Komintern, Teil 2: Der Aufstieg

 

Die Periode vom Gründungskongress im März 1919 bis zum II. Weltkongress eineinhalb Jahre später (November/Dezember 1920) war charakterisiert vom Bürger/innen/- und Interventionskrieg gegen die junge Sowjetmacht und von einem Andauern der revolutionären Nachkriegskrise. Während es der Sowjetmacht gelang, der Intervention standzuhalten und nachkapitalistische Strukturen zu konsolidieren, erfüllten sich die Erwartungen auf einen unmittelbaren Vormarsch der Weltrevolution nicht: Die bayrische Räterepublik wurde bereits nach wenigen Wochen überrannt, die ungarische Räterepublik musste nach 133 Tagen am 1. August 1919 kapitulieren. In Italien, am Balkan oder in Spanien spitzte sich die revolutionäre Krise aber weiter zu, und auch in den Kolonien und Halbkolonien Asiens, vor allem in Indien, China, dem Iran oder Afghanistan, war unter dem Einfluss der Oktoberrevolution ein Aufschwung der Massenbewegung zu verzeichnen. Die Niederlagen in Bayern und Ungarn bedeuteten also noch nicht das Ende der revolutionären Periode, auch wenn sie Anzeichen dafür waren, dass sich die Hoffnungen auf einen geradlinigen, raschen Vormarsch der Weltrevolution nicht erfüllen würden.

Die Komintern hatte in den Jahren 1919/1920 – in der Periode zwischen den ersten beiden Weltkongressen – mit der imperialistischen Umzingelung der Sowjetmacht zu kämpfen. Ein volles Funktionieren des Exekutivkomitees wurde verhindert, im wesentlichen wurde seine Arbeit durch Aufrufe, Resolutionen oder Anleitungen für die neu entstehenden kommunistischen Parteien wirksam. Um das durch die Belagerung unvermeidliche Kommunikationsmanko zu kompensieren, wurden in Westeuropa Regionalbüros eingerichtet. Das war auch ein Indiz dafür, dass sich die Bolschewiki sehr wohl zweier existierender Gefahren bewusst waren, und dass sie auch einiges leisteten, um hier korrigierend einzugreifen: Erstens der Gefahr, dass die russische Revolution ohne einen Impuls seitens des weiter entwickelten Westens degenerieren müsse. Und zweitens, dass sich durch die Unerfahrenheit vieler Parteiführungen, durch die Dominanz der Bolschewiki in der Komintern und durch die Abhängigkeit der oft nur schwachen kommunistischen Parteien von Moskau der demokratische Zentralismus in der III. Internationale nicht richtig entwickeln könnte. Die Ausdehnung der Revolution auf die weiter entwickelten Länder des Westens wurde korrekt als Lebensfrage für die Existenz und Weiterentwicklung der Sowjetmacht in Russland analysiert.

Zusätzlich ergaben sich Schwierigkeiten mit ultralinken Strömungen, die sich zwar begeistert zur russischen Revolution hingezogen fühlten, jedoch oft nur wenig taktisches Verständnis aufwiesen und keine Bereitschaft zeigten, auf die Arbeiter/innen/massen zuzugehen, die in vielen Ländern jenen Parteien treu geblieben waren, die 1914 so schmählich Verrat geübt hatten. Diese ultralinken Strömungen waren im Bewusstsein der unmittelbar bevorstehenden Ausdehnung der Oktoberrevolution auf den Westen politisch sozialisiert worden und konnten nicht verstehen, dass nun etwa von Sinowjew im September 1919 in einem Rundschreiben die Teilnahme an Wahlen zu bürgerlichen Parlamenten gefordert wurde. Lenin intervenierte in diese Diskussion mit seinem bekannten Werk „Der ‚linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus“, in der er trotz der Perspektive des schnellen Sieges der Weltrevolution für ein taktisches Herangehen an die großen Massenorganisationen des Proletariats warb.

