Haiti –– keine Ruhe vor dem Sturm

Interview mit Étienne von der  trotzkistischen „Organisation der revolutionären Arbeiter“ (Organisation des Travailleurs Révolutionnaires OTR-UCI) über die Folgen der Erdbeben-Katastrophe und die politische Arbeit einer revolutionären Organisation in dieser schwierigen Situation…

RSO: Die bürgerlichen Medien haben das zeitweilig überschwängliche Interesse an der Situation in Haiti nach dem großen Erdbeben im Januar 2010 schnell wieder verloren. Doch die Lage ist für Millionen von Menschen nach wie vor dramatisch. Wie ist die Situation in Haiti derzeit?

 

Étienne: Die Situation ist sehr schwierig. Mehr als 8 Monate nach dem Erdbeben sind über 1 Millionen Menschen noch immer in einer sehr prekären Lage. Hilfsgüter, insbesondere Nahrungsmittel, reichen vorn und hinten nicht. In den eilig eingerichteten und nie nachgebesserten Lagern gibt es nicht genügend Zelte, viele Menschen sind so ohne jeden Schutz der Sonne und dem Regen ausgesetzt. Die Lage ist so schlimm, dass immer wieder Demonstrationen der Camp-BewohnerInnen stattfinden, mit denen sie ihrer Forderung an die Regierung nach sozialer Wohnförderung Ausdruck verleihen.

Doch die schlimmste Zeit steht den Menschen in den Camps noch bevor, falls die derzeitige Hurrikan-Saison stärkere Stürme mit sich bringt. Solchen Unwettern wären selbst diejenigen, die einen Platz in den Zelten ergattern konnten, schutzlos ausgeliefert. Was uns damit bevorsteht, ist nach dem Erdbeben im Grunde genommen die zweite Katastrophe, wenn die Leute nicht vorher woanders untergebracht werden. Wir befürchten die rasante Ausbreitung von Krankheiten in den Camps. Wenn nicht die sanitären und gesundheitlichen Bedingungen sowie die Versorgung mit Nahrung drastisch verbessert wird, wird diese Katastrophe eintreten.

Die Mehrheit der Menschen, die jetzt in den Camps leben, war vor dem Erdbeben arbeitslos, litt Hunger und war nicht ausreichend mit Trinkwasser versorgt. Die meisten Kinder konnten nicht zur Schule gehen. Vielleicht haben sie schon geglaubt, es könnte nicht mehr schlimmer kommen, doch nach dem Erdbeben ist die Situation noch viel schlimmer. Die Regierungspolitik im Allgemeinen und das Vorgehen der Baubehörde im Speziellen hatte dazu geführt, dass all jene, die sich Häuser oder Wohnungen in den neu angelegten Wohnparks nicht leisten konnten – und das ist die Mehrheit der Haitianer – gezwungen waren, ihre Häuser auf gefährlichem Grund zu bauen, zum Beispiel direkt an den Flüssen oder in Hanglage. Die Behörden haben diese Situation herbeigeführt und nichts dagegen unternommen, obwohl sie gewusst haben müssen, dass die meisten dieser Häuser im Falle eines Erdbebens oder auch eines stärkeren Zyklons zu Todesfallen werden würden. In dieser Situation hatte Ronald Baudin [haitianischer Wirtschaftsminister] nichts Besseres zu tun, als die Räumung der noch bestehenden Camps anzudrohen, weil das ja eigentlich Privatgrundstücke seien…

RSO: In der Berichterstattung der bürgerlichen Medien in Europa waren die Einsätze von technischen Hilfsdiensten, humanitären Eingreiftruppen und Nahrungsmittel verteilenden Promis überaus präsent. Welche Rolle spielten beziehungsweise spielen solche Aktionen in den Camps tatsächlich?

Étienne: Auch ich habe den Medien entnehmen können, welche Unmengen an Spendengeldern diverse NGOs zusammengetragen haben. In den Camps ist dieses Geld jedenfalls nicht angekommen. Hier werden ja nicht einmal die grundlegendsten hygienischen Bedingungen erfüllt! Die Regierung hilft auch überhaupt nicht. Und wenn mal irgendwelche Vertreter der Behörden in den Camps aufkreuzen, führen sie sich auf, als würden sie einen Zoo besuchen und begaffen die Bewohner.

RSO: Ihr – die Organisation des Travailleurs Révolutionnaires – seid ja in dieser dramatischen Zeit nach wie vor politisch aktiv und habt auch direkt nach dem Erdbeben Eure Arbeit kaum unterbrochen. Wie hat sich das Beben auf Dich und Deine GenossInnen ausgewirkt?

