Marxistische Analyse der Familie

Kleinfamilie: Obwohl in den letzten Jahrzehnten immer mehr erodiert, ist die bürgerliche Kleinfamilie heute nach wie vor die am meisten verbreitete Form des menschlichen Zusammenlebens in hoch entwickelten kapitalistischen Ländern. Für den Kapitalismus spielt die Kleinfamilie eine wichtige Rolle. Wir widmen uns ihrer historischen Herausbildung und theoretischen Analyse.

Die Familie wird oft als Keimzelle unserer Gesellschaft bezeichnet. Besonders konservative und rechte, aber auch sozialdemokratische Parteien haben sich in der Regel dem Schutz und der Erhaltung der Familie verschrieben. „Etwas für die Familien zu tun“ gehört zum Standardsprech fast aller wahlwerbenden PolitikerInnen.

Was aber ist überhaupt „die Familie“? Interessanterweise findet sich etwa im Grundsatzprogramm der CDU von 2007 ganze 111 Mal der Begriff „Familie“, die da als „erste und wichtigste Gemeinschaft“ sowie als „Fundament unserer Gesellschaft“ bezeichnet wird; eine zufrieden stellende Begriffsdefinition ist aber kaum vorhanden. Ähnlich das Grundsatzprogramm der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), das die „Familie mit zwei Elternteilen und Kindern“ als „unser Leitbild“ und „Keimzelle der Gesellschaft“ beschreibt, sich in Definitionen aber äußerst vage hält. Klipp und klar stellt die ÖVP aber fest, die „zentrale Verwirklichung von Partnerschaft erfolgt in der Ehe“.

Werfen wir zu Beginn unserer Analyse einen kurzen Blick auf die Etymologie. Unter dem lateinischen Begriff familia (die Hausgemeinschaft) wurde ursprünglich nicht, so wie heute, im Wesentlichen die Kernfamilie, bestehend aus Eltern und Kindern, sondern der Besitz des Mannes, des so genannten pater familias, verstanden. Darunter fielen seine Ehefrau, Kinder, SklavInnen, DienerInnen sowie das Vieh. Folglich war Familie keine Verwandtschafts- sondern eine Herrschaftsbezeichnung.

Das Lexikon zur Soziologie im Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden 2007) definiert den Begriff Familie als „universale Einrichtung, die aber zwischen den Kulturen und über die historische Zeit erhebliche Unterschiede in der Ausgestaltung aufweist. Grundlegend für die Familie ist die Zusammengehörigkeit von zwei oder mehreren aufeinander bezogenen Generationen, die zueinander in der Mutter- und/oder Vater-Kind-Beziehung stehen und in einem gemeinsamen Haushalt leben können, aber nicht müssen. (…) Ob noch weitere Personen zur Familie gerechnet werden, und wenn ja, welche, ist eine Frage der Grenzziehung, die kulturell, historisch, aber auch innergesellschaftlich variieren kann.“

Heute ist der Begriff Familie also eine Verwandtschaftsbezeichnung, allerdings ideologisch hoch aufgeladen und mit etlichen sozialen Implikationen. Auch wird er nicht ganz konsistent verwendet, so wird etwa öfters nur die „Kernfamilie“ (Eltern und Kinder) darunter verstanden. Diese Kleinfamilie ist weiters nicht bloß eine Verwandtschaftsform, sondern, zumindestens in Europa und Nordamerika, heute die dominante Form des menschlichen Zusammenlebens (Eltern und minderjährige Kinder in einem Haushalt).

In diesem Artikel soll es um die Analyse der spezifischen Form der bürgerlichen Kleinfamilie als Lebensform gehen. Ausgehend von einer historischen Darstellung ihrer Entwicklung im Prozess der Transformation feudaler zu kapitalistischen Gesellschaften in Europa soll diese im Anschluss theoretisch analysiert werden. Daher geht es auch nicht um die Entstehung von Familie und Ehe an sich. An dieser Stelle sei auf unsere ausführliche Aufarbeitung des Friedrich Engels-Klassikers „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ in MARXISMUS Nr. 29 hingewiesen.

Hier sei nur soviel erwähnt: In verschiedenen (historischen) Gesellschaften gab und gibt es ganz unterschiedliche Familienformen: Kernfamilien, patrilokale (das Ehepaar wohnt beim Vater des Ehemanns) oder matrilokale Mehrgenerationenfamilien, polygyne (ein Mann heiratet mehrere Frauen) und polyandrische (eine Frau heiratet mehrere Männer) Familien, vorübergehend (auch um nicht verwandte Personen) erweiterte Familien, Gruppenehen und noch vieles mehr. Die Funktionen, die einzelne Familienmitglieder dabei übernehmen, können sehr stark variieren. So übernimmt in matrilinearen Familiensystemen (weibliche Erbfolge) oft der Bruder der Mutter die Vaterrolle für die Kinder seiner Schwester.

Nun gelangen wir auch zum ersten Mal zu den Funktionen, die Familien übernehmen können. Für eine Gesellschaftsformation kann die Familie im Wesentlichen drei verschiedene Aufgaben übernehmen:

1. Produktion, also Herstellung von Gütern und Dienstleistungen;

2. Reproduktion, und zwar im doppelten Sinn. Das heißt, die tagtägliche Reproduktion der Arbeitskraft (Hausarbeit, Beziehungsarbeit etc.) sowie die biologische Reproduktion des Menschen selbst (Kinder zeugen);

3. Sozialisation, also die Heranführung und Integration von Kindern in die Gesellschaft.

Bevor wir uns jedoch näher mit der theoretischen Analyse dieser Funktionen beschäftigen, wollen wir uns einer kurzen historischen Herleitung der Familie, so wie wir sie heute in Europa kennen, widmen. Der folgende Abschnitt orientiert sich an der Arbeit „Sozialgeschichte der Familie“ von Reinhard Sieder (Frankfurt 1987).

