Afghanistan: wie man Schurkenstaaten macht

Die USA und ihre Verbündeten, darunter Deutschland, sind tief in den Afghanistan-Krieg verstrickt. Eine „Lösung“ ist nicht in Sicht. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit den Hintergründen der Situation in Afghanistan – mit den ethnischen Traditionen, den Bürgerkriegen, der imperialistischen Einmischung und den Perspektiven eines zentralasiatischen Landes.

Mit Afghanistan verbanden die meisten Menschen im Westen wohl lange Zeit nicht viel mehr als ein Bild von mutigen und bewaffneten Kamel­treiberInnen, die mit Unterstützung der USA gegen die Sowjetunion kämpften. Die Kulisse von Rambo III ist in den 80ern zum Killing Field der SU geworden und hat schließlich ihren Zerfall eingeläutet.

Um den gegenwärtigen Konflikt in Afghanistan zu verstehen, ist aber ein differenzierterer Blick notwendig. Jede politische Analyse des Afghanistan-Konflikts muss der Situation der ethnischen Gruppen, der Spannung zwischen Herrscherhaus und traditioneller Peripherie mit nicht-kapitalis­tischen, ökonomischen und sozialen Beziehungen und vor allem die Einflussnahme durch imperialistische Mächte Rechnung tragen, die das Geschick des Landes seit seiner Gründung Mitte des 18. Jahrhunderts prägten. Im folgenden Artikel wird der Versuch unternommen, wichtige Entwicklungen freizulegen, die zur gegenwärtigen Situation in Afghanistan geführt haben – soweit das durch den schwierigen Zugang zu zuverlässigen Informationen möglich ist.

Ethnien

In der afghanischen Politik und Geschichte spielten ethnische Faktoren immer eine wesentliche Rolle. Eine Auseinandersetzung mit der ethnischen Zusammensetzung der afghanischen Bevölkerung ist deshalb unumgänglich. Nach verschiedenen Angaben gibt es zwischen 50 und 200 verschiedene Ethnien in Afghanistan, die von mehreren Millionen Menschen bis zu wenigen hundert Familien (z.B. Omuri) umfassen. Im Folgenden werde ich aber nur die politisch relevantesten behandeln. In Afghanistan gab es wegen der Brisanz der Informationen für das Machtgefüge niemals reguläre Volkszählungen, alle Angaben beziehen sich außerdem auf die Zeit vor dem BürgerInnenkrieg, sind also über 20 Jahre alt.

Die PachtunInnen stellen etwa 40% der Bevölkerung und leben vor allem im Osten und Süden Afghanistans. Hier wird in erster Linie Pachto gesprochen. Obwohl die Lebens- und Produktionsweisen verschieden sind (dies schließt Nomadismus, sesshaften Ackerbau und das Leben in Städten ein sowie auch Patron-Klientel-Verhältnisse bis zu relativ „egalitären“ Sozial­beziehungen), herrscht eine Form von Clan-Struktur vor, die auch politische und ökonomische Verhältnisse miteinschließt. Dabei kommt es zu einem sehr engen Zusammenschweißen bzw. zu einer starken Identifikation der Unterdrückten (Landlosen, PächterInnen) mit den Unterdrückern (Bazar-Händler, Grundbesitzer). Diese Sozialstruktur erschwert auch progressive Reformen, so sie „von außen“ kommen, verursacht aber andererseits bei Aggression von „Außen“ einer ungeheure Innenbindung, die alle inneren Differenzen und Streitigkeiten vorübergehend vergessen lässt. Die pachtunischen Stämme waren immer die Machtbasis des königlichen Herrscherhauses, das ebenfalls immer pachtunisch war. Fast alle Premierminister waren pachtunisch, ebenso wichtige Teile der VDPA (regierte das Land in den 80ern). Die Taliban, die Afghanistan seit 1996 großteils unter Kontrolle haben, sind ebenfalls, mit Ausnahme der arabischen Bin-Laden-Verbände. homogen pachtunisch.

Mit Ausnahme sehr kleiner arabischer und hinduistischer Minderheiten sprechen alle ethnischen Gruppen in Afghanistan außer den PachtunInnen persisch: Die TadschikInnen machen etwa 35 % der Bevölkerung aus und leben vor allem im Nordwesten Afghanistans. Bei ihnen gibt es eine Sess­hafte Lebensweise und ein Fehlen von Stammeszugehörigkeiten, stattdessen ein regional bestimmtes Zugehörigkeitsgefühl. Sie haben einen höheren Anteil an der Stadtbevölkerung als die PachtunInnen. Zu den sogenannten Turkvölkern gehören die UsbekInnen, die mit etwa 6% Anteil an der Ge­samtbevölkerung die zahlenmäßig stärkste Gruppe stellen, danach Turkmen­Innen, verschiedene kleine Gruppen von KirgisInnen, KasachInnen, Uigur­Innen usw. Sie leben vor allem im Norden Afghanistans an der Grenze zu den entsprechenden zentralasiatischen Republiken Usbekistan, Turkmenis­tan usw. Seit Ende des 19. und auch im 20. Jahrhundert gab es eine Ansiedelung pachtunischer ZuwandererInnen in ihre Gebiete. Autochthone Bevölkerung wurde zunehmend in untergeordnete Positionen gedrängt.

Ebenfalls persisch-sprachig sind die Hazara, die 20% der Bevölkerung ausmachen und im Zentralgebiet Afghanistans leben. Im Gegensatz zu den bereits genannten Gruppen gehören die Hazara zur Gruppe der SchiitInnen, und zwar zu derjenigen der drei Unterarten der SchiitInnen, der auch der Großteil der IranerInnen angehört. Es gibt aber auch sunnitische Haraza. Der Annexion des Hazarajats folgte die Zwangsumsiedlung der Be­völkerung in andere Landesteile, ihre Hochweiden wurden den pach­tunischen NomadInnen überlassen. Dies trieb die Hazara in eine immer stärkere Abhängigkeit und allmählich in die Städte. Sie leben mittlerweile nicht mehr nur im zentralafghanischen Hochland, sondern auch in vielen anderen Teilen des Landes. Die Hazara haben einen sehr niedrigen sozialen Status und arbeiten oft als DienerInnen von PachtunInnen.

