Marxistische Kritik an Judith Butler

In postmodern-feministischen Milieus gilt Judith Butler für viele als Kultfigur. Wir unterziehen sowohl ihre theoretischen Konzeptionen als auch die entsprechenden politischen Schlussfolgerungen einer marxistischen Kritik.

Mit „radikalen“ Thesen wie der Absage an alle bisherigen Vorstellungen von Körperlichkeit und Subjektivität wirbelte die US-amerikanische Universitätsprofessorin Judith Butler den feministischen Diskurs seit den 90er Jahren gehörig auf.  Mit ihrem Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“, das Anfang der 90er publiziert wurde, stellte sie die als normal betrachtete „Geschlechterbinarität“, also die Annahme der Existenz von nur zwei Geschlechtern, Mann und Frau, nicht nur in Frage, sondern leugnete deren Existenz grundwegs. Sie kritisiert darin die Zweigeschlechtlichkeit als im und vom herrschenden Diskurssystem konstruierte – womit (freilich neben allen anderen schwerwiegenden Konsequenzen) auch die „alte“ Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“, dem biologischen und sozialen Geschlecht, unhaltbar würde.

Diese Position musste bei den FeministInnen der „alten“ Neuen Frauenbewegung Widerspruch hervorrufen. Nicht nur, weil sie dadurch einer ihrer zentralen theoretischen Errungenschaften beraubt würden, sondern weil damit der Status der Frauen als (kämpfende) Subjekte überhaupt unterminiert würde. Butlers Absicht war es unter anderem, das Vertretungsmonopol des „alten“ Feminismus (für alle Frauen) aufzubrechen. Die Punkte, die sie dazu anführt, sind freilich nicht besonders neu: Dass der Mainstream-Feminismus vor allem die weißen Mittelschichtfrauen vertrat, haben sozialistische Feministinnen wie Angela Davis, Martha E. Gimenez und andere bereits in den 1970ern kritisiert.

Butler brachte aber auch wirklich neue Aspekte in die feministische Diskussion (die erwähnte Infragestellung der Geschlechterbinarität, Queertheorie) ein und sie zeigte richtigerweise den ausschließenden Charakter des etablierten Feminismus auf. Bei allen fortschrittlichen Elementen: Gemündet hat ihr Ansatz letztlich in der Infragestellung jeder auf die Befreiung von Frauen orientierten kollektiven Praxis. Dass das zu einem Sturm der Empörung führte, ist wenig erstaunlich. Sie musste sich den (berechtigten)Vorwurf gefallen lassen, mit ihrem Individualismus und ihrer Abgehobenheit in Wirklichkeit selbst wieder elitär und ausschließend zu sein.

In gebotener Kürze sollen im Folgenden zentrale Thesen der Butlerschen Konzeption dargelegt werden; dabei werden einige Originalzitate von Butlers Ausführungen (wo nicht anders vermerkt sämtlich aus „Das Unbehagen der Geschlechter“), die durchgängig in einer sehr abstrakten und akademischen Sprache gehalten sind, unvermeidbar sein. Danach werde ich diese Thesen kritisch hinterfragen und dabei auch das Verhältnis zwischen Butlers wissenschafts- und erkenntnistheoretischer „Radikalität“ und den sich daraus ergebenden viel weniger „radikalen“, systemkompatiblen politischen Konsequenzen ins Blickfeld rücken. Schließlich soll Butlers Konzept selbst als Ausdruck bestimmter sozio-ökonomischer Entwicklungen behandelt werden.