Hintergrund dieser Diskussionen war die Uneinheitlichkeit der Parteien und Bewegungen, die sich der III. Internationale zugehörig fühlten. Oft waren es unerfahrene Minderheitsströmungen der ehemaligen sozialdemokratischen Parteien, die sich als Opposition gegen Opportunismus und Burgfriedenspolitik im Weltkrieg herauskristallisiert hatten und sich nun als Kommunistische Parteien konstituierten. In einigen Ländern bildeten den Kern syndikalistische Tendenzen, in anderen gab es mehrere rivalisierende Kleingruppen, die für sich beanspruchten, die Komintern in ihrem Land zu repräsentieren. In fast allen sozialdemokratischen Parteien entwickelten sich zudem Strömungen, die den Beitritt zur III. Internationale verlangten. In Italien hingegen hatte die alte sozialistische Partei nur wenige Tage nach dem Komintern-Gründungskongress ihren Beitritt zur neuen Internationale erklärt, ohne dass ein systematischer Kampf gegen die starken rechten und zentristischen Strömungen, die innerhalb der Partei verblieben waren, geführt worden wäre.

Im Zentrum des II. Weltkongresses stand daher auch nicht zufällig die Frage, wie sich die III. Internationale zwar einerseits den proletarischen Massen öffnen, wie sie aber andererseits die Eingliederung nicht wirklich revolutionärer Strömungen verhindern könne. Nicht zu Unrecht herrschte die Befürchtung, dass aufgrund des großen Prestiges, das die Oktoberrevolution bis weit in die sozialdemokratischen Parteien hinein und über diese hinaus genoss, sich auch viele dezidiert reformistische oder zentristische Parteiführer/innen der Internationale anschlossen, auch wenn sie gar nicht vorhatten, konsequent mit ihren politischen Ansichten zu brechen. Beispiele dafür, dass auch in großen sozialdemokratischen Parteien mit langer Tradition Überlegungen des Anschlusses an die Komintern angestellt wurden, waren nicht nur die italienische Sozialistische Partei, sondern auch die deutsche USPD oder die französische SFIO.

Die große Diskussion des Kongresses wurde daher auch nicht zufällig um die Bedingungen für den Eintritt in die Komintern geführt. Als Mauer gegen das Eindringen von opportunistischen Strömungen wurden „21 Bedingungen“ formuliert. Die „Reformisten aller Schattierungen“ seien, so gleich die erste Bedingung, „systematisch und unbarmherzig zu brandmarken“. Für „Reformisten und Zentrumsleute“ war von nun an der Beitritt zur Komintern verwehrt. Und um sich gegen jene zu wehren, die den Bruch mit der Sozialdemokratie immer weiter hinauszuzögern gedachten, forderte die Kommunistische Internationale „unbedingt und ultimativ“ die Durchführung des Bruchs in kürzester Frist.

Mit dem Zweiten Weltkongress gelang der neuen Internationale ein entscheidender Schritt in Richtung Vereinheitlichung. Die Bolschewiki und ihre Mitstreiter/innen hatten den notwendigen Bruch mit Politik und Praxis der II. Internationale vollzogen. Aber die Komintern hatte 1919 natürlich nicht voraussetzungslos und beim Nullpunkt begonnen. Sie konnte sich auf die Linke in der Vorkriegssozialdemokratie stützen, übernahm damit aber auch deren Schwächen, die erst in einem langen, geduldigen Prozess überwunden werden konnten. Die größte Schwäche der Linken war deren uneinheitliche politische Physiognomie gewesen, das historische Versäumnis, sich zu einer international vernetzten politischen Strömung zu konstituieren. Kombiniert mit dem Fehlen anerkannter und politisch erfahrener Führer/innen außerhalb Russlands, musste dies zu starken zentrifugalen Tendenzen führen, die nur durch das große Prestige der Oktoberrevolution und der bolschewistischen Führung um Lenin und Trotzki kompensiert werden konnte.

Es gehört zu den großen Leistungen der frühen Komintern, auf eine Vielzahl von taktischen und strategischen Fragen, mit denen die kommunistischen Parteien konfrontiert waren und die in dieser Konsequenz oft zum ersten Mal gestellt wurden, im Allgemeinen richtige Antworten, die auch heute noch zum Arsenal der revolutionären Linken gehören, entwickelt zu haben. Zu diesen Antworten gehört zweifellos die in der nächsten Periode entwickelte Politik der Einheitsfront.

