaganda und das Eintreten für eigene Räume für Frauen und sexuell Unterdrückte in der ArbeiterInnenbewegung und der revolutionären Organisation. Wir sind auch gegen linke Prüderie und Tabuisierungen.

Dass das Private politisch ist, ist grundsätzlich richtig. Das bedeutet, dass das Verhalten von Einzelnen nicht nur am Arbeitsplatz oder in der Ausbildung, sondern auch in Familie, Beziehungen und am Attraktivitätsmarkt keine reine Privatsache ist. Gleichzeitig kann eine übermäßige Einmischung von politischen Organisationen oder Gremien in private und intime Details weder wünschenswert noch sinnvoll sein. Die Grenzziehung zwischen legitimer Privatsphäre und notwendiger Einmischung ist immer eine Gratwanderung. Entschlossenes Einschreiten bei sexistischem Verhalten sollte nichtsdestotrotz selbstverständlich sein. Der Umgang mit Sexualität kann letztlich nur eine individuelle Entscheidung sein, wobei auch innerhalb der antikapitalistischen Linken ein Ausbruch aus den Mechanismen des Systems kaum möglich ist. Erst eine breitere klassenkämpferische und revolutionäre ArbeiterInnenbewegung wird auch auf dem Gebiet der sexuellen Beziehungen zunehmend Elemente einer Gegenkultur entwickeln können.

Der vorliegende Text ist die Niederschrift eines Vortrages, den Sabine Saloschin und Eric Wegner auf den Sozialismus-Tagen der RSO im März 2010 gehalten haben.