Identitäten und Diskurse

Butler erteilt der in der Neuen Frauenbewegung theoretisch vertretenen und in der Praxis umgesetzten so genannten „Identitätspolitik“ eine klare Absage. Sie sieht es als „Paradox“ und als „Fundamentalismus“, dass der Feminismus mit der Bezugnahme auf „die Frauen“ gerade jene Subjekte voraussetzt und in unveränderliche Identitäten einsperrt, die er eigentlich zu repräsentieren und zu befreien wünscht. Ihr zufolge erfolgt die Identitätsbildung erst im Kontext der Handlung, im Diskurs. In derselben Logik denkt sie auch die Subjektbildung: Ohne Diskurs kein Subjekt. Da der jeweilige Diskurs immer mit bestimmten Machtverhältnissen zu tun hat, werden die Subjekte bei ihrer Konstitution nicht nur in diese eingepasst, sie erwachsen überhaupt erst daraus. Sie entwickeln „ihre“ Identitäten entsprechend den Bedürfnissen des jeweiligen Diskurs- oder Herrschaftssystems. Butler spricht freilich nicht von „Bedürfnissen“. Das wäre zu konkret und würde nur mittels historischer Analyse fassbar werden. Ihrem theoretischen Background entsprechend (dazu später mehr) ist von einer ziemlich diffusen „Macht“ die Rede, die in ihrer Omnipräsenz für die Konstitution des „diskursiven Apparats“ und damit alles Seins verantwortlich zeichnet. Bei diesem Konzept (von Macht) handelt es sich freilich um keine Neuerfindung von Butler, vielmehr werden die Einflüsse von Foucault deutlich.

Für Butler ist das „Frau-Sein“ genau so eine vom herrschenden Diskurssystem vorgeschriebene Identität. Daher kann sie der „Frauenbefreiung“ auch nichts Befreiendes abgewinnen und tritt vielmehr für eine Befreiung von der Identität „Frau“ ein. Konkret handle es sich beim herrschenden System um den „regulierenden Apparat der Heterosexualität“ oder die „heterosexuelle Matrix“, die dafür sorgen, dass die Geschlechterbinarität als etwas Natürliches erscheint. Deren Erfolg beruhe darauf, dass sie sich nicht über offenen Zwang durchsetzen, sondern über sehr subtile Mechanismen, über eine Art Regelsystem funktionieren. Durch das ständige und wiederholte Aufrufen bestimmter Regeln und das wiederholte Zitieren bestimmter Normen werden Konventionen (wie sie sagt) „performativ“ geschaffen. Als Performativität bezeichnet sie „jede ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert“. Entsprechend dieser Logik und in diesem Rahmen findet dann laut Butler auch die Identitätsbildung statt: „Die Regeln, die die intelligible Identität anleiten, d.h. die intelligible Behauptung eines ‚ich’ ermöglichen und einschränken und ihrerseits teilweise gemäß den Matrizes der Geschlechtsidentität und der Zwangsheterosexualität strukturiert sind, operieren durch Wiederholung. Sagt man, dass das Subjekt konstituiert ist, so bedeutet dies einfach, dass das Subjekt eine Folgeerscheinung bestimmter regelgeleiteter Diskurse ist, die die intelligible Anrufung der Identität anleiten.“ (S.213)

Indem Butler die Entstehung aller Materialität und Körperlichkeit ins Diskurssystem hineinverlagert und den „diskursiven Apparat“ als Geburtsort für Subjektivität und Identität ausmacht, meint sie nicht nur die Subjekt- und Identitätsbildung verstanden zu haben, sondern auch alle erkenntnistheoretischen Probleme, mit denen sich Materialismus und Idealismus schon immer herumgeplagt haben, gelöst zu haben. Da es keine Trennung (sie spricht von „Dichotomie“) zwischen Subjekt und Objekt gebe, hätten sich auch die mühsamen Fragen nach dem Verhältnis der beiden zueinander erledigt. Sie sieht diese Dichotomie selbst als den Ausdruck einer „Herrschaftsstrategie“, die, wie sie formuliert, das Ich dem anderen gegenüberstelle und, sobald diese Trennung einmal vollzogen sei, einen künstlichen Fragenkatalog über die Erkennbarkeit des anderen errichte. In Wirklichkeit sei alles, was wir erkennen können, auch als das erkennbar, was es wirklich ist; insofern, als alles Erkennbare schon bezeichnet sei, also durch die Sprache eine Bedeutung bekommen hat. Außerhalb oder unabhängig von diesem sprachlichen Rahmen, der durch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse vorgegeben ist, gebe es nichts. Ein Zirkelschluss also: Nachdem wir allererst die Realität konstituiert haben, sind wir in einem Zirkel gefangen, der uns nicht mehr die Möglichkeit gibt etwas „objektiv“ zu betrachten. Ideengeschichtlich gesehen könnte Butler zu den erkenntnistheoretischen SkeptizistInnen gezählt werden, die sich im erkenntnistheoretischen Begründungszirkel eingenistet haben, sich darin wohl fühlen und Probleme der Gültigkeit von Erkenntnis von diesem Standpunkt aus einfach eliminieren.