Die Familie im Umbruch vom Feudalismus zum Kapitalismus

Die bäuerliche Familie

In Europa kommt der Begriff Familie im heutigen Sinn erst im 18. Jahrhundert auf. Vorher wurde schlicht und einfach vom „Haus“ gesprochen wobei hier sowohl verwandte als auch nicht-verwandte Personen (Gesinde, TagelöhnerInnen, DienerInnen) mitgezählt wurden. Ein Familiensinn in Form einer affektiv-emotionalen Beziehung zwischen Kindern und Eltern war lange völlig unbekannt und kommt in Europa erst ab dem 16./17. Jahrhundert im Adel und der entstehenden Bourgeoisie auf.

Die bäuerliche Familie des 18. Jahrhunderts hingegen war eine soziale Einheit mit vergleichsweise wenig emotionaler Beziehung zwischen Eltern und Kindern sowie den beiden Elternteilen untereinander. Es gab keine besonders Kindererziehung, die Sozialisation des Kindes erfolgte unbewusst durch Nachahmung. Als Folge der harten und zeitaufwändigen Arbeit wurden Kinder oft vernachlässigt und nur rudimentär beaufsichtigt (es gibt sogar Berichte von Babys, die von frei herumlaufenden Hausschweinen gefressen wurden). Kinder wurden oft bereits ab dem 5. Lebensjahr zu Arbeiten eingeteilt, doch solange sie noch nicht arbeiten konnten, waren sie der bäuerlichen Familie eher ein Hindernis.

Heirat war hier keine persönliche Angelegenheit, sondern folgte den Interessen der gesamten Hausgemeinschaft die sämtliche oben beschriebenen Funktionen übernahm. Das heißt, die bäuerliche Familie war – in manchen Landstrichen bis tief ins 20. Jahrhundert hinein – eine Einheit von Produktion, Konsumption und „Familienleben“.

Da über weite Strecken der europäischen Geschichte Eltern und Kinder als Arbeitskräfte nicht ausreichten, wurden sie entweder durch Gesinde (v.a. in Zentralrussland, Osteuropa), TagelöhnerInnen (Norddeutschland, Ungarn, Norditalien, Frankreich) oder beides (Mitteleuropa) ergänzt. Ein Teil des Gesindes war mit dem Bauernpaar verwandt, ein anderer Teil nicht. Auch DienstbotInnen sprachen das Bauernpaar oft mit „Vater“ und „Mutter“ an.

Es herrschte eine strenge geschlechtliche Arbeitsteilung vor; der zwar teilweise vorhandenen innerhäuslichen Macht der Bäuerin stand die patriarchale christliche Dorfgemeinschaft gegenüber, die gleichzeitig als soziales Regulativ fungierte. Daraus ergibt sich aber auch, dass es innerhalb der Familie kaum Privatheit im heutigen Sinne gab.

Welche Arbeit Männer bzw. Frauen verrichteten, ist historisch und geographisch sehr unterschiedlich. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Frauen in der Regel die nicht oder nur wenig kommerzialisierte Arbeit machten. Eine Kommerzialisierung verschiedener Arbeiten – wie etwa der Heimarbeit im Textilbereich – ging zumeist mit einer „Vermännlichung“ einher. Männern sicherten sich also stets die Kontrolle und Verfügung über das jeweilige Mehrprodukt und festigten damit die patriarchale Herrschaft.

Wenn Konservative heute die Familie als uralte emotionale Gemeinschaft darstellen, dann sei ihnen in bäuerliche Familie der frühen bürgerlichen Gesellschaft entgegengehalten. Die Geschichte der bäuerlichen Familie Europas zeigt, dass Gefühle und Emotionen keine universellen, über-historischen Konstanten sind, sondern soziale und historisch wandelbare Dinge.

Nebenbei sei auch mit dem Mythos der immer schon vorhandenen und harmonischen Mehrgenerationenfamilie aufgeräumt, der im Wesentlichen von konservativen HistorikerInnen und VolkskundlerInnen während der Industrialisierung als perfektes Modell der Altersversorgung geschaffen wurde. Schließlich hatte die durch die Industrialisierung gestiegene Lebenserwartung im 19. Jahrhundert die Dreigenerationenfamilie erst zur typischen Konstellation im mitteleuropäischen Bauernhaus gemacht. Der Umgang mit alten und damit nicht mehr voll arbeitsfähigen Menschen war in einer Gesellschaft, in der körperliche Arbeit das Ein und Alles war, keineswegs immer so harmonisch, wie heute oft dargestellt. Ein eher gespanntes Verhältnis zwischen Kindern und Eltern (etwa über Hofübergabe oder den Anteil an Lebensmitteln, den alte Menschen bekommen sollten) war die Regel und nicht die Ausnahme.

Die Handwerker-Familie

Auch die Familie der Handwerker (Frauen waren nicht zum Handwerk zugelassen) in der vor-kapitalistischen Gesellschaft ist durch eine enge Verflechtung von Produktionsweise und „Familienleben“ gekennzeichnet – mit deutlichen Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen. So zum Beispiel ein quasi-elterliches Verhältnis zwischen Meister und Lehrling. Ähnlich wie bei der bäuerlichen Familie war auch der Handwerker-Haushalt kaum privatisiert, schließlich hatte die Zunft als soziales Regulativ etliches mitzureden. Zünfte regulierten etwa die Geschlechterverhältnisse, indem sie vorschrieben, dass ein Handwerksmeister eine Ehefrau haben musste (die sich häufig neben der Hausarbeit um die an den Betrieb angeschlossene Landwirtschaft kümmerte).