III. Weltkongress

Bereits ein halbes Jahr nach dem II. fand der III. Weltkongress der Komintern (Juni/Juli 1921) statt. Allerdings hatte sich in diesem Halbjahr die Situation stark verändert. Die Stimmung des Kongresses war von einer gespannten Atmosphäre geprägt, die revolutionären Hoffnungen, die die Anfangsjahre charakterisiert hatten, hatten sich nicht erfüllt. Die Folgen waren Niederlagen, erste Austritte, Enttäuschungen und Unsicherheit über den Weg, der nun eingeschlagen werden sollte. Die revolutionären Strömungen hatten sich nicht zu der erwarteten Weltrevolution verdichtet – die Hauptaufgabe des dritten wie auch des vierten Weltkongresses (November/Dezember 1922) bestand darin, auf die veränderte Situation Antworten zu finden, die die Aufrechterhaltung einer revolutionären Perspektive verbanden mit der gebotenen taktische Flexibilität.

Eine besondere Aufgabe kam am III. Weltkongress Leo Trotzki als Referent zum Tagesordnungspunkt „Die wirtschaftliche Weltkrise und die neuen Aufgaben der Kommunistischen Internationale“ zu. Trotzki stand mit seiner wichtigsten Rede, die er vor dem höchsten Gremium der Komintern gehalten haben dürfte, vor einem schwierigen Problem: Viele Genoss/inn/en, die in den Zeiten der revolutionären Nachkriegskrise in der Erwartung einer unmittelbaren Ausdehnung der Oktoberrevolution auf ihre Länder gewonnen worden waren, mussten auf eine Umorientierung vorbereitet werden. Sie mussten auf harte Kämpfe und eine längere Perspektive eingeschworen werden, ohne dass ihr revolutionärer Elan gebrochen würde.

Die Aufgabe der Kommunistischen Parteien bestand für Trotzki jetzt darin, die durch die Offensive des Kapitals geschaffene Situation zu erfassen und in den tagtäglichen Kämpfen aktiv einzugreifen, um auf Grund dieser Kämpfe die Majorität der Arbeiter/innen/klasse zu erobern. „Wir haben noch nicht die Mehrheit der Arbeiterklasse der gesamten Welt für uns. Wir haben aber einen viel größeren Teil, als wir vor ein oder zwei Jahren hatten. Nachdem wir diese Situation auch taktisch analysieren, was eine wichtige Aufgabe des Kongresses ist, müssen wir uns sagen: der Kampf wird vielleicht langwierig sein, wird nicht so fieberhaft, wie es wünschenswert wäre, vorwärts schreiten, der Kampf wird höchst schwierig und opferreich sein.“ Die Aufgabe bleibe nach wie vor, die Revolution vorzubereiten, jetzt gehe es darum, die Majorität der Arbeiter/innen/klasse zu erobern.

 „Momentan müssen die Kommunisten in der Wirtschaftsdefensive auf dem Boden der Krise sich aufs aktivste an allen Gewerkschaften, allen Streiks und allen Aktionen beteiligen, müssen in ihrer Arbeit den inneren Zusammenhang untereinander bewahren und immer als der entschlossene und disziplinierte Flügel der Arbeiterklasse auftreten.“

Die „Linke“ des Kongresses, die sich nach wie vor einer „Offensive“ verpflichtet fühlte, war nicht in der Lage, eine alternative Orientierung zu formulieren und wurde im Laufe des Kongresses immer weiter zurückgedrängt. Die realistische Sicht Trotzkis hatte den Sieg davon getragen. Auch in der Diskussion über die Taktik, die von Karl Radek eingeleitet wurde, war diese nüchterne Einschätzung spürbar.

Hintergrund für diese Debatten war der Rückschlag der Revolution in Deutschland, das zurecht als zentral für die Durchbrechung der Isolation der russischen Revolution eingeschätzt wurde. Im mitteldeutschen Aufstand vom März 1921 (der „Märzaktion“) war eine von der KPD und anderen linken Kräften unterstützte bewaffnete Arbeiter/innen/revolte in der Industrieregion um Halle und Leuna ausgebrochen. Der von der KPD ausgerufene Generalstreik scheiterte und wurde nur in wenigen Gebieten befolgt. Der schlecht koordinierte und isoliert gebliebene Aufstand endete in einer Niederlage und führte zu heftigen internen Auseinandersetzungen in der KPD.