Politische Konsequenzen

Da es laut Butler keinen Raum außerhalb des herrschenden Diskurssystems gibt, jede Subjekt- und Identitätsbildung den Regeln desselben folgen muss, ist jede Handlungs“fähigkeit“ auf dasselbe beschränkt. Bedeutet das das Ende jeder Handlungsfreiheit und damit jeder das (Diskurs-) system überwindenden Praxis? Butler versucht die Kurve zu kratzen, indem sie betont, dass das Subjekt zwar von bestimmten Regeln erzeugt, von diesen aber nicht völlig determiniert werde. Deshalb, weil diese Erzeugung (sie spricht von „Bezeichnung“) „kein fundierender Akt, sondern eher ein regulierter Wiederholungsprozess“ sei, „der sich gerade durch die Produktion substantialisierter Effekte verschleiert und zugleich seine Regeln aufzwingt“. (S.213) Da in bestimmter Hinsicht jede Bezeichnung im Horizont des Wiederholungszwangs stehe, sei die „Handlungsmöglichkeit“ jedes Subjekts in der Möglichkeit anzusiedeln, eben diese Wiederholung zu variieren. In dieser Möglichkeit der Variation liege auch das Potential für subversives Handeln.

Vorausgesetzt mensch durchschaut also den Konstruktionsprozess der Identitäten durch das Erfolgsmodell „heterosexuelle Matrix“, kann mensch sich zwar nicht völlig vom herrschenden Identitäts- oder Normierungszwang ausklinken, aber es besteht die Möglichkeit, sich in dieses einzuschalten und an den Verfahren der Wiederholung in subversiver Art und Weise teilzunehmen. In Butlers Worten: „Wenn die Regeln, die die Bezeichnung anleiten, nicht nur einschränkend wirken, sondern die Behauptung alternativer Gebiete kultureller Intelligibilität ermöglichen, d.h. neue Möglichkeiten für die Geschlechtsidentität eröffnen, die den starren Codes der hierarchischen Binaritäten widersprechen, ist eine Subversion der Identität nur innerhalb der Verfahren repetitiver Bezeichnung möglich.“ (S.213) Und weiter: „Die Frage ist nicht: ob, sondern wie wiederholen – nämlich jene Geschlechter-Normen, die die Wiederholung selbst ermöglichen, wiederholen und durch eine radikale Vervielfältigung der Geschlechtsidentität verschieben.“ (S.217) Als konkrete Subversionsform nennt Butler die „Parodie“, bei der es darum geht durch parodistische Wiederholung der Geschlechtsidentität die Illusion der binären Geschlechtskategorien zu zerstören. „Cross-Dressing“ wäre etwa ein Beispiel für eine Parodie, bei dem versucht wird durch bewusste Verkehrung von Bekleidungscodes Geschlechteridentitäten zu karikieren.