Auch hier gab es keine „geschützte Kindheit“ so wie in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft. Kleine Kinder waren als arbeitsunfähige Personen relativ nutzlos für den Haushalt und wurden nicht selten mit unsanften Mitteln einfach „ruhig gestellt“. Im Vergleich zur bäuerlichen Familie aber war eine Übergabe des Handwerksbetriebs vom Vater auf den Sohn weniger üblich. Söhne gingen bei fremden Meistern in die Lehre und anschließend auf die verpflichtend vorgeschriebenen Wanderjahre. Danach heirateten sie oft in einem fremden Handwerksbetrieb ein, den sie dann übernahmen. Ein über Generationen weiter vererbter „Familienbetrieb“, heute bei Konservativen hoch im Kurs, ist also keine uralte Angelegenheit, sondern eher eine Entwicklung des modernen Kapitalismus. Mit diesem sollte dann auch jenes Phänomen entstehen, das wir als die moderne bürgerliche Familie bezeichnen können.

Die bürgerliche Familie

Mit dem modernen Kapitalismus und der dadurch bedingten Trennung von Produktion und Reproduktion entsteht zum ersten Mal in der europäischen Geschichte eine echte Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit – zumindestens für einen relevanten Teil der Bevölkerung. Die von der Bourgeoisie durch Revolutionen und Reformen durchgesetzten bürgerlichen Rechte definierten erstmals reale – und doch sehr abstrakte – Freiheitsrechte für das menschliche Individuum (ein im Mittelalter unbekannter Begriff). Privatheit bzw. Privatsphäre war von nun an jener Bereich, in dem ein Mensch idealerweise unbehelligt von äußeren Einflüssen sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wahrnehmen konnte.

Führte also die Kommerzialisierung von immer mehr Tätigkeiten der Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen zu einer Ausgliederung der Produktionssphäre aus dem Haushalt und damit der Familie, so kam es auf der anderen Seite zu einer Intimisierung des Familienlebens. Schliefen noch im 17. Jahrhundert die DienerInnen französischer Adeliger oft im selben Zimmer und wurden bis ins 18. Jahrhundert hinein Hausangestellte zur „Familie“ gezählt, so wurde die Aufspaltung des Haushalts in „Familie“ und „familienfremde Personen“ nun immer deutlicher.

Unter Intimisierung des Familienlebens ist beispielsweise zu verstehen, dass nun die „Liebesheirat“ und die „romantische Ehe“ an die Stelle rein ökonomischer Überlegungen traten, die noch die Partnerwahl bäuerlicher oder Handwerker-Familien dominierten. Obwohl auch im Bürgertum natürlich nicht rein nach Zuneigung geheiratet wurde – immerhin musste der Partner bzw. die Partnerin „respektabel“ sein, also unter anderem derselben Klasse angehören – so gab es nun doch ein größeres emotionales Interesse aneinander, was wiederum auch der Individualisierung der Persönlichkeit zuträglich war.

Damit einhergehend erfolgte auch eine Pädagogisierung im Umgang mit Kindern, die nun zunehmend als Individuen mit eigener Persönlichkeit wahrgenommen wurden. Das Kind galt nun erstmals als „erziehbares Wesen“ welches zu einem normen und vernunftgeleitetem Menschen gemacht werden sollte. Im Unterschied zur bäuerlichen Familie, wo Sozialisation höchstens unbewusst durch Nachahmen der Erwachsenen durch die Kinder stattfand, galt „Erziehung“ nun als aktiver Prozess, der vor allem in den ersten Lebensjahren durch die Eltern geleitet werde sollte. Kennzeichnend für die frühe bürgerliche Familie war dabei eine frühe Trennung zwischen Buben und Mädchen.

Schließlich hatte die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit ambivalente Folgen. Einerseits schuf sie Möglichkeiten der Liebe und Intimität, andererseits auch der Gewalt – fast ausschließlich gegen Frauen und Kinder. Denn mit der Ausgliederung der Produktionssphäre aus dem Familienleben wurde die Frau auf die Sphäre der Reproduktion reduziert. Die Autorität des Mannes basierte nun nicht mehr auf inner- sondern auf außerhäuslicher Arbeit; er wurde zum „Ernährer“ der Familie. Das Verschwinden der Frau aus der Produktion und ihre Festlegung auf die Reproduktion (Hausarbeit, Pflege, Kindererziehung) förderten wiederum jene Eigenschaften, die ihr als „natürlich“ angedichtet wurden. Sie sollte die Hüterin jenes Refugiums, jener „heilen Welt“ sein, welche die Familie fortan als Gegensatz zum kapitalistischen Konkurrenzdruck außerhalb darstellen sollte.

Die proletarische Familie

Marx und Engels vermuteten Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die Industrialisierung zu einer Zerstörung der Familie führen würde. Dass das – zumindest als generelle Tendenz – eingetreten ist, wissen wir heute. Gerade im 19. Jahrhundert, als große Teile Europa erstmals industrialisiert wurden, hatte dieser Prozess die Familienbindung in vielen Fällen aber noch verstärkt, indem etwa LandbewohnerInnen, die in Städte gingen um Fabrikarbeit anzunehmen in Ermangelung staatlicher Sozialsystems verwandtschaftliche Solidarnetze in Anspruch nahmen.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein lebten ArbeiterInnen häufig in so genannten halboffenen Familien: Kernfamilien plus verwandte und nicht verwandte Personen. SchlafgängerInnen bzw. BettgeherInnen und anderen UntermieterInnen prägten das proletarische Wohnen (und Familienleben). Zwar wirkte die bürgerliche Familienideologie – auch propagiert durch reformistische sozialdemokratische FührerInnen – bis tief in die ArbeiterInnenklasse, doch fehlte ArbeiterInnenfamilien die materielle Grundlage dafür in den meisten Fällen völlig. Beispielsweise arbeiteten in Wien in der Zeit zwischen 1880 und 1900 rund 40% der verheirateten Arbeiterfrauen Vollzeit, weitere 40% gelegentlich. Wie sollte sich die Ideologie des männlichen „Ernährers“ hier in die Praxis umsetzen?