In dieser Diskussion schaltete sich am Weltkongress auch Lenin ein, der unmissverständlich und klar die „Theorie der revolutionären Offensive“ zurückwies: „Wer in Europa, wo fast alle Proletarier organisiert sind, nicht versteht, dass wir die Mehrheit der Arbeiterklasse erobern müssen, der ist verloren für die kommunistische Bewegung, der wird nie etwas dazulernen, wenn er in drei Jahren nach der großen Revolution das noch nicht gelernt hat.“

Letztlich endeten die Diskussionen mit einem Rückzug der „Linken“, die der nüchtern-realistischen Einschätzung der Kräfteverhältnisse und dem Appell an die geduldige Aufbauarbeit nichts entgegensetzen konnte, und einem Bankrott der „Offensivtheorie“. Einstimmig wurde die Resolution zur Taktik angenommen, die deutsche „Märzaktion“ wurde verurteilt. Mit dieser Debatte, die zu den wichtigsten innerhalb der Komintern gehörte, wurde der Weg zur Formulierung der Einheitsfronttaktik frei.

Die historische Aufgabe des III. Weltkongresses war es, unter den Bedingungen einer abebbenden revolutionären Welle und eines sich stabilisierenden Kapitalismus in (West-) Europa eine neue Taktik zu erarbeiten. Jetzt ging es – die reale Politik betrachtet – nicht mehr um die sofortige Bildung von Räten und den unmittelbaren Kampf um die Macht, sondern darum, die Massen für die Komintern und ihre politischen Konzeptionen zu gewinnen. Damit war der III. Weltkongress mit seiner Umorientierung auf eine neue Periode zweifellos ein entscheidender Meilenstein für die Komintern und der für die theoretische Weiterentwicklung wahrscheinlich entscheidende Kongress.

Die kommenden 15 Monate, die den III. und den IV. Weltkongress trennten, unterstrichen die Richtigkeit der Analyse. Die Beschlüsse des III. Weltkongresses waren im Allgemeinen von den kommunistischen Parteien gut aufgenommen worden. Der III. Kongress war von einer Offensive des Kapitals, insbesondere des europäischen, ausgegangen – einer Offensive, die sich während des Jahres 1922 sogar noch beschleunigte und vertiefte. Die relative Stabilisierung des Kapitalismus machte weitere Fortschritte. In Italien hatte die Arbeiter/innen/bewegung im Herbst 1922, nur wenige Wochen vor dem neuen Weltkongress, mit der Machtergreifung des Faschismus eine schwere Niederlage erlitten. Die Hoffnungen der Komintern ruhten jetzt auf Deutschland, dem Land mit der außerhalb Russlands stärksten Kommunistischen Partei. Die endgültige Niederlage der deutschen Revolution im Jahr 1923 – schon nach dem IV. Weltkongress – markierte auch das Ende der revolutionären Nachkriegskrise; eine unmittelbare Machtergreifung in Europa entschwand damit dem unmittelbaren Blickfeld.

Andererseits hatte sich die Sowjetmacht – trotz internationaler Isolierung und der entsetzlichen Dürre von Sommer 1921, die zu einer katastrophalen Hungersnot geführt hatte – gehalten. Die militärische Aggression gegen Sowjetrussland und die Sowjetukraine war zum Stillstand gekommen, der Imperialismus hatte seine Hoffnungen auf einen raschen Zusammenbruch der Räteherrschaft aufgeben und sich auf einen längeren Kampf einstellen müssen. Ja mehr noch: In Sibirien konnte Sowjetrussland seinen Einfluss stabilisieren, die asiatischen Randgebiete des Zarenreiches konnten gewonnen werden. Nach dem II. Weltkongress hatten sich auch im Fernen Osten kommunistische Parteien gebildet, Einfluss und Prestige der Sowjetmacht stiegen in den asiatischen Kolonien und Halbkolonien merklich an. Die Erwartungen, die die Komintern an Deutschland knüpfte, das Weiterbestehen der Rätemacht und die Fortschritte in Asien schienen Indizien dafür, dass die Weltrevolution nicht begraben werden musste, sondern dass die revolutionäre Entwicklung nur einen weniger geradlinigen, weniger einfachen, weniger raschen Gang genommen hatte, als nach der Oktoberrevolution 1917 und nach der Gründung der Komintern 1919 noch erhofft werden konnte.