Nachdem Butler von einer prinzipiellen Gleichheit aller (postmodernen) Subjekte ausgeht, hat ihr zufolge jedes Individuum ungeachtet seiner sozialen Lage das Potential subversiv zu handeln. Ungleiche Möglichkeiten zum Widerstand gegen das herrschende System ergeben sich nicht aus der sozialen Stellung in der Gesellschaft, sondern aus der Möglichkeit zur Erkenntnis: Im Zuge der Identitätsbildung kommt es trotz der enormen Wirkmächtigkeit des Diskursapparats immer wieder zur Ausbildung von unkonventionellen Identitäten. Diese entziehen sich dem normierenden Diskurs in gewisser Hinsicht und werden von demselben dadurch nicht anerkannt. Das herrschende System reagiert dadurch mit „verletzenden Anrufungen“ und marginalisiert diese innerhalb der Gesellschaft. In diesem Marginalisiert- und Ausgeschlossen-Sein sieht Butler für die Betroffenen das Potential, sich eine kritische Distanz zum herrschenden System zu erarbeiten.

„Angerufen durch einen verletzenden Namen erhalte ich ein soziales Dasein, und weil ich eine gewisse unumgängliche Verhaftung mit meinem Dasein habe, weil sich ein gewisser Narzissmus jeder existenzverleihenden Bedingungen bemächtigt, begrüße ich schließlich die mich verletzenden Bedingungen, denn sie konstituieren mich sozial.“ (Psyche der Macht – Das Subjekt der Unterwerfung, S. 99) Butler erkennt die Vereinnahmung von verletzenden Benennungen und deren Verwendung in einem positiven, selbst gewählten Kontext als eine wirksame Form des Widerstandes. In diesem Zusammenhang konstituierte sich auch die so genannte Queer-Bewegung, die den eigentlich als Schimpfwort benutzten Begriff „queer“ für sich umgedeutet und ihm so eine neue Bedeutung gegeben hat.

Anders als bei Butler, wo die spezifische Erkenntnissituation des Einzelnen, also dessen Bewusstsein, den Ausschlag für dessen Möglichkeit zur Subversion gibt, gewinnt das revolutionäre Subjekt in der marxistischen Tradition sein revolutionäres Potential aus strukturellen, materiellen Gründen; konkret aus der besonderen Stellung der ArbeiterInnenklasse im Produktionsprozess des Kapitalismus. Butler siedelt die Unterordnung des Einzelnen unter oder das Aufbegehren gegen das herrschende System auf einer rein bewusstseinsmäßigen Ebene an. Anstatt wie im Rahmen einer historisch-materialistischen Herangehensweise die sozial-strukturellen Bedingungen dieser oder jener „Bewusstseinsstände“ oder Sozialisationsmuster zu untersuchen, greift sie mitunter zu einer Psychologisierung derselben. Warum sich Menschen „freiwillig“ ausbeuten lassen, wird dann mit einer „masochistischen Leidenschaft“ begründet. Deren Ursprung sei dabei schon in der Kindheit angelegt, wo diese „ursprüngliche Leidenschaft in der Abhängigkeit“ entstehe und das Kind „anfällig für Unterordnung und Ausbeutung“ mache. (Psyche der Macht – Das Subjekt der Unterwerfung, S.12) Dass Unterordnung und Ausbeutung auch eine psychologische Dimension haben, ist freilich unbestritten, allerdings dürfen sie nicht darauf reduziert werden.