Der BürgerInnenkrieg seit 1979 hat die Zahlenverhältnisse möglicherweise stark zuungunsten der pachtunischen Bevölkerung verschoben (sie konnten leichter nach Pakistan flüchten), gesicherte Daten gibt es dazu aber nicht.

Von der Staatsgründung bis zur russischen Revolution

Die Gründung des afghanischen Staates durch pachtunische Stämme 1749 wurde durch den fast gleichzeitigen Zusammenbruch der beiden Großreiche, die das afghanische Gebiet beherrschten, möglich. Das Mogulreich im Osten und das persische Reich im Westen zerfielen. Besonders reich oder fruchtbar war der Großteil Afghanistans noch nie. Eine Armee bzw. einen Staat zu finanzieren, war aus Afghanistan heraus nicht möglich, da die pachtunischen Stämme nicht nur wenig bis keine Steuern zahlten, sondern selbst hohe Summen forderten. Die Gunst der pachtunischen Clan-Führer musste mit viel Geld abgegolten werden, da diese die Machtbasis des Herrschers darstellten. Über die Jahrhunderte wurden den pachtunischen Stämmen viele Privilegien zugesprochen, was die mangelnde Identifikation der anderen ethnischen Gruppen mit dem afghanischen Staat förderte. Die staatliche Kontrolle beschränkte sich zumeist auf eine Heeresabteilung, die in der Region stationiert war. Geherrscht wurde meist durch lokale Herrscher (Clan bzw. Stammesführer), die für Ordnung sorgten und Steuern kassierten. Die Staatsgewalt beschränkte sich die gesamte afghanische Geschichte hindurch auf die wichtigen Städte und die wenigen großen Straßen des Landes.

Der Aufbau eines auch nur rudimentären Staatsapparates war dem ersten afghanischen König, Schah Ahmad, nur durch Eroberungen außerhalb des pachtunischen Stammesgebietes möglich, die mit ihren Abgaben den afghanischen Staat erhielten. Ein zentrales Moment afghanischer Geschichte seit seiner Gründung wurde sichtbar: Der afghanische Staat brauchte in seinen 250 Jahren Geschichte immer Unterstützung von außen, um seine Existenz zu sichern. Ahmad Schah gelangen zunächst viele erfolgreiche Eroberungen, die die Grenze des afghanischen Reiches immer weiter ausdehnten und damit immer mehr Ethnien inkorporierten. Der britische Imperialismus im Süden (Britisch-Indien) und das Russische Reich im Norden machten den Expansionsbestrebungen aber ein jähes Ende.

Afghanistan nahm fortan die Rolle eines Pufferstaates zwischen den beiden Großreichen ein, wobei Großbritannien es von Anfang an gelang einen starken Einfluss auf die afghanischen Geschicke zu bewahren; zumeist durch massive finanzielle Unterstützung des afghanische Herrscherhauses. Eine Situation, die die ökonomischen und politischen Verhältnisse in Afghanistan konservierte.

Großbritannien versuchte 1838 und 1878 Afghanistan zu okkupieren, scheiterte aber beide Male kläglich. Zunächst hatte es aber kaum Widerstand gegen die Invasion gegeben. Die pachtunischen Stämme hatten ihre Bestechungsgelder direkt von den Briten bekommen und wurden weiter in Ruhe gelassen. Relativ bald musste die East India Company, der Afghanistan zur Ausbeutung überlassen worden war, zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sie mehr an Bestechungsgeldern investierte, als sie aus der Bevölkerung auspressen konnte. Die Zahlungen wurden eingestellt und gleichzeitig versucht, die Verluste wieder reinzuholen. Nun regte sich immer größerer Widerstand. Als sich die Getreidepreise verdoppelten und die soziale Lage immer unerträglicher wurde, gelang es traditionalistischen Kräften die verschiedenen verfeindeten Ethnien unter dem Banner des Islams gegen die „Ungläubigen“ zu sammeln und in den Krieg zu führen. Beide anglo-­afghanischen Kriege markierten ein wichtiges Moment afghanischer Geschichte. Ein gemeinsames nationales Handeln unter islamischer Flagge ließ zunehmend eine nationale Identitätsbildung zu und diente auch im dritten anglo-afghanischen Krieg 1919 sowie im Kampf gegen die Sowjet­union als positiver Bezugspunkt.

Als die Okkupationsversuche nicht fruchteten, sicherte sich Großbritannien mit Unterstützungszahlungen an das afghanische Herrscherhaus dessen Loyalität. Der „eiserne Emir“ Afghanistans konnte mit britischen Geldern, die 25% seines Gesamthaushaltes ausmachten, ein riesiges Spionage-Netz aufbauen, das das eigene Volk bespitzelte. Systematisch wurden Gefängnisse gebaut, die Polizei und die Armee gefördert. Widerstand wurde im Keim erstickt. Afghanistan ist sogar von imperialistischen Modernisierungen verschont geblieben. Der Großteil der Bevölkerung lebte noch immer in Armut und sozialem Elend, die Macht der lokalen Herrscher war weiter un­gebrochen, das Wirtschaftssystem in vielen Bereichen nicht-kapitalistisch.

Die erste erfolgreiche Revolution der ArbeiterInnenklasse 1917 in Russland zog eine rote Welle nach sich, die über die ganze Welt ging und zu Radikalisierung und spontanen Aufständen in fast allen Regionen der Welt führte. Der Zerfall des Osmanischen Reiches, dann die Erfolge durch Kemals Armee trug das seinige bei, um den König Amanullah, der sich mit jungen Radikalen umgeben hatte, 1919 zu einem Ausbruchsversuch aus der britischen Umklammerung zu ermutigen. Der britische Imperialismus, der nach dem 1. Weltkrieg deutlich geschwächt war, erlitt im dritten anglo-­afghanischen Krieg eine empfindliche Niederlage.