In dieser Situation einer relativen Stabilisierung verstärkte sich unter den Arbeiter/inne/n das Bedürfnis nach einer gemeinsamen Antwort auf die kapitalistische Offensive. Die proletarische Bewegung hatte sich infolge des Verrats und des Zusammenbruchs der II. Internationale praktisch in allen Ländern in einen reformistischen Flügel und eine revolutionäre Strömung gespalten, mit einem diffusen zentristischen Substrat zwischen diesen beiden Haupttendenzen. Diese Spaltung betraf nicht nur die Parteien, sondern auch die Gewerkschaften und die anderen proletarischen Massenorganisationen.

IV. Kongress: Einheitsfront und Arbeiter/innen/regierung

Auf diese Situation zielte die Taktik der Einheitsfront ab, mit der – auf der Basis der existierenden Spaltung der Arbeiter/innen/bewegung – dem Drang nach Einheit entgegengekommen und eine gemeinsame Kampffront gegen die Offensive des Kapitals initiiert werden sollte. Am 1. Januar 1922 wandten sich die Exekutivkomitees der Komintern und der Roten Gewerkschaftsinternationale, dem Gewerkschaftsverband der III. Internationale, in einem gemeinsamen Appell „Für die proletarische Einheitsfront“ an die Proletarier aller Länder.

„Die Kommunistische Internationale“, so der Text, „hat die Arbeiter, die auf dem Boden der Diktatur des Proletariats, der Sowjets stehen, immer aufgefordert, sich zu selbständigen Parteien zu sammeln; sie nimmt kein Wort zurück von dem, was sie zur Begründung der Bildung selbständiger Kommunistischer Parteien gesagt hat, sie ist überzeugt, dass jeder weitere Tag größere wachsende Massen überzeugen wird, wie recht sie hatte in all ihrem Tun und Handeln. Aber ungeachtet alles dessen, was uns trennt,“ forderte die Komintern nun „alle Arbeiter, ob Kommunisten, ob Sozialdemokraten, ob Syndikalisten, sogar ob christliche oder liberale Gewerkschaftler“ dazu auf, keine weitere Minderung der Löhne zuzulassen. Nun gelte es, „sich zu vereinigen, zu einer gemeinsamen Front gegen die Offensive der Unternehmer“. Die Kommunistische Internationale und die Kommunistischen Parteien wollten daher „geduldig und brüderlich zusammen mit allen anderen Proletariern marschieren, selbst wenn sie auf dem Boden der kapitalistischen Demokratie stehen“.

In den Thesen über die Taktik wurde am IV. Weltkongress diese Methode der Einheitsfront angenommen und mit der Losung einer Arbeiter/innen/regierung, die bereit ist, den Kampf gegen die Macht der Kapitalist/inn/en aufzunehmen, auf die Regierungsebene gehoben. Am Weltkongress wurden die Möglichkeiten für die Anwendung der Einheitsfront und die Grenzen dieser Taktik klar umrissen:

„Während die Kommunisten sich den Prinzipien der Aktion fügen, sollen sie dabei unbedingt das Recht und die Möglichkeit bewahren, nicht nur vor und nach der Aktion, sondern wenn nötig, auch während der Aktion ihre Meinung über die Politik aller Organisationen der Arbeiterklasse ohne Ausnahme zu äußern. Ein Aufgeben dieser Bedingung ist unter keinen Umständen zulässig.“

Letztlich war die von der Komintern formulierte Politik der proletarischen Einheitsfront nichts anderes als die theoretische Verallgemeinerung der Politik der Bolschewiki im Jahre 1917. Prinzip dieser Einheitsfronttaktik war es, alle Arbeitenden und deren Organisationen zum Kampf für ihre unmittelbaren Interessen zu vereinen. Auf dem IV. Weltkongress wurde die Einheitsfront folgendermaßen definiert.

„Die Taktik der Einheitsfront ist das Angebot des gemeinsamen Kampfes der Kommunisten mit allen Arbeitern, die anderen Parteien oder Gruppen angehören, und mit allen parteilosen Arbeitern zwecks Verteidigung der elementarsten Lebensinteressen der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie. Jeder Kampf um die kleinste Tagesforderung bildet eine Quelle revolutionärer Schulung, denn die Erfahrungen des Kampfes werden die Werktätigen von der Unvermeidlichkeit der Revolution und der Bedeutung des Kommunismus überzeugen.“

Damit war natürlich noch ein weiteres Element verbunden: Mit dem Angebot eines gemeinsamen Kampfes sollte die Bereitschaft der reformistischen Arbeiter/innen/führer einem Test in der Praxis unterzogen werden, wie weit sie auch wirklich bereit waren, einen gemeinsamen Kampf um die unmittelbaren Interessen der Arbeitenden zu führen. Sollten sie dazu bereit sein, mussten gemeinsame Kampferfahrungen das Ergebnis sein. Sollten sie dazu jedoch nicht bereit sein – was nach aller Erfahrung nicht unwahrscheinlich war – dann konnten auch reformistisch beeinflusste Arbeiter/innen in der Praxis sehen, wer die proletarische Einheit wirklich unterminieren und dass der Reformismus dazu neigen würde, einen gemeinsamen Kampf zu sabotieren.