Eine gewisse materielle Basis für die Familienbindung bestand jedoch: Vor allem Arbeiterinnen waren durch ihre weitaus geringe Bezahlung oft auf die Ehe angewiesen, wo sie dann (auch wenn sie genauso viel arbeiteten wie der männliche „Haupternährer“) die Rolle von „Zuverdienerinnen“ einnahmen. In der kapitalistischen Logik war das in mehrerlei Hinsicht sehr „praktisch“: Frauen gewährleisteten nicht nur die Gratis-Verrichtung der Hausarbeit, sie konnten auch als billige Arbeitskräfte bzw. auch als Lohndrückerinnen eingesetzt werden; das trug wiederum ideologisch zur Spaltung der ArbeiterInnenklasse (an der Geschlechterlinie) bei.

Besser gestellte Facharbeiter übernahmen aber bereits die bürgerliche Familienideologie. Sobald man es sich leisten konnte, drängten viele Männer ihre Ehefrauen dazu, die Lohnarbeit aufzugeben und sich gänzlich „der Familie zu widmen“. So wird zum Beispiel aus dem „Roten Wien“ der 1920er Jahre berichtet, dass in nicht wenigen ArbeiterInnenfamilien die Frau ihr Lohnarbeit aufgab, sobald eine (äußerst billige) Gemeindewohnung bezogen werden konnte (Zur Geschichte des Wiener Gemeindebaus siehe “Wien: Kampf um den Gemeindebau “). Auch die Bildungsorientierung bezüglich der Kinder wurde von höheren Schichten der ArbeiterInnenklasse übernommen, wenn auch in der Regel verbunden mit einem kollektiv-emanzipativen Gedanken und keinem Gedanken des individuellen Aufstiegs.

Sozialisation der Kinder aus ArbeiterInnenfamilien fand bis weit ins 20. Jahrhundert hinein häufig weitgehend außerhalb der Familie statt – in der Schule und „auf der Straße“. Mussten beide Eltern den ganzen Tag in der Fabrik arbeiten, so blieb ihnen oft nichts anderes übrig, als ihre Kinder der Straße zu überlassen, wo sie in informellen Kinder- und Jugendgruppen sozialisiert wurden. Im Gegenzug sahen Bürgerliche Erziehung als Fernhalten des Kindes von der Straße an.

Wie heute in Bezug auf Kinder aus MigrantInnenfamilien wurde damals in reaktionärer Manier ein „Erziehungsdefizit“ verortet, welches die staatliche Pädagogik von oben herab beheben müsste. Auch große Teile der ArbeiterInnenbewegung schlossen sich der Haltung an, wonach Kinder ständig unter der Obhut von PädagogInnen sein müssten. Besonders im austromarxistischen Roten Wien wurden „Straßenkinder“ im Rahmen einer Elendsberichterstattung nur als Opfer gesehen, die durch die sozialdemokratische Kinder- und Jugendfürsorge betreut (und diszipliniert) werden mussten. Dabei hatte sich in den informellen Kinder- und Jugendgruppen teilweise eine beachtliche selbstständige Alltagskultur herausgebildet. So beobachtete die Psychologin Hildegard Hetzer in den 1920er Jahren in den Straßen der proletarischen Viertel Wien-Kaisermühlens rund 160 verschiedene Straßen-Spiele von Kindern. Diese hatte ihnen kein Erwachsener beigebracht, sondern sie wurden immer wieder von älteren an jüngere Kinder weitergegeben.

Beengte Wohnverhältnisse des Proletariats (Eltern, Kinder und nicht-verwandte Personen schliefen häufig in einem Zimmer) kurbelten, neben aller Abscheu, bürgerliche Phantasien an, die eine „enttabuisierte Sexualität“ der ArbeiterInnen an die Wand malten. Tatsächlich dürfte die Normen der Sexualität im Proletariat im Vergleich zur gutbürgerlichen Gesellschaft weniger rigide gehandhabt worden sein, schon allein die Kinderarbeit verhinderte eine Abschottung der Geschlechter voneinander.

Allerdings existierten auch in der ArbeiterInnenklasse des ausgehenden 19. Jahrhunderts trotz – oder gerade wegen – der räumlichen Enge sehr hohe Scham- und Peinlichkeitsschwellen. So sahen zum Beispiel viele Kinder ihre Eltern niemals nackt. Die Kinder sahen und hörten zwar einiges, geredet wurde darüber aber nie, was im späteren Leben vielfach ein recht verkrampftes Verhältnis zur Sexualität zur Folge hatte.

Entwicklungen im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert erfuhren die Familie bzw. die unterschiedlichen Familienformen der einzelnen Klassen und Schichten große Veränderungen. Besonders in jener Periode, die SozialwissenschaftlerInnen häufig als „Fordismus“ bezeichnen (in den USA ab den 1930er Jahren, in Europa ab den 1950er bis in die 1970er Jahre) kam es zu einer tendenziellen Angleichung von bürgerlichen und proletarischen Familien.

Durch steigende Löhne und allgemein gestiegenen Wohlstand gab es in Westeuropa und Nordamerika zum ersten Mal eine materielle Grundlage für das bürgerliche Familienideal in breiten Schichten der ArbeiterInnenklasse. Dies bremste die allgemeine Tendenz des Absterbens der Familie, ja wirkte als länger andauernde Gegentendenz dazu. Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren stand das Familienmodell mit männlichem „Ernährer“ und Hausfrau hoch im Kurs. Der dem lohnarbeitenden Ehemann gezahlte „Familienlohn“ sollte idealerweise ausreichen, um neben sich selbst noch eine Frau und Kinder zu versorgen.

1950 betrug die Erwerbsquote verheirateter Frauen in der BRD gerade einmal 24,6%. Die zunehmende Leistbarkeit von arbeitssparenden Haushaltsgeräten ermöglichte es der proletarischen Hausfrau weiters, sich, ähnlich wie die bürgerliche Hausfrau, mehr als bisher auf Erziehungs- und Beziehungsarbeit zu konzentrieren. Dem in der Industrie beschäftigten Ehemann sollte die Frau ein Refugium gestalten, die Familie sollte ein Ort der Entspannung und des Ausruhens von der oft monotonen und anstrengenden Lohnarbeit sein. Nicht nur für die Frau, die in diese Rolle gedrängt wurde, war (und ist bis heute) die Familie auch für den männlichen Arbeiter oftmals eine sinnstiftende Angelegenheit. Konnten sich Arbeiter mit der stupiden Fabrikarbeit des Fordismus nicht identifizieren, so verblieb immer noch die Identifikation mit der Familie, die man schließlich selbst „gegründet“ hatte.