Afghanistan war das erste Land der Welt gewesen, das die junge russische Räterepublik offiziell anerkannt hatte, und auch Lenins und Trotzkis Bolschewiki unterstützten ihrerseits die Erneuerungspläne von Amanullah Khan: Die Leibeigenschaft und die Schleierpflicht wurden abgeschafft, Versuche unternommen, die Macht der Geistlichkeit zurückzudrängen, das Transportsystem wurde ausgebaut, das Erziehungssystem ausgedehnt und erneuert. Obwohl die SU unter großen Verlusten gegen die kapitalistischen Armeen und imperialistischen Truppen im eigenen Land kämpfte, nahmen die Bolschewiki die Ereignisse in Afghanistan sehr ernst. Trotzki etwa schrieb 1919 direkt von der Front im Bürgerkrieg angesichts der Sympathien, die der Roten Armee in Zentralasien und Sibirien entgegenschlugen, ein Memorandum an das Zentralkomitee, in dem er argumentierte, dass der Revolution im Osten größere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, weil „der Weg der Revolution nach Paris und London über Kabul, Kalkutta und Bombay führen könnte“.

Auf ein militärisches Abenteuer in Afghanistan ließ sich die junge Sowjetunion allerdings nicht ein. Amanullah konnte seine Armee ohne britische Unterstützung schließlich nicht mehr finanzieren. Großbritannien formierte einige besonders reaktionäre Stämme und unterstützte diese, bis ihnen der Sturz Amanullahs 1929 gelang. Die sozialen Reformen wurden zurückgenommen, die Schleierpflicht wiedereingeführt.

Zahir Schah (1933-1973)

Amanullahs Cousin Nazir wurde aus dem südfranzösischen Exil geholt und mit britischer Unterstützung eingesetzt. Nazir Schah führte die Reformen Amanullahs langsamer und vorsichtiger fort. Eine große Zahl von Schulen wurde gegründet. Diese waren zwar stark religiös beeinflusst, konnten aber längerfristig eine „städtische Intelligenz“ hervorbringen, die später ein zentraler politischer Faktor sein wird. Junge Afghanen wurden zur Ausbildung ins Ausland geschickt und kamen mit vielen neuen Ideen zurück. Der afghanische Kapitalismus sollte entwickelt werden, die Nationalbank wurde gegründet. 1933 wurde Nahir Schah von einem Oppositionellen erschossen. Sein Sohn Zahir Schah kam an die Macht. Er war zu diesem Zeitpunkt erst 19, sein Onkel wurde Premierminister und leitete die Staatsgeschäfte.

Je nach politischer Interessenslage wurden liberale oder reaktionäre Premierminister eingesetzt oder abgesetzt. Das Herrscherhaus versuchte zaghaft, die Probleme des Landes zu lösen, musste dabei aber immer die eigene reaktionäre Machtbasis der pachtunischen Stämme angreifen. Deshalb wurden kleine Reformen zugelassen, sobald sich diese aber als zu „gefährlich“ für den eigenen Machterhalt erwiesen, wurden sie zurück­genommen.

Zunächst erlebte Afghanistan von 1933 bis 1946 unter dem Onkel Zahir Schahs, Hashem Khan, eine autoritäre Phase. Die Armee wurde ausgebaut und eine weitere Zentralisation der Verwaltung forciert, es wurden weitere Gefängnisse gebaut. 1946 wurde die Universität von Kabul gegründet. Während des Zweiten Weltkrieges erfolgte eine starke Anlehnung an das Deutsche Reich, das in der Region auch noch kaum als Kolonialherrscher in Erscheinung getreten war und allein von daher einen Bonus genoss. Der Weltkrieg brachte die afghanischen Außenhandels-Pläne durcheinander, nach dem 2. Weltkrieg wurde eine Umorientierung Richtung USA vor­genommen. Afghanistan wurde zwar aus dem Krieg rausgehalten, aber der Wirtschaft ging es trotzdem schlecht. Die bescheidenen Industrialisierungsprozesse erlitten schwere Rückschläge. Die Preise stiegen immer weiter. Gleichzeitig wurden StudentInnen (zum Teil haben sie im Ausland studiert) und die Intellektuellen zu einem immer relevanteren politischen Faktor. Die Bourgeoisie wurde selbstbewusster und begann Forderungen zu stellen. Die Opposition gegen den autoritären Kurs von Hashern Khan erstarkte zu­nehmend. 1946 wird er von Zahir zum Rücktritt aufgefordert.

Von 1946 bis 1952 regierte dann Schah Mahmud Khan, Im Zuge des Kalten Krieges kam Afghanistan eine wichtige strategische Rolle zu. Von beiden Seiten wurde Geld eingestrichen und die Neutralität Afghanistans erklärt. Hilfe von außen machte 50% des Gesamthaushaltes aus. Mit diesem Geld konnte eine 150.000 Mann starke Armee aufgebaut werden. Eine Zeit „demokratischer Experimente“ begann. Die meisten politischen Gefangenen (MitarbeiterInnen von Amanullah) wurden aus der Haft entlassen. Es erfolgte eine relative Liberalisierung der Redefreiheit. StudentInnen­organisationen wurden erlaubt, nach wenigen Monaten aber wieder unterdrückt und wichtige Führer verhaftet. So wurde auch mit dem neuen Pressegesetz verfahren, das erstmals private Zeitungen erlaubte. Es erschienen prompt vier, aber auch diese werden nach nur einem Jahr zur Schließung gezwungen. Es kam zu einer Belebung des Parlaments. Als 1952 zum ersten Mal eine wirkliche Opposition antreten wollte, wurde sie aber an der Kandidatur gehindert, Im Parlament saßen damit wieder nur Königstreue. Die USA unterstützten zunehmend Iran, Irak und Pakistan mehr als Afghanistan. Es kam zu einem Konflikt mit Pakistan wegen der pachtunisch bevölkerten Gebiete. Die USA beziehen offen Stellung gegen Afghanistan und für Pakistan. Allein dadurch wird das Verhältnis zur SU enger. 1953 kommt Daud Khan, ein Cousin Zahir Schahs, an die Macht.