Diskurs, Produktionsverhältnisse…

Was bei Butler völlig offen bleibt, ist die Frage nach der Durchsetzung eines bestimmten „diskursiven Apparats“. Warum und unter welchen Bedingungen konnten sich bestimmte Strukturen wie beispielsweise die „heterosexuelle Matrix“ als Herrschaftsstrukturen etablieren und nicht irgendwelche anderen? Woher kommt diese viel zitierte „Macht“ und was ist ihre Grundlage? Dass sich Butler damit nicht auseinandersetzt, ist freilich kein Zufall, denn wie soll sie diese Frage auch beantworten können, ohne die objektiven Gesellschaftsverhältnisse und deren historische Entwicklung mit ein zu beziehen? Indem sie diese Ebene der konkreten Produktions- und Machtverhältnisse komplett ausblendet, das herrschende Diskurssystem in kein Verhältnis dazu stellt und eine völlig ahistorische Herangehensweise wählt, gewinnen ihre Begriffe von Macht und Diskurs einen allmächtig-abstrakten Charakter. Alles was ist, ist Ausdruck dieser, oder besser: einer Macht. Egal, ob es sich um soziale Beziehungen, Handlungen oder Denkweisen handeln, in allem und jedem wird diese ominöse Macht manifest. Obwohl sie der Macht keine den sozialen Handlungen vorgängige (auch noch so diffuse) Materialität zuspricht, gewinnt mensch doch den Eindruck, dass es bei ihr eine Art Mastermind gibt, das hinter allem steht, was passiert. Denn wenn die Handlungsfähigkeit der einzelnen Subjekte in der Regel keine autonome ist, wie sie meint, und sie diese Handlungsfähigkeit erst durch die Unterwerfung unter das herrschende Diskurssystem (also die herrschende Macht) bekommen, ist es diese Macht, die sie in der einen oder anderen Form handeln lässt.  

Laut Butler entsteht alles, was ist, erst im Diskurs, das heißt, gewinnt erst durch die Bezeichnung als etwas seine Materialität. Das bedeutet nun nicht, wie oft recht simpel kritisiert wird, dass nur durch sprachliche Bezeichnungen Dinge erschaffen werden. Da der Diskursbegriff bei Butler in diesem Zusammenhang sehr breit gefasst wird, gilt jede Handlung gewissermaßen als „bezeichnender Akt“. Es ist nun nicht ganz falsch festzustellen, dass gesellschaftliche Verhältnisse durch Handlungen geschaffen werden. Der Haken liegt woanders: bei Butlers spezifischer Sichtweise von gesellschaftlichen Verhältnissen, oder genau genommen, ihrer erkenntnistheoretischen Konzeption, die derselben vorgelagert ist. Sie differenziert nicht zwischen den elementaren Produktionsverhältnissen und diversen ideologischen Phänomenen, bei ihr ist alles mehr oder weniger Ausdruck der Wirkmächtigkeit eines bestimmten Diskurssystems (wie etwa der heterosexuellen Matrix). Es ist nicht nur nicht ihr Ziel systematische Ursachen für Unterdrückung und Ausbeutung auszumachen, es ist ihr, bedingt durch ihren erkenntnistheoretischen Skeptizismus, schon konzeptuell her nicht möglich. Die logische Folge: Alles löst sich diffus in einer Vielzahl von menschlichen Handlungen auf. Alle Probleme werden damit eigentlich ins Subjekt verlagert, was dann mitunter in so eigenwilligen Theorien wie der beschriebenen „ursprünglichen Leidenschaft in der Abhängigkeit“ mündet. In derselben Logik müsste dann der Zwang zur Kapitalakkumulation wahrscheinlich vulgär aus der Gier des Menschen erklärt werden, oder die zugrunde liegende Konkurrenz als etwas den Menschen angeborenes.  

In der marxistischen Theorie geht es demgegenüber darum, ausgehend von einer systematischen Analyse der Gesellschaftsverhältnisse die Handlungen der einzelnen Subjekte (Stichwort „Charaktermasken“) zu verstehen; was freilich nicht die völlige strukturelle Determination der Subjekte bedeutet. Diese Analyse passiert nicht von irgendeiner Vogelperspektive aus, von der aus absolute Wahrheiten erkannt und verkündet werden, sondern von einem bestimmten Standpunkt aus, bei dem auch die Voraussetzungen für die Möglichkeit von Theoriebildung überhaupt mitreflektiert werden. Dabei kommt mensch notgedrungen auf die besagte Ebene von Produktionsverhältnissen. Hier geht es um die spezifischen historisch-materiellen Produktions- und Reproduktionsbedingungen jeder menschlichen Existenz, die überhaupt erst die Voraussetzung für die Entstehung eines Diskurssystems sind. Auf dieser Ebene kommt es im Kapitalismus schon zu einer Spaltung der vermeintlich gleichen kulturellen Subjekte – in jene Klasse der BesitzerInnen von Produktionsmittel, der KapitalistInnen, und jene Klasse von „Subjekten“, die nichts besitzen außer ihre Arbeitskraft, die ArbeiterInnen. Die Freiheit dieser zweiten Gruppe, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und freie Arbeitsverträge einzugehen, stellt sich dabei als eine vermeintliche heraus. Denn wie sollen diese „Subjekte“ überleben, ohne ihre Arbeitskraft in den Dienst der ersten Gruppe, der KapitalistInnen, zu stellen?