Mit dem gesellschaftlichen Aufbruch im Zuge der Bewegungen rund um 1968 wurde die Kleinfamilie  als Lebensform dann vermehrt in Frage gestellt – vor allem in studentischen und kleinbürgerlichen Schichten. Die Scheidungsraten stiegen von nun an deutlich an, Jugendliche versuchten aus ihrer Familie „auszubrechen“, und alternative Lebensformen wie Kommunen und Wohngemeinschaften erfreuten sich großer Beliebtheit in bestimmten sozialen Milieus. Viele verheiratete Frauen wollten sich nicht länger mit ihrer Rolle als Hausfrau abfinden und strömten vermehrt ins Erwerbsleben. Bis in die 1980er Jahre hatte sich die Erwerbsquote verheirateter Frauen in der BRD von rund einem Viertel in den 1950er Jahren auf ca. 50% erhöht (in der DDR war sie allerdings stets viel höher).

Die Scheidungsraten liegen heute sowohl in Deutschland als auch in Österreich bei über 40 Prozent – die Gesamtscheidungsrate, also die Wahrscheinlichkeit, mit der geschlossene Ehen bei unverändertem Scheidungsverhalten durch eine Scheidung enden, erhöhte sich von 26,5% im Jahr 1981 auf den bisherigen Höchstwert von 49,47% im Jahr 2007; in Großstädten wie Wien liegt die Scheidungsrate mittlerweile bei nahezu zwei Drittel (Wien 2007: 64%). Der allgemeine Trend zu instabileren Beziehungen und mehr Scheidungen wird allerdings durch die zunehmende Unsicherheit der letzten zwei/drei Jahre gebremst: Nicht zufällig gehen in Zeiten der Krise die Scheidungsraten wieder zurück – nicht weil sich die PartnerInnen nun besser verstehen würden, sondern weil das Risiko des finanziellen Absturzes nach einer Scheidung als höher eingestuft wird als die Perspektive, mit einem/einer ungeliebten PartnerIn noch länger verheiratet bleiben zu müssen.

2006 lebte noch immer mehr als die Hälfte (52%) der deutschen Bevölkerung in einer Familie (wobei hier nicht nur leibliche Eltern, sondern auch Alleinerziehende mit Kindern und kinderlose Paare mitgerechnet wurden). Von den 22,1 Millionen Elternteilen waren 17,98 Millionen Ehefrauen oder -männer (81,2 Prozent), 1,51 Millionen Lebenspartner oder -partnerinnen (6,8 Prozent) und 2,66 Millionen allein erziehende Elternteile (12,0 Prozent). Dennoch geht der Anteil der in Familien lebenden Bevölkerung immer weiter zurück.

Das heißt jedoch nicht, dass die Einstellungen zur Familie diesen Entwicklungen unmittelbar folgen. Denn wie MarxistInnen wissen, sind Anschauungen häufig relativ zäh – das Bewusstsein folgt dem veränderten Sein erst mit einiger Verzögerung.

Konservative Einstellungen zur Familie sind in Europa immer noch weit verbreitet. Wird gefragt, ob die Familie darunter leidet, wenn die Frau Vollzeit arbeitet, so stimmen dem 72% aller befragten Westdeutschen (nur 34% aller Ostdeutschen!) zu. Dem Statement, „idealerweise sollte die Frau zu Haus bleiben und sich um die Kinder kümmern, während der Mann arbeitet“, stimmen 46% aller Befragten in den EU-15-Staaten zu (Studie des Forschungsnetzwerks GESIS-ZUMA über die „Einstellungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Deutschland und Europa“, 2007). Es sind also nicht nur christliche FundamentalistInnen, die denken, dass Frauen keinen Beruf brauchen würden. Als Mütter würden sie ohnehin schon „den wichtigsten Beruf überhaupt“ ausüben, hinter dem Wunsch der Berufstätigkeit der Frauen stecke eine „unheilige Allianz zwischen Marxisten und Wirtschaft“.

Wer die nach wie vor vorhandene gesellschaftliche Relevanz der Familienideologie erklären will, wird an einer materialistischen Analyse nicht vorbei kommen. Nach der historischen Darstellung der Entwicklung der bürgerlichen Kleinfamilie wollen wir uns nun also theoretisch ihrer Funktion für das kapitalistische System annehmen.

Familie und Staat

Heute hat der bürgerliche Staat ein hohes Interesse an der Familie als unterstes soziales Netz der staatlichen Sozialpolitik. So ist es beispielsweise eine bekannte Tatsache, dass viele arbeitslose Frauen nicht als solche gemeldet sind und somit die Arbeitslosenrate niedriger erscheint, als sie es tatsächlich ist (wobei hier auch an anderen Stellen heftig geschönt wird). Sie werden durch die Familie aufgefangen, der Staat muss sich nicht finanziell um sie kümmern. In den meisten entwickelten kapitalistischen Gesellschaften existieren etliche familiengebundene Sozialleistungen. Neben offensichtlichen Leistungen wie dem Kindergeld (Kinderbeihilfe in Österreich, Kinderzulage in der Schweiz) fallen auch verschiedene Regelungen für allgemeine Sozialleistungen in diesen Bereich. So sind etwa gesetzliche Regelungen für Sozialwohnungen oder Wohngeld ganz oft am bürgerlichen Familienmodell orientiert, alternative Lebensformen haben es hier erheblich schwerer. Wenn sich Stipendien am Einkommen der Eltern orientieren, wird staatlicherseits automatisch davon ausgegangen, dass StudentInnen von ihren Eltern finanziell unterstützt werden.