Unter Daud Khan, dem Cousin Zahir Schahs, kam es zu einer Restauration des autoritären Stils. Stalin war 1953 gestorben, unter Bulgarin kommt es zu massiven Hilfen für Afghanistan. Das politische Naheverhältnis zur UdSSR wurde immer enger. Mit sowjetischer Hilfe wurden Fünfjahrespläne aufgestellt. Mit Millionenhilfen konnten die Zentralmacht und die Armee gestärkt werden. Es wurde ein Flughafen errichtet und vor allem die Straßen Richtung Sowjetunion ausgebaut. Der pro-sowjetische eingestellte Daud Khan etablierte eine quasi-diktatorische Herrschaft. Unter Daud Khan wurde das Parlament wieder bedeutungslos. Seine Herrschaft stützte sich vor allem auf die gefürchtete Geheimpolizei. Gleichzeitig konnte er durch den stärkeren Staat auch seine Sozialmaßnahmen durchsetzen. Es erfolgte eine Aufhebung des Schleierzwangs. Viele junge Afghanen bekamen in der Sowjetunion ihre Militärausbildung. Frauenschulen und Koedukation an der Universität wurden gefördert. All diese Veränderungen griffen vor allem in den großen Städten. Im ländlichen Bereich hingegen gab es kaum Veränderung. Daud hatte durch Grenzblockaden während des Konflikt um die pachtunischen Gebiete in Pakistan die zwar noch schwache, aber vorhandene Bourgeoisie in den Grenzregionen gegen sich aufgebracht, da diese durch diesen Konflikt gewaltigen finanziellen Schaden erlitten hatte. Zahir verbündete sich mit diesen Kreisen und zwang Daud schließlich 1963 zum Rücktritt.

Mittlerweile hatte sich eine breitere Demokratisierungsbewegung gebildet, der Zahir Schah den Wind aus den Segeln nahm, indem er sich selbst an ihre Spitze stellte. Dauds starre Haltung während des Pachtunistan-Konflikts hatte zu Schäden des Außenhandels und in eine ausweglose Krise geführt. Zahir ernannte Yussuf zum Premierminister, der der erste Inhaber dieses Amtes war, der nicht der königlichen Familie angehört. Yussuf repräsentierte die bürgerliche Intelligenz. Es wurde eine neue Verfassung, ein neues Presse- und Wahlrecht beschlossen. Auch Zahir Schah forcierte den Ausbau der Bildungseinrichtungen. Der Schulbesuch nimmt stark zu, liegt aber immer noch unter dem Durchschnitt der Nachbarländer. Eine Verfassungsreform wurde beschlossen, die eine Art Kompromiss zwischen westlichen Konzeptionen und islamischen Traditionen darstellte.

Eine afghanische Linke entwickelt sich

1965 wurde ein Pressegesetz erlassen, das die Herausgabe von Zeitungen gestattete (so konnte die herrschende Klasse auch besser die Opposition und ihre Ideen sondieren, die sich bisher vor der Geheimpolizei verstecken musste). Es erschienen jetzt zwei marxistische Zeitschriften: Khalq (Volk) und Parcham (Banner bzw. Fahne). Die Khalq-Fraktion war mehrheitlich pachtunisch, in der Parcham-Fraktion überwogen die anderen Ethnien. Die Khalq-Fraktion galt allgemein als radikaler und befürwortete eine revolutionäre Erhebung, während die Parcham-Fraktion sich progressive Reformen in Zusammenarbeit mit der herrschenden Klasse wünschte. Beide Fraktionen waren in der Volksdemokratischen Partei Afghanistans organisiert (VDPA, engl.: PDPA – Peoples Democratic Party of Afghanistan). 1968 hatte sich die VDPA allerdings in die Parchamis und die Khalqis gespalten.

Es bildete sich auch eine große maoistische Gruppe, die Schola-e Jawed (Die ewige Flamme), die im Gegensatz zu der VDPA, die in erster Linie im Militär und der städtischen Intelligenz verankert war, versuchte, die junge ArbeiterInnenklasse in Arbeitskämpfen zu führen und zu organisieren. Die Schola-e Jawed hatte im nur 40.000 Menschen umfassenden Industrieproletariat auch Erfolge. Später zerfiel die Schola-e Jawed in unzählige Kleingruppen und versank in die Bedeutungslosigkeit.

An der sich radikalisierenden Universität von Kabul kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen MarxistInnen und Islamisten. Dabei schüttete der ultra-religiöse Islamist Gulbuddin Hekmatyar z.B. einer unverschleierten Frau Säure ins Gesicht und im Juni 1972 erschoss er einen maoistischen StudentInnenführer. Hekmatyar wurde später zum wichtigsten Verbündeten USA im Kampf gegen die SU.

Insgesamt wurde in der afghanischen Gesellschaft der Druck von unten auf Veränderung wird immer größer, beschränkte sich aber auf die Be­völkerung einiger weniger Städte. Bei den Wahlen 1965 kamen zum ersten Mal vier Frauen ins Parlament. Es handelte sich aber um eine Personenwahl, politische Gruppen durften nicht antreten.

Viele demokratische Rechte, die wiederholt versprochen worden waren, wurden aber nicht umgesetzt. Die Enttäuschung über Zahir Schah vertiefte sich. Dazu kam die schlechte wirtschaftliche Lage. Studierende demons­trierten, Industrie-ArbeiterInnen schlossen sich an. Die VDPA organisierte schließlich eine Demonstration gegen Yussuf, es gab Schießbefehl und Tote. Yussuf trat zurück. Die Stimmung in den Städten radikalisierte sich weiter, die ländliche Bevölkerung hingegen blieb ruhig. Viele Mädchenschulen spielten bei Mobilisierungen der marxistischen Gruppen eine zentrale Rolle. Auch die StudentInnen wurden zunehmend selbst­bewusster, im Oktober konnte ein repressives Universitäts-Gesetz verhindert werden, im Mai 1969 gab es einen Generalstreik, im November schließt die Regierung die Schulen. Im selben Monat kann ein weiterer Generalstreik organisiert werden.