Ergänzt wurde die Einheitsfronttaktik wie gesagt durch die Losung der „Arbeiterregierung“. Koalitionen mit bürgerlichen Parteien wurden strikt abgelehnt, statt dessen propagierte die Komintern die Bildung einer Koalition aller Arbeiter/innen/parteien, wobei deren elementarste Aufgaben darin bestehen sollten, „das Proletariat zu bewaffnen, die bürgerlichen, konterrevolutionären Organisationen zu entwaffnen, die Kontrolle der Produktion einzuführen, die Hauptlast der Steuern auf die Schultern der Reichen abzuwälzen und den Widerstand der konterrevolutionären Bourgeoisie zu brechen“.

So angewandt, entsprach die Taktik der Einheitsfront zweifellos den Bedürfnissen der Arbeitenden nach einer einheitlichen Abwehr gegen die Offensive des Kapitals, ohne sich auch nur einen Augenblick den in der Arbeiter/innen/bewegung verankerten opportunistischen Strömungen anzupassen und unterzuordnen. Und sie wies eine über den Kapitalismus hinausreichende Perspektive auf, die von Trotzki und der Vierten Internationale im Übergangsprogramm weiterentwickelt und systematisiert werden sollte.

Mit der Diskussion über die Einheitsfront bildete der IV. Weltkongress die Fortsetzung der Debatten des III. Weltkongresses. Mit der Annahme der Thesen zur Taktik wurde dem theoretischen Fundament der Kommunistischen Internationale ein entscheidender Baustein hinzugefügt. Sicher gab es Unklarheiten und Unsicherheiten bis in die Kreise der Komintern-Führung hinein, so etwa die Position Sinowjews, der in der Arbeiter/innen/regierung weniger eine Verlängerung der Einheitsfront auf die Regierungsebene sah, sondern eher ein populäres Synonym für die Diktatur des Proletariats, oder die in der Praxis nicht unproblematische Übernahme der Methodik der Einheitsfront auf die Ebene der Zusammenarbeit mit bürgerlichen anti-imperialistischen Befreiungsbewegungen. Die Kommunistische Internationale hielt zwar an einer entscheidenden Forderung fest: dass die Klassenunabhängigkeit des Proletariats und der proletarischen Organisationen auch in deren Keimform erhalten bleiben müsse. Doch sie konnte sich auch am IV. Weltkongress zu keiner konsistenten Theorie der kolonialen Revolution durchringen. Zu bedenken ist auch, dass die russische Revolution von 1917 zwar Ausdruck und Ergebnis der permanenten Revolution war, dass eine bewusste Verallgemeinerung dieser Methodik jedoch unterblieb. Das sollte sich in der chinesischen Revolution nur wenig später noch bitter rächen. [zur Frage der Positionierung der Komintern zur Kolonialrevolution und zum Anti-imperialistischen Kampf siehe unsere „Thesen zum Anti-Imperialismus“

Die Einheitsfront jedenfalls bleibt ein Meilenstein in der methodisch-theoretischen Entwicklung der III. Internationale und gehört zu den großen Errungenschaften der proletarisch-revolutionären Programmatik.