Bezeichnenderweise war dies auch in stalinistischen Staaten nicht anders. In der DDR wurden Wohnungen vom Grundriss her eindeutig für den Typus der Kleinfamilie produziert und junge Familien bei der Vergabe bevorzugt. Wollten sich junge Erwachsene durch eine eigene Wohnung räumlich von der Herkunftsfamilie lösen, so war dies am ehesten durch Gründung einer eigenen Kleinfamilie möglich. Andererseits muss aber auch erwähnt werden, dass die Erwerbstätigkeit der Frau in der DDR einen weitaus höheren Stellenwert als in fast allen kapitalistischen Ländern hatte und in der Nähe von Wohnungen flächendeckend Kindergärten und Horte eingerichtet wurden. Nichtsdestotrotz zeigt sich hier wieder der letztendlich bürgerliche Charakter des Stalinismus.

Artikel 6 des deutschen Grundgesetzes besagt: „(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. (…)“. Es scheint so, als wäre die Familie tatsächlich die „Keimzelle der Gesellschaft“. Warum ist das so? Und: Ist der Kapitalismus in seinem Funktionieren tatsächlich auf die Existenz der Familie, insbesondere der Kernfamilie angewiesen? Um sich diesen Fragen anzunehmen, müssen wir ein wenig ausholen.

Kapitalismus und Reproduktionsarbeit

Um ihre Produktion zu organisieren, brauchen die KapitalistInnen nicht nur Maschinen und Rohstoffe, sondern auch Infrastruktur (z.B. gute Verkehrswege für den Transport ihrer Produkte) und vor allem Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen. Doch genauso wie kaum einE einzelneR KapitalistIn Straßen und Schienen finanzieren will (da es oft keinen, oder jedenfalls nicht unmittelbar Profit bringt), so verhält es sich auch mit der Ware Arbeitskraft. Für deren Reproduktion ist der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Engels) zuständig, beispielsweise wenn er über die Organisierung des Schulwesens für die adäquate Ausbildung der Arbeitskräfte sorgt. Es sind aber bei weitem nicht alle Komponenten der Reproduktion der Ware Arbeitskraft staatlich organisiert: So wird die Erziehung immer noch zu großen Teilen im Kapitalismus vom Staat an die Kleinfamilie delegiert.

Hat dies theoretische Gründe? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten, und viele MarxistInnen neigen hier zu vorschnellen Fehlschlüssen. Letztendlich dreht sich alles um die Frage, ob Frauenunterdrückung und Sexismus – theoretisch gesehen – integraler Bestandteil des Kapitalismus sind oder nicht.

Natürlich sind Frauenunterdrückung und Sexismus nicht erst im Kapitalismus entstanden, sondern sind von der herrschenden Klasse vielmehr erfolgreich ins kapitalistische System integriert worden. Rein theoretisch könnte das kapitalistische System auch ohne die Existenz dieser spezifischen Unterdrückungsmechanismen auskommen. Das Funktionieren der ökonomischen Ausbeutung basiert auf der Existenz von Klassen, welche die Gesellschaft in BesitzerInnen (von Produktionsmitteln) und Besitzlose (die ArbeiterInnen, die nichts besitzen außer ihre Arbeitskraft und daher gezwungen sind, diese Arbeitskraft zu verkaufen). Damit schaffen die Klassenverhältnisse die Voraussetzung für die Möglichkeit der Ausbeutung der Mehrarbeit der ArbeiterInnen durch die KapitalistInnen. Welches Geschlecht das ausgebeutete Subjekt hat, ist dem/der Kapitalisten/in abstrakt gesehen egal. Er/sie kann zwar den Faktor Geschlecht, genauso wie andere Faktoren, dazu verwenden, mehr Mehrwert aus der Arbeitskraft zu pressen, am zentralen Ausbeutungsverhältnis Arbeit-Kapital ändert das aber nichts. 

Im real existierenden Kapitalismus, so wie er sich historisch entwickelt hat, sind Frauenunterdrückung und Sexismus jedoch sehr wohl zu einem seiner fest integrierten Bestandteile geworden. Das liegt daran, dass der Kapitalismus nie nur ein ökonomisches Ausbeutungssystem ist, sondern immer auch eine politische Herrschaftsstruktur. Die soziale Unterdrückung, etwa nach Geschlecht und Nation, stellt für die herrschende Klasse ein zentrales Instrument dar, um die ArbeiterInnenklasse zu spalten. Nur mittels dieser (rassistischen, sexistischen…) Spaltungspolitik kann sie die Gefahr einer geeinten ArbeiterInnenklasse, die sich ihrer eigenen Stärke bewusst wird, bannen. Einen politik- und ideologiefreien Kapitalismus wird es daher real nie geben können.

Dennoch kann es einen Kapitalismus ohne die derzeit bestehenden Familienformen geben. Theoretisch könnten, mit Ausnahme der Zeugung von Kindern, auch sämtliche weiter oben beschriebenen Funktionen der Familie vom Staat oder Markt übernommen werden. Vor allem aber können sie auch von anderen Formen des Zusammenlebens als der bürgerlichen Kleinfamilie übernommen werden, die v.a. in Europa aufgrund besonderer historischer Umstände entstanden ist. Gleichzeitig haben sich hier ja auch andere Lebensformen wie Wohngemeinschaften, Kommunen oder Kibbuze entwickelt. Doch auch in diesen Fällen wird unbezahlte Haus- und Reproduktionsarbeit geleistet. Es erscheint also wohl mehr als illusorisch, dass es in absehbarer Zeit einen real existierenden Kapitalismus völlig ohne unbezahlte Reproduktionsarbeit geben könnte. Abstrakt-theoretisch aber wäre dies möglich.

Die bürgerliche Kleinfamilie ist also, theoretisch gesehen, kein integraler Bestandteil des Kapitalismus als ökonomischem System. Sie ist allerdings historisch ein fester Bestandteil des bestehenden Kapitalismus geworden, der nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein kulturelles und ein politisches Herrschaftssystem ist.