Das Parlament wurde von lokalen Herrschern bestimmt, die eine Reform nach der anderen zu ihren Gunsten durchsetzten. Der König hängte von ihnen ab. Der König konnte deshalb kaum wichtige Wirtschaftsreformen durchführen, die die Wirtschaft modernisiert hätten, aber die Macht der Lokalherrscher geschwächt hätten, die noch stark auf nicht-kapitalistischen Beziehungen beruhte.

Anfang der 70er Jahre verschärfte sich die Situation. Nach einer dreijährigen Dürreperiode fingen Zahir Schah und korrupte Verwaltungsbeamte Hilfslieferungen aus dem Ausland ab, um sie lukrativer auf dem Schwarzmarkt an die Meistbietenden zu verkaufen. Während die vollen Getreidespeicher geschlossen blieben, verhungerten 100.000 Menschen in Afghanistan.

Als 1973 Gerüchte in Umlauf gerieten, dass Zahir Schah die bevor­stehenden Wahlen aufschieben und das Parlament auflösen will, wurde er während eines Auslandsaufenthaltes von Daud Khan (seinem Cousin und ehemaligen Premierminister) im Bündnis mit den Parchamis abgesetzt (die wichtige Teile der Offiziers-Riege kontrollieren). Daud rief die Republik Afghanistan aus. Die Khalq-Gruppe ging in den Untergrund. Die maoistische Schola-e Jawed ging ebenfalls in den Untergrund, organisierte zwar noch beachtliche Demonstrationen, baute eine starke Frauen­organisation auf, aber beschränkte sich nach der weiteren Zersplitterung immer stärker auf den Guerilla-Kampf. Noch heute, 28 Jahre später, sollen maoistische Guerrilla-Einheiten gegen das reaktionäre Regime der Taliban kämpfen. Zahir Schah machte es sich im römischen Exil bequem. Erst 2001, nach den Ereignissen des 11. September, wurde er aufgetaut, um als Marionette imperialistischer Interessen dienen zu können. Zahir Schah hat 40 Jahre (1933-1973) bewiesen, dass er nichts Gutes für die afghanische Bevölkerung bedeutet.

Die sowjetische Periode

Daud, der die Republik ausgerufen hatte und sich selbst zum Premier-, Verteidigungs- und Außenminister erklärt hatte, änderte auch kaum etwas an der Situation. Er versuchte sich aus dem sowjetischen Einfluss zu ent­ziehen und orientierte sich zunehmend an Indien und dem Schah-Regime im Iran. Es wurden technologische und soziale Modernisierungen umgesetzt, aber jede linke Opposition massiv unterdrückt. Daud begann nach einer Weile auch die Parchamis, die ihm mit ihrem Einfluss unter den Offizieren zur Macht verholfen hatten, zu verfolgen. Linke AktivistInnen wurden in der Nacht in ihren Betten erschossen, viele „verschwinden“ einfach. Die Geheimpolizei war allgegenwärtig. Prügel, Erniedrigung und Folter standen auf der Tagesordnung. Hungertod, Armut, niedrige Löhne und Korruption waren tägliche Realität.

Nun gingen auch die Parchamis in den Untergrund. Auf Druck von Moskau schlossen Parchamis und Khalqis sich wieder zur VDPA zusammen. Sie versuchten die ländlichen Schichten gegen Klerus und Regierung aufzubringen. Das funktionierte ihnen aber nur sehr bedingt. Es gelang der VDPA aber, ihren Einfluss unter den Armee-Offizieren, die oft in der SU ihre Ausbildung genossen hatten, auszudehnen. Als wichtige Führer der VDPA erschossen wurden, setzte sie alles auf eine Karte und putschte. Der Putsch war zunächst erfolgreich – und Afghanistan kam nun verstärkt in den Einflussbereich der Sowjetunion.

Die VDPA war vergleichsweise klein und umfasste nur 10.000 bis 16.000 Mitglieder. Das Industrie-Proletariat war winzig und konnte kaum als soziale Trägerin dieser „Revolution“ fungieren. Die VDPA versuchte mit einer progressiven Landreform den Einfluss der traditionellen, konserva­tiven und reaktionären Klasse der Großgrundbesitzer und „Feudal“-Herrscher zurückzudrängen und die Agrarfrage zu lösen, die die Menschen seit Jahrhunderten in Armut gehalten hat. Die VDPA, die durch die Kommando-Gewalt der Offiziere und nicht durch das Volk an die Macht gekommen war, gelang es aber kaum, eine Brücke zu den unterdrückten Massen zu schlagen. Sie besaß auch nicht die finanziellen Mittel, um die versprochenen Reformen durchzusetzen. Eine Aufteilung des Landes auf die Landlosen und PächterInnen ist möglich, aber wer soll ihnen die Kredite für den Kauf von Saatgut und Produktionsmitteln geben?

Die Landlosen und PächterInnen hatten kein Vertrauen in die Ver­sprechungen der VDPA. Am Land brachen Aufstände aus. Polizei, Armee und Kader wurden losgeschickt. Die Geistlichen in den Dörfern und in den ländlichen Regionen organisierten gemeinsam mit den Lokalherrschern, die zu Recht einen Machtverlust fürchteten und alle sozialen Reformen zurückdrängen wollten, die Ausdehnung der Rebellionen gegen die VDPA. Vor allem die Emanzipation der Frauen war vielen Reaktionären und Mullahs ein Dorn im Auge. Die Islamisten versuchten auch mit der Propagierung eines Jihad den reaktionärsten Teil der Bevölkerung hinter sich zu bringen. Und die MaoistInnen suchten, gestützt auf Maos Volks­konzeption, ein Bündnis mit den Islamisten und sahen in der Losung des „Heiligen Krieges“ die Klammer zur Mobilisierung des Volkes gegen den „Sozialimperialismus“ der Sowjetunion und der VDPA.

