Die Wahlen zum EU-Parlament waren geprägt durch eine europaweit niedrige Wahlbeteiligung und ein Desaster für die Sozialdemokratie. Wir analysieren die Ergebnisse in Deutschland und Österreich sowie der EU insgesamt vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise
Die tatsächlichen Entscheidungen in der EU fallen durch Absprachen der Regierungen, durch die EU-Kommission und vor allem natürlich durch die Lobbytätigkeit der Konzerne und Banken. Das EU-Parlament hat wenig zu melden und die WählerInnen sind sich darüber auch im Klaren. Die Ergebnisse der EU-Wahlen sind deshalb in Hinblick auf die politischen Machtverhältnisse von geringer Bedeutung. Sie sind aber ein Barometer für politische Stimmungen und deshalb wert, analysiert zu werden.
Österreich
Das auffälligste Ergebnis in Österreich ist, dass es die EU-kritische „Bürgerliste“ von Hans-Peter Martin, massiv unterstützt von der „Krone“, der auflagenstärksten Boulevardzeitung, geschafft hat, ihren Stimmenanteil auf knapp 18% zu steigern. Martin konnte einen Gutteil der ProtestwählerInnen abräumen. Der FPÖ blieben nur die deklarierten RassistInnen (13%); laut den bürgerlichen „WahlmotivforscherInnen“ entschieden sich 88% der FPÖ-WählerInnen für diese Partei, weil sie „gegen Zuwanderung“ sind. Die Partei selbst hatte auch im Wahlkampf vor allem auf rassistische Themen gesetzt (wir berichteten ).
Die Liste Martin gewann – laut WählerInnenstromanalysen – vor allem frühere NichtwählerInnen und in geringerem Ausmaß auch bisherige SPÖ-UnterstützerInnen für sich. Martin selbst, der bei seinem ersten Antreten noch für die SPÖ ins EU-Parlament einzog und mit seinem Buch „Die Globalisierungsfalle“ 1998 erstmals für Aufsehen sorgte, ist politisch nicht rechts zu verorten (so stimmte er im EU-Parlament auch tendenziell eher im Interesse von MigrantInnen und „Die Globalisierungsfalle“ kann als linkssozialdemokratisch charakterisiert werden), doch seine Zusammenarbeit mit der Krone macht ihn zu einer politisch schwierigen Figur.
Die SPÖ erreicht nur mehr knapp 24% und damit 9,5% weniger als beim letzten Mal. Das ist das schlechteste Ergebnis, dass die SPÖ jemals bei einer bundesweiten Wahl einfuhr. Die Sozialdemokratie verlor – zumindest laut WählerInnenstromanalysen – kaum an die FPÖ, sondern vor allem an die NichtwählerInnen und in geringerem Ausmaß an die Liste Martin. Der SPÖ gelang es also – im Vergleich zur konservativen ÖVP, die nur wenig verlor – viel schlechter, ihre traditionellen WählerInnenschichten, vor allem in der ArbeiterInnenklasse, zu mobilisieren. Sichtbar wird dies etwa in sozialdemokratischen ArbeiterInnenhochburgen wie Wien-Simmering, wo die SPÖ gerade noch ein Drittel der Stimmen bekam (nachdem sie vor einigen Jahren dort noch bis zu 60% der Stimmen bekam). Dennoch kann das Ergebnis nicht 1:1 auf nationale Wahlen umgelegt werden, eben weil viele SP-WählerInnen augenscheinlich einfach zu Hause blieben.
Deutschland
Der absurdeste Aspekt der EU-Wahl in Deutschland ist sicherlich der Erfolg der FDP: Trotz Wirtschaftskrise konnten die Hardcore-Neoliberalen auf 11% zulegen. Stabil blieben CDU/CSU, die ihre WählerInnen halten und mobilisieren konnten. Auch in Deutschland sind, bei der EU-Wahl noch stärker als bei Bundestagswahlen, vor allem die oberen sozialen Schichten wählen gegangen – und davon haben auch die Grünen profitiert, die ebenfalls stabil blieben.