Der im Kapitalismus existierende Anschein der Freiheit des Individuums rührt daher, dass sich sein entsprechendes Produktionssystem „hinter dem Rücken“ der Beteiligten durchsetzt. Die Gesellschafts- und Machtverhältnisse erscheinen als etwas Natürliches, als fremde Gewalt. Damit das auch so bleibt, reichen diese subtilen Ausbeutungsmechanismen allein allerdings nicht aus, dazu braucht es zusätzlich ein politisches Herrschafts- und Diskurssystem. Dieses funktioniert einerseits über offene Gewalt (die in Form von Polizei, Justiz und Militär im Staat monopolisiert wird) und andererseits über strukturelle Gewalt (die sich in allen Lebensbereichen, angefangen vom institutionellen Bereich wie dem Ausbildungssystem bis hin zur Sprache, manifestiert). 

… Klassen und Politik

Für Butler sind alle Menschen ungeachtet ihrer Klassenherkunft Subjekte mit gleichen Potentialen und einer Vielzahl von Bestimmungen beziehungsweise Eigenschaften. Dabei wird die volle Entfaltung dieser Potentiale durch die Einschränkungen des herrschenden Diskurssystems gehemmt, welches die Subjekte in bestimmte Identitätsmuster hineinpresst. Es kommt wahrscheinlich nicht von ungefähr, dass ihr Ideal von freier ungehemmter Subjekt- und Identitätsbildung  – ungeachtet des völlig unterschiedlichen theoretischen Backgrounds – an jenes des bürgerlichen Liberalismus erinnert. Ob es sich nun um die viel zitierte Geschlechterbinarität, um die Strukturierung der Gesellschaft in Klassen, in Nationen oder ethnische Gruppen handelt, für Butler sind das alles mehr oder weniger gleichwertige Strukturen, welche das „aktuelle“ herrschende System der Gesellschaft aufzwängt, oder wie sie es formulieren würde, in denen sich dasselbe manifestiert. Gleichwertig sind sie für Butler, wie erwähnt, deshalb, weil für sie nur die symbolische Ebene der Diskursverhältnisse existiert. In Bezug auf die von ihr bekämpfte Kategorie „Frau“ bedeutet das die Auflösung dieses Begriffes in eine Vielzahl von Identitäten. Die eigentlich gute Absicht der Differenzierung des Kampfes für Frauenbefreiung verkehrt sich dadurch in eine problematische Zugangsweise, da Butler durch ihre Methode nicht mehr im Stande ist, die einzelnen Differenzen zu untersuchen. Diese theoretische Grundlage führt unweigerlich zu einer Ignoranz gegenüber unterschiedlichen Klassen, Nationen oder ethnischen Gruppen.