Die VDPA war uneinig: Die Khalqis wollten die Reformen durchpeitschen, die Parchamis hingegen waren dafür, die Reformen langsamer und vorsichtiger zu betreiben und einige sogar zurückzunehmen. Die Khalquis setzten sich letztendlich durch. In dieser unentschiedenen Situation gossen die USA Öl ins Feuer, indem sie die Mujahedin („islamische Freiheitskämpfer“), die zumeist den reaktionärsten und frauenfeindlichsten Teil der afghanischen Gesellschaft repräsentierten, massiv finanziell, militärisch und logistisch unterstützten. Der Nationale Sicherheitsberater der Carter-Regierung, Zbigniew Brezinski, sagte es in aller Deutlichkeit: „Diese Hilfe würde zu einer militärischen Intervention durch die Sowjets führen…“ Dieses Ziel der USA sollte schließlich auch erreicht werden.

Im Laufe des Bürgerkrieges wurde die bedrängte VDPA immer abhängiger von sowjetischer Hilfe. Im Dezember 1979 rollten sowjetische Panzer in Kabul ein. Damit kamen auch noch echte Ungläubige ins Land, womit es die islamistischen Kräfte noch leichter hatten, gegen die „Gottesfeinde“ zu hetzen. Auf beiden Seiten gab es Gewaltexzesse. Die Mujahedin erschossen reihenweise linke Lehrerinnen und FrauenrechtlerInnen. Die sowjetischen Truppen begingen ein Blutbad nach dem anderen und legten einen bisher noch nie dagewesen Minenteppich in Afghanistan aus. Gleichzeitig wurde unter sowjetischer Herrschaft das Sozialsystem ausgebaut und das Gesundheitssystem modernisiert, das der Bevölkerung fortan kostenfrei zur Verfügung stand. Die VDPA förderte massiv Frauenschulen und fuhr einen sehr harten Kurs gegen islamische Einrichtungen, die besonders anti-emanzipatorisch sind. Gleichzeitig vertieften Schließungen von Moscheen und verschiedene Zwangsbeglückungen die Abneigung vieler ländlicher Teile gegen die Sowjets und die VDPA.

In Afghanistan wird der Kalte Krieg heiß. Die USA unterstützen die Mujahedin in der größten CIA-Operation der amerikanischen Geschichte und mit Beträgen in Milliardenhöhe. Der pakistanische Geheimdienst ISI wirkt als ausführendes Organ des US-Imperialismus in Afghanistan, in Pakistan sind einige tausend Berater der CIA stationiert, die die ultra-­islamistischen Mujahedin militärisch und in modernen Kommunikations­systemen ausbilden. Auch britische Elite-Einheiten sind an dieser Operation beteiligt. Osama bin Laden, der wie viele andere ins Land gekommen ist, um den „islamischen Krieg“ gegen die Ungläubigen zu führen, wird selbst vom CIA ausgebildet. Es gibt unzählige amerikanische Basen und Lager in Afghanistan und Pakistan, wo die ultrareligiösen Mujahedin in sicherer Kommunikation, Sabotage und in schweren Waffen ausgebildet werden. Jährlich liefern die USA 65.000 Tonnen Waffen an die Mujahedin, vor allem an den bereits oben genannten Reaktionär Hekmatyar.

Was für eine Position sollten schließlich RevolutionärInnen in diesem Konflikt einnehmen? Die putschistische Machtübernahme der VDPA ohne eine ausreichende soziale Basis, getragen von Militärs, konnte nicht begrüßt werden. Bei aller Kritik an der militaristischen und repressiven Herrschaft der VDPA (Massenerschießungen in Gefängnissen, Mord auch an FührerInnen von kritischen linken Frauenorganisationen oder der maoistischen Gruppen) konnten RevolutionärInnen nach Beginn des Krieges dieses Regimes und der Sowjettruppen mit dem Imperialismus und seinen islamis­tischen Handlangern nicht neutral bleiben. Auch wenn die Methoden der VDPA abzulehnen waren, so hatten die Landreform, die Ausweitung der Rechte der Frauen und die Bildungsprogramme doch einen progressiven Kern, der verteidigt werden musste.

Im Afghanistan-Krieg erlebte schließlich die Sowjetunion von 1979 bis 1989 ihr „Vietnam“. Sie verlor 16.000 Soldaten, über 600.000 Soldaten wurden z. T. schwer verletzt oder erkrankten. Der Materialverlust ist ungeheuer. Das gebirgige afghanische Hochland verhinderte den Einsatz von Panzern und verunmöglichte den Einsatz von Kampfflugzeugen gegen die wendigen und flexiblen Guerrilla-Einheiten der Mujahedin. Die Kampfhubschrauber der SU-Armee, lange Zeit die Wunderwaffen in diesem Krieg, wurden durch tragbare Raketen (Stinger-Raketen) aus den USA „entzaubert“. 1989 zog sich die Sowjetunion aus Afghanistan zurück.

Die Taliban

Drei Jahre später, nach einen vergeblichen Rückzugsgefecht der ehemaligen prosowjetischen Kräfte um Nadjibullah, übernahmen die Mujahedin die Kontrolle über Kabul und vollstreckten eine blutige Rache an ihren FeindInnen. Große Teile der Armee und der ehemaligen VDPA traten zu den Mujahedin über. Die Mujahedin-Allianzen zerfielen. Lokale Warlords herrschten über Teile des Landes. Willkürherrschaft regierte in Afghanistan. Frauenmisshandlungen, Erschießungen, Folterungen und Plünderungen standen auf der Tagesordnung. Afghanistan war zu einem chaotischen und unberechenbaren Faktor geworden