Verschiedene soziale Phänomene resultieren nun aus diesen materiellen Bedingungen. Erstens einmal sind das ideologisch hohe Ansprüche an „Familienglück“ und klassen- und schichtspezifisch an materielle Möglichkeiten. Während von der Ehefrau die Aufopferung für die Familie, d.h. für Haushalt und Kinder, verlangt wird, lastet auf Männern der gesellschaftliche Druck, einen „guten Ernährer“ abzugeben (wobei der Druck auf Frauen selbstverständlich viel höher ist als auf Männer). Da Männer viel eher über die Erwerbsarbeit definiert werden und sich folglich selbst darüber definieren, verfallen sie im Falle von Arbeitslosigkeit viel häufiger in Depressionen als Frauen, die sich dann eben „nur“ dem Familienleben widmen.

Im Extremfall schlägt dieses Scheitern in der gesellschaftlich zugedachten „Ernährer-Rolle“ in Gewalt um. Nicht selten kommt es vor, dass Männer, die vom kapitalistischen Konkurrenz- und Aufstiegsgedanken offenbar völlig zerfressen sind, in der Familie Amok laufen, weil sie ihr keinen „angemessenen“ Standard bieten können (Siehe dazu: “Priklopil, Josef F. und der Axtmörder…”).

Gewalt in der Familie

Gewalt in der Familie ist in heutigen Gesellschaften ein Massenphänomen. Rund 85% aller aktenkundigen Gewalttaten werden innerhalb der Familie verübt, die fast immer rassistisch aufgeladene öffentliche Debatte hingegen dominieren „Raubüberfälle“ und „Bandenkriege“. Insbesondere sexualisierte Gewalt findet fast immer im familiären Nahbereich statt und nicht in dunklen Seitenstraßen, wo Migranten junge Frauen überfallen, wie es RassistInnen darstellen. Ebenfalls nicht wissenschaftlich erwiesen ist die Behauptung, dass Gewalt in der Familie bei unteren sozialen Schichten weiter verbreitet ist.

Oben wurde beschrieben, dass die meisten Reproduktionsarbeiten nicht gesellschaftlich organisiert werden, sondern privat innerhalb der Familie. Kein Wunder, dass etwaige daraus resultierende Probleme keine Angelegenheit der Gesellschaft sind, sondern Privatangelegenheit. Wenn aus der Nachbarwohnung Schreie zu hören sind, dann hat man/frau sich nicht einzumischen. Wenn wieder einmal ein Mann mit überdurchschnittlich vielen Komplexen eine Trennung nicht verkraftet und seine (ehemalige) Partnerin ermordet, dann ist in den Medien von einem „Familiendrama“ die Rede. Die Familie, das ist Privatangelegenheit. Darüber hinaus ist ein gewisses Maß an autoritären, hierarchischen Strukturen innerhalb der Familie vom Standpunkt des Kapitals aus sogar gewünscht, entspricht es doch den Gegebenheiten in den Büros und Fabriken dieser Gesellschaft, wo man/frau sich auch ständig irgendwelchen Autoritäten unterordnen muss.

Innerfamiliäre Gewalt gegen Frauen und Kinder ist ein spezifisch männliches Resultat des Besitzdenkens, das wir alle in der kapitalistischen Gesellschaft erlernt und verinnerlicht haben. Aus „sie gehört zu mir“ wird „sie gehört mir“, wie der Sozialpsychologe Erich Fromm in seinem Werk „Haben und Sein“ ausführt. Natürlich haben auch Frauen dieses Besitzdenken verinnerlicht, allerdings äußert es sich auf andere Art und Weise. Und natürlich wäre es naiv zu glauben, dass Linke über diese Dinge erhaben wären. Sozialisiert in einer bürgerlichen Gesellschaft, in der Eigentum mehr zählt als alles andere, haften uns, auch wenn wir sie vielleicht besser reflektieren können, dieselben Denkmuster an.

Wenn ein Familienvater den Verehrer seiner Tochter um ihre Hand anhalten lässt oder ein Arbeitskollege mit dümmlichem Stolz verkündet, „mein Auto und meine Freundin greift keiner an“, dann ist das Ausdruck dieses Besitzdenkens, dessen Quintessenz ist, dass Frau und Kinder eigentlich dem Mann „gehören“. Seine höchste Entwicklung erreicht diese Ideologie in der bürgerlichen Kleinfamilie, wo sie bis vor kurzen selbst in europäischen Staaten noch gesetzlich verankert war. Bis Mitte der 1970er Jahre hatte der österreichische Ehemann das Recht, seiner Frau die Erwerbsarbeit zu verbieten, wenn sie dadurch ihre „Pflichten als Hausfrau und Mutter“ verletzte. Außerdem hatte er ein rechnungsfreies Verwaltungsrecht über das Vermögen der Frau und durfte den ehelichen Wohnsitz bestimmen. Ähnliche Bestimmungen gab es auch in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern. Auch die sexuelle Selbstbestimmung hatte der bürgerliche Staat in einigen Ländern Europas den Ehefrauen bis vor kurzem verwehrt: Vergewaltigung in der Ehe ist in der Schweiz erst seit 1992 strafbar, in Deutschland erst seit 1997. Bis 2004 war die Vergewaltigung in der Ehe oder in einer außerehelichen Lebensgemeinschaft in Österreich in bestimmten Fällen nur auf Antrag des Opfers zu verfolgen.

Heute sind solche diskriminierenden Gesetze in Europa beseitigt. Doch in einer ökonomischen Klassengesellschaft bedeutet formelle Gleichheit vor dem Gesetz noch lange nicht reale Gleichheit. Noch immer (oder immer wieder) sind viele Frauen finanziell von ihren Ehemännern abhängig – und ihnen dadurch mehr oder weniger ausgeliefert, weil es im Kapitalismus für einen großen Teil der Bevölkerung überhaupt keine ausreichende finanzielle Absicherung gibt. Die Hilfeleistungen des bürgerlichen Staats, von Einrichtungen wie Frauenhäusern bis hin zu diversen Almosen, reichen da keinesfalls, im Gegenteil, in den letzten Jahren werden hier die Mittel sukzessive gekürzt.