Auch in Deutschland sind vor allem große Teile der Lohnabhängigen nicht wählen gegangen. Für sie erscheint die EU als fremde, ohnehin nicht beeinflussbare Institution. In der Folge sind viele proletarische WählerInnen der SPD zu Hause geblieben, die von der Sozialdemokratie im Speziellen und „der Politik“ im Allgemeinen enttäuscht sind. In der Folge kam die SPD nur mehr auf knapp 21%. Die Linkspartei hat nur wenig dazu gewonnen, was nicht nur an der riesigen proletarischen Wahlenthaltung, sondern auch daran lag, dass sie von Vielen nicht als konsequente Alternative wahrgenommen wird, sondern als Partei, die ebenso im System mitspielt (siehe Regierungsbeteiligung in Berlin). Das wird auch daran deutlich, dass die Linke in Westdeutschland fast überall dazugewonnen hat – wenn auch nicht in erwartetem Ausmaß. Herausragend ist dabei das Saarland, also die Heimat von Oskar Lafontaine, wo die Linke sogar zweistellig wurde. Im Gegensatz dazu hat die Linke im Osten, wo sie als „Systempartei“ gesehen wird, fast überall verloren.
Gesamtbilanz
Die Entwicklung, dass die konservativen Parteien ihre WählerInnen besser mobilisieren konnten, traf auch EU-weit zu. Die EU ist insgesamt eben ein Projekt, in dem sich vor allem die oberen und mittleren sozialen Schichten wiederfinden. Auch die extreme Rechte profitierte: In vielen Ländern konnten rassistische, rechtsextreme oder faschistische Parteien teilweise stark zulegen (Niederlande, Ungarn, Großbritannien), Verluste, etwa in Belgien, werden dadurch leicht ausgeglichen. Selbst in Griechenland, das zuletzt eine Speerspitze von Klassenkämpfen und linken Protestbewegungen war, konnte sich die rechtsextreme LAOS auf gut 7% verstärken. Gegen den allgemeinen Trend ist in Griechenland aber die konservative Nea Dimokratia hinter die PASOK zurückgefallen.
Ansonsten aber haben die SozialdemokratInnen fast überall deutlich verloren: In Spanien hielt die PSOE immerhin noch 38,5%, in Frankreich aber erreichte die PS nur mehr 16,5%, die Labour Party in Großbritannien gar nur mehr etwas über 15%. Die aus dem zu SozialdemokratInnen mutierten Teil der ehemaligen StalinistInnen hervorgegangenen PD in Italien musste sich mit gut 26% zufrieden geben. Die sozialdemokratischen Parteien werden von den Lohnabhängigen zu Recht als (mit-) verantwortlich für die neoliberale, arbeiterInnenfeindliche Politik gesehen. Immer mehr Leuten ist völlig klar, dass die SPen auf die Krise keine Antworten im Interesse der ArbeiterInnenklasse im Sinn haben, sondern vielmehr Rettungspakete für Banken und Konzerne durchführen, deren Kosten auf die Lohnabhängigen abgewälzt werden. Für diese ganze Politik bekommt die europäische Sozialdemokratie jetzt die Rechnung präsentiert.
Mit der Krise sinkt der Spielraum für reformistische Politik. Eine weitere Zersetzung und ein weiterer Niedergang der sozialdemokratischen Parteien sind deshalb, auch wenn es länderweise oder temporär Gegentendenzen geben kann, sehr wahrscheinlich. Dass die meisten ehemaligen sozialdemokratischen WählerInnen diesmal einfach nicht wählen gingen, zeigt, dass sie bisher für sich keine politische Alternative gefunden haben. Obwohl kapitalismuskritische Stimmungen in vielen europäischen Ländern zugenommen haben und auch mehr Lohnabhängige offen sind für klassenkämpferische Vorschläge, haben bei den EU-Wahlen kaum radikalere linke Kräfte davon profitiert.