In dieser Vielfalt und Beliebigkeit von unterschiedlichen Bestimmungen und Identitäten ist es auch denkbar schwer differenzierte Aussagen über die Entwicklung von Herrschaftsstrategien zu treffen. Fragen wie, wem welche Herrschaftsstrukturen wann wie nutzen, wie sie konkret realisiert oder nicht realisiert werden können oder wer besonders von Unterdrückung und Ausschlüssen betroffen ist, können ohne historische Analyse und ohne die Verbindung der verschiedenen Ebenen von Realität – daher auch der verschiedenen analytischen Ebenen von Ausbeutung und Unterdrückung – nicht beantwortet werden. So können selbst banale Dinge, wie etwa die Tatsache, dass Homosexualität in höheren sozialen Schichten eher akzeptiert wird und sich hier daher auch mehr Menschen zu outen trauen, im Butlerschen Rahmen nicht entsprechend analysiert werden.

Ohne die Dynamik und die Wirkungsmechanismen des herrschenden Systems zu verstehen, würde es auch für eine auf Systemüberwindung abzielende Politik dementsprechend schwierig werden. Aber darauf zielt Butler mit ihrer Vorstellung einer durch und durch liberalen Gesellschaft, in der nach Belieben Identitäten angenommen und wieder verworfen werden können, auch gar nicht ab. Ihr schwebt kein Bruch mit dem Kapitalismus vor. Eigentlich geht es ihr nur um eine Erweiterung des Anerkannten, um mehr Toleranz und Liberalität und weniger Ausschlüsse. Eine Veränderung der diese Ausschlüsse erst produzierenden Vergesellschaftungsformen ist für sie kein Thema.

Akademische Position

Butlers Blick aufs Diskurssystem als Ort der Subjekt- und Identitätsbildung ist legitim, nimmt mensch sie ernst, wirft das allerdings die Frage auf, von welchem Platz im Raum sie eine derartige Aussage überhaupt treffen kann. Warum sollte es gerade ihr möglich sein, sich aus dem allmächtigen Diskurssystem herauszulösen und als quasi Außenstehende einen derartig umfassenden Blick auf das ganze zu gewinnen?

Abgesehen von diesem erkenntnistheoretischen Dilemma hält es Butler nicht einmal für wichtig ihre eigenen Theorien zumindest in einen (theorie-) geschichtlichen Kontext zu stellen. Würde sie das tun, würde sie erkennen müssen, dass der Zeitpunkt der Entwicklung und die Popularität ihrer Theorien in Bezug zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung stehen. Nach dem Ende des Nachkriegsbooms Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre kam es in den 80er Jahren zu einer Offensive des Kapitals und massiven Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse, die zu einer deutlichen Schwächung derselben führte. Kämpferische soziale Massenbewegung, wie die StudentInnen- oder die Frauenbewegung, wurden ins System integriert und damit ihrer radikalen Spitzen beraubt. Ideologische Begleitmusik dieser Entwicklungen war die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft (es gebe keine Gesellschaft mehr, sondern nur mehr Individuen, O-Ton der neoliberalen britischen Premierministerin Margaret Thatcher), der postmoderne Abgesang auf alle „großen Erzählungen“, die beanspruchen reale Entwicklungen objektiv analysieren zu können.

Mit dem Niedergang der Frauenbewegung als kämpferische Massenbewegung begann die (mittlerweile hoch professionalisierte und spezialisierte) Theorieproduktion den politischen Kampf sukzessive zu überlagern und schließlich zu ersetzen. Lehrstühle wurden gegründet und Professorinnenstellen besetzt, wodurch „Gender-Studies“ zu einem fixen Bestandteil des Lehr- und Forschungsangebots vieler Universitäten wurden. Mit der Erkämpfung universitären Terrains einher ging der Rückzug der Frauen“bewegung“ auf dasselbe. Auf theoretischer Ebene spiegelten sich der nunmehrige Abstand und die Abgehobenheit von den Lebensbedingungen des Großteils der weiblichen Bevölkerung in einer Verschiebung des Fokus auf die kulturelle und symbolische Ebene wider. Das hatte natürlich auch seine Auswirkungen in Bezug auf die politischen Kampfmethoden. Cross-Dressing und Geschlechter-Parodien passen besser zu diesem institutionalisierten Feminismus als Demonstrationen, Besetzungen und Streiks. Zwar können diese neuen Widerstandsformen Geschlechterrollen und -normen aufzeigen und in Frage stellen, nicht aber die zentralen Machtverhältnisse antasten, welche für die meisten Frauen als die den Lebensalltag bestimmenden wahrgenommen werden. Es ist daher wenig erstaunlich, dass die Masse der Frauen, die in schlecht bezahlten Jobs mit „flexiblen“ Arbeitszeiten arbeiten, sexistischen Übergriffen und der Willkür ihrer Chefs ausgesetzt sind, mit diesen neuen kulturellen Subversionsakten wenig anzufangen wussten.