Noch weniger Möglichkeiten, der Familie zu entkommen, haben Kinder. Als die Österreicherin Natascha Kampusch, die acht Jahre lang von Wolfgang Priklopil in einem Keller gefangen gehalten wurde, über diesen aussagte, er hätte sie „auf Händen getragen und mit Füßen getreten“, wollte sie damit auf eine Mischung aus Zuneigung und Gewalt, aus Fürsorge und Dominanz anspielen. In gewisser Hinsicht kann dieser Satz auf das Verhältnis vieler Eltern zu ihren Kindern umgelegt werden. Überspitzt formuliert sind doch alle Kinder Gefangene ihrer Familien, die von Geburt an mit irgendwelchen Menschen zusammenleben müssen, selbst wenn diese die grausamsten Sachen mit ihnen anstellen. Wie viele Möglichkeiten zur Flucht gibt es schließlich für ein Kind, das permanent geschlagen oder psychisch verletzt wird?

Überwindung der Familie?

„Werft ihr uns vor, dass wir die Ausbeutung der Kinder durch ihre Eltern aufheben wollen? Wir gestehen dieses Verbrechen ein. Aber, sagt ihr, wir heben die trautesten Verhältnisse auf, indem wir an die Stelle der häuslichen Erziehung die gesellschaftliche setzen. Und ist nicht auch eure Erziehung durch die Gesellschaft bestimmt? Durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer ihr erzieht, durch die direktere oder indirektere Einmischung der Gesellschaft, vermittelst der Schule usw.? Die Kommunisten erfinden nicht die Einwirkung der Gesellschaft auf die Erziehung; sie verändern nur ihren Charakter, sie entreißen die Erziehung dem Einfluss der herrschenden Klasse.“ (Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest)

Während sich Menschen ihre FreundInnen in der Regel selbst aussuchen, geht das bei Verwandten nicht. Trotzdem verbringen wir alle relativ viel Zeit mit Personen, mit denen uns im Extremfall nur die Gene verbinden, nicht aber ähnliche Interessen und Anschauungen. Dass dadurch ständig latent vorhandene Konfliktpotenzial tritt nicht nur auf „Familienfesten“ häufig zu Tage.

Trotz alledem ist die Ideologie der (Klein-) Familie heute tief in der Gesellschaft verwurzelt. Immer wieder bescheinigen Jugendstudien auch der jüngeren Generation einen vergleichsweise stark ausgeprägten Familiensinn. Dies wirkt auch weit in die Linke und radikale Linke hinein. Auch wenn man/frau hier öfters lieber von der „Family“ spricht, seine „Kids“ mitnimmt oder sich mit der „Sis“ trifft – es bleibt dasselbe.

Woran liegt das? Es liegt daran, dass die Ideologie der „heilen Familie“ nicht bloß „falsches Bewusstsein“ ist, sondern, wie jede Ideologie, eine materielle Grundlage hat. Denn in der Tat ist die Familie für viele Menschen eine Art „Refugium“. Durch ihre klare Rollenverteilung ist sie auch einer jener wenigen Bereiche in der kapitalistischen Gesellschaft, der nicht völlig von Konkurrenzdenken und Konkurrenzdruck durchdrungen ist. Häufig trifft das ja nicht einmal auf den Freundeskreis zu. Die Familie ist für viele ein Ort der Erholung und der Sicherheit – und hier ist keinesfalls nur die finanzielle Abhängigkeit gemeint. Auch das, was im Abschnitt über die Familie in der fordistischen Periode geschrieben wurde, stimmt heute vielfach noch immer: Für viele Menschen ist die Familie auch eine identitätsstiftende Angelegenheit in einer Gesellschaft, in der sich die meisten Menschen kaum „selbst verwirklichen“ können – schon gar nicht über die Lohnarbeit.

Ändern wird sich das nicht durch theoretische Erkenntnisse, hochtrabende Proklamationen und linksradikalen Voluntarismus. Ein langsames Verschwinden der Familienideologie könnte nur dann eingeleitet werden, wenn ihr die materielle Grundlage entzogen wird und gleichzeitig eine tatsächliche und für den Großteil der Menschen annehmbare Alternative vorhanden ist, wenn sich also die Perspektive eröffnet, die Familie durch eine höhere Form des menschlichen Zusammenlebens zu ersetzen. Nur eine Vergesellschaftung von Hausarbeit, Erholung, Kindererziehung und anderen Bereichen auf demokratischer Grundlage und hohem technologischen Niveau könnte einen solchen Prozess auslösen. Dies wiederum ist nur im Rahmen einer revolutionären Umwälzung der Produktionsverhältnisse möglich.

Dennoch gibt es bereits innerhalb kapitalistischer Gesellschaften genügend Anknüpfungspunkte, die eine solche Perspektive nicht als utopische Träumerei erscheinen lassen. Bereits im Hier und Jetzt gibt es Kindertagesstätten, Kantinen oder Pflegeheime. Für deren Ausweitung und ausreichende Finanzierung aus den Profiten der KapitalistInnen gilt es zu kämpfen. In Kämpfen für sozialpolitische Forderungen, die vielen ArbeiterInnen als „realistisch“ erscheinen, besteht immer auch die Möglichkeit, dass sich Klassenbewusstsein und die Einsicht in eine Unreformierbarkeit des Kapitalismus ausbreitet. Eine Überwindung dieses überkommenen Systems würde es erstmals der gesamten Menschheit ermöglichen, tatsächlich frei und selbstbestimmt zu leben – in welcher Form des Zusammenlebens auch immer.

Oktober 2010