Linke Alternativen?
Die Kräfte links von Sozialdemokratie und Grünen konnten nicht substantiell zulegen, obwohl es einige gute Ergebnisse gab. In Portugal erzielte der Bloco de Esquerda („Linksblock“, ein Parteienbündnis aus verschiedenen aus verschiedenen aus trotzkistischer und stalinistischer Tradition kommenden Organisationen) mit knapp 11% ein außerordentlich gutes Ergebnis. Es hat damit seinen Stimmenanteil mehr als verdoppelt und liegt knapp vor der portugiesischen KP. In Irland wurde Joe Higgins, Spitzenkandidat der sich auf den Trotzkismus beziehenden Socialist Party ins EU-Parlament gewählt. Er erhielt im Wahlkreis Dublin mehr als 50.000 Erstpräferenzen, was mehr als 12% entspricht. Rechnet man das Ergebnis auf ganz Irland (4 Wahlkreise, in keinem anderen trat ein/e KandidatIn der SP an) hoch, entspricht dies 2,8%.
In Frankreich kam die reformistische Front de Gauche (Front der Linken, ein Wahlbündnis aus KPF und einer Linksabspaltung der SP) auf 6%. Die aus der sich auf dem Trotzkismus berufenden LCR hervorgegangene Neue Antikapitalistische Partei (NPA) um Olivier Besançenot blieb mit 4,9% deutlich hinter ihren Erwartungen zurück. Die aus trotzkistischer Tradition stammende Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf) erhielt 1,2%.
In Griechenland verloren sowohl die stalinistische KKE (8%) wie die radikalere SYRIZA (knapp 5%) Stimmen Vor allem die SYRIZA blieb dabei weit hinter früheren Umfragen zurück (wobei gleichzeitig erstmals die Grünen antraten und mit 3,5% ein relativ gutes Ergebnis erzielten). In Italien verpassten beide antretenden Linksparteien den Einzug ins EU-Parlament. Das Wahlbündnis aus Rifondazione Comunista (PRC) und der Partei der italienischen Kommunisten (PdCI) erreichte 3,4 Prozent der Stimmen. Die Partei »Sinistra e libertà« (Linke und Freiheit) um den aus der PRC ausgetretenen Präsidenten der süditalienischen Region Apulien, Niki Vendola, brachte es auf 3,1 Prozent.
Insgesamt waren die Ergebnisse der Linken also keineswegs berauschend. Doch ist es auch irreführend, von „der Linken“ zu sprechen. Denn ein Teil dieser politischen Strömungen sind reformistische Parteien, die stark auf das parlamentarische Spiel orientieren und kaum Dynamik entwickeln oder sogar – wie die deutsche Linke – auf kommunaler Ebene selbst aktiv an Sozialabbau-Maßnahmen beteiligt sind. Aber auch den radikaleren Kräften ist es nicht gelungen, relevante Teile der enttäuschten Lohnabhängigen anzusprechen. Das liegt einerseits am Stellenwert, den die meisten Lohnabhängigen den EU-Wahlen geben. Andererseits liegt es aber auch an der mangelnden Verankerung von radikaleren sozialistischen Kräften in der ArbeiterInnenklasse im Allgemeinen und den Betrieben im Besonderen.
Damit die sich entwickelnden antikapitalistischen Stimmungen nicht verpuffen, in Resignation umschlagen oder von einer rechtsextremen Anti-System-Rhetorik kanalisiert werden, ist der Aufbau einer klassenkämpferischen und revolutionären Linken notwendig. Das wird nicht in erster Linie über Wahlen und irgendein besonders geschicktes Wahlprojekt funktionieren, sondern nur über einen forcierten Aufbau von revolutionär-sozialistischen Strukturen und ihre geduldige Verankerung in den Betrieben.