Étienne: Wir hatten insofern Glück, als dass alle Genossen das Beben überlebt haben. Gleichzeitig gibt es niemanden, der nicht ihm nahestehende Menschen verloren hätte: Brüder, Schwestern, Kinder, Onkel und Tanten von uns haben ihr Leben verloren. Wir waren unmittelbar nach dem Erdbeben  vor allem auch in den Camps aktiv und sind es nach wie vor, informieren uns vor Ort über die Lage, verteilen Informationen. Gleichzeitig haben wir unsere Arbeit in den Betrieben im Industriegebiet von Port-au-Prince fortgesetzt.

Die Bosse und Eigentümer der Industrieanlagen, die natürlich viel besser gebaut sind, als unsere Häuser und das Beben größtenteils unbeschadet überstanden haben, haben ja schon am zweiten Tag nach dem Beben mit Entlassungen gedroht, wenn die Leute nicht wieder zur Arbeit erschienen. Dafür wurde als erstes gesorgt: Dass die Produktion wieder läuft und wie gewohnt Profite abwirft. Und wenn die Arbeiter wieder arbeiten müssen, dann müssen wir natürlich auch unsere politische Arbeit fortsetzen. Wir arbeiten nun Seite an Seite mit den Arbeitern in den Betrieben, um die Lage der Menschen in den Camps zu verbessern. Aber die Situation wird immer schlimmer – viele Menschen fliehen in die Hauptstadt. Es gibt immer mehr Arbeitslosigkeit. Und das größte Problem ist, dass so viele Menschen kein Dach über dem Kopf haben.

Wir tun unser bestes, aber in einer Stadt wie Port-au-Prince zu arbeiten, die zu 80% von dem Beben zerstört wurde, ist in vielerlei Hinsicht eine schwierige Aufgabe. Manchmal fühlen wir uns regelrecht paralysiert.  In den Flüchtlingslagern haben wir "Überlebenskomitees" gegründet, um zu helfen.  Dort fordern wir Hilfsmittel für die Menschen ein und verteilen unsere Zeitung „La Voix des Travailleurs“ [Die Stimme der Arbeiter], ca. 20 000 Exemplare in den Camps allein. Das ist natürlich gemessen daran, dass zeitweilig über eine Million Menschen dort gelebt hat, nicht viel, aber die Leute lesen die Zeitung ja nicht alleine: Sie lesen sie und geben sie dann weiter. So können wir mehr Leute erreichen.

Es ist so wichtig, dass die Menschen über ihre Lage informiert sind. Während des Bebens sind Tausende gestorben, weil sie überhaupt nicht wussten, wie sie sich im Falle eines Bebens verhalten sollen. Sie haben Schutz in ihren Häusern gesucht, nur um dort innerhalb weniger Sekunden verschüttet zu werden. Nicht nur mangelt es an Information, die Menschen werden auch gezielt misinformiert. Religiöse Gruppen, vor allem solche aus den USA, gehen in Port-au-Prince herum und erzählen den Menschen, dass es sich bei dem Beben um göttliche Intervention gehandelt hätte. Sie schaffen es, die Leute glauben zu machen, sie wären selbst Schuld am Beben und am Tod geliebter Menschen, weil sie auf Grund angeblicher Sünden die Strafe Gottes verdient hätten.

 

RSO: Wie kann es nun weitergehen? Was muss Deiner Meinung nach passieren?

Étienne: Das, was passieren muss, passiert größtenteils schon: Wir brauchen Solidarität! Selbst, wenn ich zu den wenigen Glücklichen gehöre, die auch nach dem Beben noch ein festes Dach über dem Kopf haben – ich meine damit natürlich nicht die Reichen, deren Sorge das sowieso nie war – muss ich sehen, was hier im Land passiert. Die Regierung kassiert Hilfsgelder und steckt sie in die sowieso schon vollen Taschen der Reichen. Die Regierung nimmt das Elend der Menschen jetzt in Kauf ohne etwas dagegen zu unternehmen, und sie hat selber dazu beigetragen, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Das sehen die Leute, das sehen sie alle. Es gibt unzählige Demonstrationen in Port-au-Prince, die fordern: Verwendet das viele Geld, um stabile, sanitär einwandfreie Unterkünfte zu bauen, verwendet es, um Jobs für die Bevölkerung zu schaffen! Und mit all diesen Menschen kämpfen wir gemeinsam und wir setzen uns dafür ein, dass es immer mehr werden.

Wir bedanken uns bei Étienne für das Interview. Zum Abschied wünscht er uns Mut, unsere politische Arbeit fortzusetzen. „Ohne Mut geht’s ja nicht.“

 

Das Interview mit Étienne führten Olivia Farner und Anke Hoorn in Paris.

 

Die RSO sammelt weiterhin Spenden für die GenossInnen bei der OTR in Haiti.

 

Zum Weiterlesen:

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