Anfang der 90er Jahre wurden deshalb nach Absprachen der Geheimdienste der USA, Pakistans und Saudi-Arabiens die Taliban („Religionsschüler“), die bis dahin als winzige Islamisten-Gruppe existierten, massiv gefördert. In den Madrassen (Religionsschulen), die in Pakistan während der großen Islamisierungsphase aufgebaut worden waren, wurden Zehntausende junger Pachtunen, oft schon im Alter von fünf Jahren, abgeschottet von Frauen und Mädchen, rekrutiert, trainiert und indoktriniert. In den pakistanischen Flüchtlingslagern lebten zu diesem Zeitpunkt über vier Millionen – größtenteils pachtunische – Flüchtlinge unter katastrophalen Bedingungen als Menschen zweiter Klasse, ohne Bildungsmöglichkeit, ohne Zukunft. Die Madrassen boten hingegen kostenlose Verpflegung, Kleidung, Unterkunft und religiöse „Bildung“. Vielen armen Familien fiel die Wahl nicht schwer. Der pakistanische Premierminister dieser Zeit gab die Beteiligung von Amerikanern und Briten an den Taliban-Schulen unumwunden zu: Die Trainingseinrichtungen der Taliban wurden von „den USA und GB bezahlt“.

Die Taliban stellen eine Art kosmopolitischen Islam dar, eine politische Kraft, die sich mit ihren sozial entwurzelten Religionsschülern nicht auf die in Afghanistan üblichen Stammesstrukturen und lokalen Abhängigkeiten stützten. Deshalb schienen sie dem Westen als Ordnungsmacht eines neu zu formierenden afghanischen Zentralstaates geeignet. 1994 begannen die disziplinierten Einheiten der Taliban-Armee ihren Feldzug. Innerhalb von zwei Jahren bekamen sie 27 von 30 Provinzen in ihre Gewalt und kontrollierten damit 90 % des Landes inklusive der Hauptstadt. Oft wurden sie von der Bevölkerung willkommen geheißen. Nach der Willkürherrschaft der Warlord stellten sie vorerst scheinbar eine brutale Form der Stabilität und der sozialen Ordnung dar.

Die Taliban setzen sich primär aus vier Gruppen zusammen, die bis auf die arabischen Islamisten ethnisch alle Pachtunen sind. 1. Der Kern wird von den Schülern der pakistanischen Madrassen gebildet, 2. große Teile der ehemaligen afghanischen Armee, inkl. mehrerer Generäle, sind übergelaufen (Pachtunen), 3. die Soldaten von Osama Bin Laden, 4. fast die gesamte Khalq-Fraktion (pachtunisch) – deren Schwenk zu den Taliban auch klar zeigt, was vom Marxismus-Leninismus der afghanischen StalinistInnen zu halten ist.

Die Brutalität und Massaker der Taliban waren mittlerweile bekannt ge­worden. Trotzdem blieben die USA bei ihrer Unterstützung der Taliban. Ein US-Diplomat sagte dazu: „Die Taliban werden sich vermutlich wie die Saudis entwickeln. Es wird … Pipelines geben, einen Emir, kein Parlament und die Gesetze der Scharia. Damit können wir leben.“ Und auch ein Vertreter des Gas- und Öl-Konzerns Unocal kam zufrieden zum Schluss: „Wenn die Taliban zu Stabilität und internationaler Anerkennung kommen, dann ist dies positiv.“ Denn damit hatte Unocal einen Partner, der scheinbar für die Stabilität garantierte, die ein Ölmulti braucht, um seine Geschäfte machen können. Das unterdrückerische Regime der Taliban wurde dabei gerne in Kauf genommen.

Die Taliban wurden freilich mit dem Opiumanbau, der anfänglich auch von ihren pakistanischen und amerikanischen Hintermännern gefördert wurde, immer unabhängiger von den USA. Der Einfluss der bin Laden-Gruppe innerhalb der Taliban scheint sich in den letzten Jahren zunehmend erhöht zu haben. Nach Angaben einer kleinen linken Gruppe in Afghanistan sollen die Kerneinheiten von Osama bin Laden mit etwa 25.000 Kämpfern mittlerweile stärker sein als die der Taliban (etwa 20.000). Gleichzeitig wurde dadurch der Anti-Amerikanismus unter den Taliban immer vehe­menter. Die Marionette schnitt langsam ihre Fäden ab…

Afghanistan blieb weiter ein Unruheherd, der die gesamte Region zu destabilisieren drohte. Auch in den Ländern nördlich Afghanistans (Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan) entwickelten sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zunehmend Konflikte zwischen den dortigen Regimen und Islamisten. Islamistische Kräfte erstarkten in der chinesischen Provinz Xinjiang. Die Taliban schickten immer mehr Kämpfer in den Norden zur Agitation und Rekrutierung von Kämpfern. Deshalb marschier­ten schon Ende der 1990er russische Truppenverbände an der afghanischen Grenze auf.

In Afghanistan ist der Widerstand gegen die Taliban in der sogenannten Nordallianz bzw. in der Einheitsfront für Afghanistan zusammenge­schlossen. Tadschikische Truppen kämpfen unter Massud (bzw. jetzt unter seinen Nachfolgern) in der Islamischen Gesellschaft, Usbeken unter Dostum, einem vormals prostalinistischen General der afghanischen Armee, in der Nationalen Islamischen Bewegung von Afghanistan. Die Hazara kämpfen in zwei Gruppen gegen die Taliban. Die Einheitspartei kann aber die meisten schiitischen Kämpfer hinter sich scharen. Die Nordallianz wurde lange vom Iran, von Russland, China, Indien und den zentralasiatischen Staaten unterstützt. Der Iran unterstützt „seine“ Minderheit der Hazara, China befürchtet eine Verstärkung islamistischer Tendenzen in den unruhigen islamischen Provinzen und unter den moslemischen Uiguren.