Was die „exklusive“ (akademisch-elitäre und ausschließende) Form von Butlers theoretischen Arbeiten betrifft, liegt der Schluss nahe, dass die fehlende Verbindung zu bzw. überhaupt die fehlende Existenz einer kämpferischen Frauenbewegung ihren Anteil daran trägt. Natürlich haftet jeder Theoriebildung in der kapitalistischen Gesellschaft – bedingt durch die Teilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit und der Hierarchisierung – immer etwas Ausschließendes an, aber Butlers extrem abgehobene und oftmals unnötig komplizierte Sprache zeigt die Anpassung an und die Orientierung auf ein akademisches Milieu, in dem solche Insider-Sprachcodes als besonders clever gelten und zur Anerkennung in der universitären Community gefragt sind.

Würde Butler einen weiteren Schritt in Richtung Selbstreflexion wagen, würde sie auch ihre eigene privilegierte Stellung im kapitalistischen System, als etablierte Universitätsprofessorin, erkennen müssen. Ein solcher Posten ist nicht nur kein geeigneter Hebel der Gesellschaftsveränderung, sondern oft genug – wenn die betreffende Person nicht in den Aufbau einer revolutionären Organisation eingebunden ist – eher ein Instrument zur Integration von kritischen StudentInnen in die Mechanismen des Systems. Für Etablierung und Aufstieg in der universitären Szene ist eine politische Perspektive, die auf den revolutionären Umsturz von Patriarchat und Kapitalismus ausgerichtet ist und die auf das Weitertreiben von Klassenkämpfen setzt, unvorteilhaft. Um wie viel harmloser ist da schon Butlers Perspektive der kulturellen Subversion, die sich nicht an die breite Masse der Frauen, sondern nur an eine kleine aufgeklärte, vorwiegend akademische Minderheit richtet. Diese Form des Protests kratzt nicht am Kern des herrschenden Systems. Tatsächlich gibt es sogar durchaus einen Spielraum für „Subversion“. Gerade Protest auf einer kulturellen Ebene kann ziemlich gut ins herrschende System integriert werden.

Butlers zentrale theoretische Konzeption betrachte ich als falsch. Das bedeutet nicht, dass nicht einzelne Aspekte, wie etwa die Infragestellung der Zweigeschlechtlichkeit, im Rahmen einer marxistischen Analyse aufgegriffen werden können – ohne freilich das dahinter stehende Theoriegebäude zu übernehmen. Was ihre politischen Antworten betrifft, sind diese für einen revolutionären Umsturz der Gesellschaft unbrauchbar. Zugute gehalten werden kann Butler allerdings, dass sie in konkreten politischen Fragen immer wieder richtige und gute Positionen einnimmt. So gehört sie zu den US-amerikanischen Intellektuellen mit jüdischem Hintergrund, die gegen die zionistische Aggressionspolitik des israelischen Staates Stellung nehmen. Beispielsweise hat Judith Butler den Gaza-Krieg 2008 nachdrücklich verurteilt.

 Lesetipp:

Sozialistischer und marxistischer Feminismus Sozialistischer und marxistischer Feminismus.

Positionsentwicklungen in den letzten 35 Jahren, Marxismus Nr. 27, Dezember 2005, 174 Seiten, ISBN 3-901831-23-1 Preis: 9 Euro / 14 CHF (plus Versand)