Bis 1922 war – trotz aller Rückschläge und Enttäuschungen (wie etwa der am IV. Weltkongress diskutierte Sieg des Faschismus in Italien oder die jüngste Krise der französischen Partei) – die Entwicklung der Komintern eine aufsteigende gewesen. Es war ihr gelungen, innerhalb von nur wenigen Jahren aus anfänglich schwachen Zirkeln und Gruppierungen in einer Reihe von Ländern schlagkräftige Organisationen herauszubilden. Die III. Internationale hatte es auch geschafft, sich eine international anerkannte Struktur zu geben und als revolutionäre Weltpartei zu agieren, die die traditionellen Arbeiter/innen/organisationen im Kampf um die Herzen und Hirne der Arbeitenden herausfordern konnte. Und sie hatte es drittens auch verstanden, die politisch-programmatischen Herausforderungen zu meistern und als Antwort auf die neuen Entwicklungen wie die zu Ende gehende revolutionäre Nachkriegskrise mit der Einheitsfrontpolitik und der Losung der Arbeiterregierung eine im Wesentlichen korrekte Linie zu entwickeln. Nicht zuletzt mit dieser Politik war es der III. Internationale gelungen, 1921/1922 bereits mehrere Millionen Mitglieder in etwa 60 Sektionen zu organisieren.

Die „Wendung ins Unbekannte“

Allerdings sollten in den kommenden Monaten zwei miteinander kombinierte Entwicklungen eintreten, die in ihrer Konsequenz ein Ende dieser aufsteigenden Kurve bedeuteten: Erstens die Entwicklung in Sowjetrussland. Der IV. Weltkongress von November/Dezember 1922 war nicht zufällig auf den fünften Jahrestag der Oktoberrevolution gelegt worden. Die russische Revolution und das aus dieser hervorgegangene proletarische Regime erfreuten sich noch immer überragender politischer Autorität. Doch die internationale Isolierung in einem rückständigen Land, noch verschärft durch einen blutigen Bürger/innen/krieg und die internationale Blockade, mussten unweigerlich ihre Spuren hinterlassen. Ein halbes Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution waren die Anzeichen einer Bürokratisierung bereits deutlich sichtbar geworden. Die Konsequenz war eine 1923 ausbrechende Führungskrise vor dem Hintergrund des Machtvakuums um den bereits schwer kranken Lenin.

Zum zweiten aber hatten Lenin und Trotzki ihre internationalen Hoffnungen in ein Voranschreiten der deutschen Revolution gelegt. Mit einer siegreichen Revolution im industrialisierten Deutschland hätte der gordische Knoten aus Unterentwicklung, Isolierung und bürokratischen Deformationen durchschlagen werden können, so die Überlegung. Mit der ruhmlosen Niederlage der deutschen Revolution in der zweiten Jahreshälfte von 1923 musste diese Hoffnung aufgegeben werden, durch einen revolutionären Anstoß von außen die russische Revolution mit neuem Leben zu erfüllen und der Weltrevolution einen neuen Impuls zu geben.

Die Konsequenz der beiden Entwicklungen war eine sich zuspitzende Führungskrise in Sowjetrussland und ein 1923/1924 offen ausbrechender Machtkampf. Das war eine äußerst beunruhigende Entwicklung und bedeutete – um mit dem Linksoppositionellen Victor Serge zu sprechen – für die Komintern eine „Wendung ins Unbekannte“, die mit dem Sieg der Politik des Aufbaus des Sozialismus in einem Land und der Niederlage der proletarischen Internationalist/inn/en um Leo Trotzki enden sollte.

Gemeinsam mit Lenin und Trotzki hatte die Führung der III. Internationale rund um die ersten vier Weltkongresse in den jungen Parteien der Komintern und in Sowjetrussland selber einen beständigen Kampf geführt – für den Schutz und die Weiterentwicklung der Sowjetmacht, und auf internationaler Ebene gegen zentristische Strömungen, die zum Bruch mit den alten sozialdemokratischen Methoden nicht bereit und/oder nicht fähig waren, aber auch gegen die „ultralinken“ Tendenzen, die die revolutionäre Phrase an die Stelle einer realistischen Politik setzte, die die Massen an die Revolution heranführen sollte. Die Periode der ersten vier Weltkongresse der Kommunistischen Internationale gehören daher zum Erbe jeder revolutionär-marxistischen Strömung, ihre Dokumente und ihre Erfahrungen verdienen es, genau studiert und auch neun Jahrzehnte später für die heutige Politik nutzbar gemacht zu werden.

In einem dritten Teil wollen wir die Geschichte des Niedergangs der III. Internationale, ihre Stalinisierung, den Übergang auf die Positionen der Volksfront und ihre schließliche Auflösung im Jahr 1943 verfolgen.

 

Weitere Teile des Artikels:

 

 

90 Jahre Komintern. Teil 1: Die Gründung

90 Jahre Komintern. Teil 3: Niedergang und Auflösung