Die heterogene Struktur der afghanischen Gesellschaft, der wiederholte Frontwechsel verschiedener Stammesführer und die Interessen diverser Nachbarländer erschweren freilich nun auch die Ziele des US-Impe­rialismus. Ein neues Regime kann sich nicht nur auf die „Minderheiten“ stützen, sondern muss auch von einem Teil der Pachtunen getragen werden (etwas anderes würde das Verhältnis zum pakistanischen Militärregime massiv belasten bzw. dieses Regime weiter destabilisieren). Das stellt sich aber als schwierig heraus: Einer der pachtunischen Taliban-Gegner der letzten Jahre, Hekmatyar, hat nach dem Beginn der US-Angriffe angekündigt, sich gegen die ausländische Aggression auf die Seite der Taliban zu stellen. Der andere wichtige pachtunische Taliban-Gegner, der ehemalige Mujahedin-Führer Abdul Haq, ist Ende Oktober bei einer Erkundungsmission mit Stammesführern von den Taliban festgenommen und hingerichtet worden. Ob den ImperialistInnen eine Spaltung der Taliban gelingt, ist dabei noch offen. Im afghanischen BürgerInnenkrieg gab es aber freilich immer wieder überraschende Wendungen.

Insgesamt sind in über 22 Jahren BürgerInnenkrieg seit 1979 11% der Bevölkerung getötet worden, 33% sind geflohen. Im Land selbst gibt es 10% Binnenflüchtlinge. Es existiert in Afghanistan keine Industrie mehr, über die Hälfte aller Dörfer sind zerstört. Die Hauptstadt Kabul ist ein Trümmerhaufen. Es gibt kein Bildungs-, Sozial- oder Gesundheitssystem oder Kommunikationssystem. Das Land ist völlig verarmt, Millionen Menschen hungern. Der Imperialismus will das große Spiel Afghanistan – wie es einst zynisch ein britischer Imperialist genannt hatte – fortsetzen, genauso wie das Elend der Millionen Menschen Afghanistans.

Konkret ist es das Ziel des US-Imperialismus, Afghanistan zu befrieden und eine Regierung an die Macht zu bringen, die den US-Ölkonzernen eine Garantie für ihre ökonomischen Interessen in Zentralasien und insbesondere einen Pipelinebau durch Afghanistan bieten kann. Um die nötige Stabilität zu erreichen, wird vermutlich versucht werden eine Art nationale Konzentrationsregierung, etwa unter Schirmherrschaft des senilen Königs, unter Einschluss verschiedenster Islamisten und mit UNO-Kontrolle zu installieren. Menschenrechte und Demokratie spielen in dieser Auseinander­setzung ebenso wenig eine Rolle wie ein vermeintlicher Kampf der Kulturen. Die Charakterlosigkeit ist hier auf beiden Seiten gleich groß. Islamismus und Scharia werden die USA & Co. bei der Errichtung einer stabilen Regierung nicht wirklich stören. Umgekehrt werden etliche Islamisten, von der Nordallianz ebenso wie manche der Taliban – auch solche Islamisten, die momentan ganz die antiimperialistische Rhetorik ausgepackt haben –, wieder zu einer Kooperation mit den Herren der Neuen Weltordnung bereit sein, wenn nur nach der Peitsche auch das nötige Zuckerbrot geboten wird. Für die Mehrheit der Bevölkerung wird die Perspektive des US-Imperialismus auch nach den Cruise Missiles keine Befreiung von Unter­drückung und Elend bedeuten.

Das kapitalistische Weltsystem lässt für Länder wie Afghanistan, Pakistan, Indien etc. keinen Platz für eine demokratische Lösung der Misere. Für eine Überwindung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse hat die afgha­nische Gesellschaft alleine allerdings nicht das Potential. Das Proletariat, die einzige Kraft, die zur sozialen Trägerin einer antikapitalistischen Perspektive werden kann, in Afghanistan ohnehin schon sehr klein, ist durch den Krieg weitgehend zerstört. Organisationen, die der Linken zugerechnet werden können, sind in Afghanistan kaum mehr präsent. Reste der maoistischen Bewegung oder die Afghanistan Labour Revolutionary Organisation haben keine Verankerung in der Bevölkerung. Die RAWA (Revolutionary Association of Women of Afghanistan), eine linke Frauen­rechtsorganisation, unterrichtet geheim afghanische Frauen. Ihre Mit­kämpferInnen riskieren dafür täglich ihr Leben, mittlerweile sind eine ganze Reihe von Kämpferinnen der RAWA hingerichtet worden. Eine reale Basis haben sie aber nur in Flüchtlingslagern in Pakistan (wo sie auch Demonstrationen organisieren). Dementsprechend orientieren sich etliche linke afghanische Organisationen (RAWA, ALRO), auch wenn sie die US-Angriffe kritisieren, dann doch auf eine (nach einem Sieg des US-Imperialismus installierte) Übergangsregierung unter Leitung des Königs.

Eine antikapitalistische Perspektive für Afghanistan sehen wir nur im Rahmen einer sozialistischen Revolution der Region, in einer Verbindung der schwachen afghanischen Linken mit den ArbeiterInnenbewegungen in Pakistan, im Iran, in Indien und anderswo. Dafür gibt es durchaus Ansatzpunkte wie etwa die aus trotzkistischer Tradition kommende Labour Party Pakistan (LPP), die in Lahore bereits mehrere internationalistische Demonstrationen gegen den imperialistischen Krieg durchgeführt hat, an denen sich viele Tausend Menschen, darunter viele Frauen, beteiligt haben (siehe www.labourpakistan.org). Diesen Kräften muss unsere besondere Solidarität gelten. Nur sie weisen eine Perspektive für die Unterdrückten und Ausgebeuteten der Region. Die Antikriegsbewegung in den imperialistischen Zentren muss die Kooperation mit ihnen suchen.

 

Der vorliegende Artikel wurde erstmals im Herbst 2001 publiziert, in der AGM-Broschüre „Der blutige Weg in die ‚Neue Weltordnung’“ (zu bestellen in unserem Webshop). Der Entwurf für den Text stammt von Leo Beckmann, überarbeitet von einer Redaktion von Stefan Neumayer, Maria Pachinger, Manfred Scharinger und Eric Wegner.

 

Zum Weiterlesen:

RSO-Thesen zum Antiimperialismus 

Antikriegsbewegung und Islamismus