Zur innenpolitischen Lage in Österreich

Die neue Bundesregierung in Österreich bringt, um es mit Karl Marx zu sagen, die „ganze, alte Scheisse“ wieder von vorn. Ein Blick hinter die innenpolitischen Kulissen.

Die wirtschaftliche Situation in Österreich ist schwierig. Jeden Tag werden neue Kündigungen bekannt, jeden Tag erklärt ein weiteres Unternehmen Kurzarbeit. Vor allem betroffen ist dabei die Automobilindustrie. In den Autoclustern in Graz und Oberösterreich arbeiten insgesamt über 100.000 KollegInnen, viele Unternehmen haben bereits Kündigungen durchgeführt, so hat etwa Magna in Graz 900 Beschäftigte gefeuert. Andere schicken KollegInnen in Kurzarbeit, beispielsweise wurde am 28.11. die Kurzarbeit für 2000 KollegInnen im Werk des LKW-Herstellers MAN in Steyr bekannt gegeben. Auch General Motors in Wien-Aspern arbeitet „kurz“ und hat KollegInnen entlassen.

Dazu kommen die großen Kündigungsankündigungen bzw. Kündigungen bei Telekom, Post und ORF sowie bei anderen Betrieben, etwa 450 KollegInnen beim Leiterplattenhersteller AT&S des ehemaligen SPÖ-Finanzministers Androsch. Siemens PSE will 500 KollegInnen kündigen, perspektivisch könnten hier aber bis zu 3000 KollegInnen entlassen werden.

Wirtschaftliche Entwicklung

Das Wirtschaftswachstum geht den Bach hinunter, im Gegenzug steigt die Arbeitslosigkeit. Das WIFO (Wirtschaftsforschungsinstitut) gibt zwei Prognosen ab, eine „günstige“ und eine „ungünstige“. Im günstigen Fall wird es 2009 ein Wirtschaftswachstum von 0,9 % geben, 2010 1,3 %, 2011 2,1 %, 2012 2,5 % und 2013 2,7 %. Im ungünstigen Fall allerdings werden es 2009 minus 0,2 %, 2010 0,5 %, 2011 1,5 %, 2012 2 % und 2013 2,3 %. Sogar im günstigen Fall steigt die Arbeitslosigkeit von 233.000 im Jahr 2009 bis zum Höhepunkt 267.000 im Jahr 2011. Im ungünstigen Fall sind es 2009 bereits 242.000 Arbeitslose, diese Zahlen steigen bis zum Höhepunkt von 316.000 im Jahr 2012, also ein Drittel mehr als 2008. Und inwiefern WIFO und andere Institute nicht ohnehin halbamtliche Beschönigungsverlautbarungen verkünden, sei dahingestellt.

Die Auswirkungen auf die so genannte Realwirtschaft sind jedenfalls enorm. Neben den Entlassungen ist vor allem der Bankensektor getroffen. Die „Kommunalkredit“ und die „Constantia Privatbank“, die Bank der Superreichen, wurden aufgefangen, die „Erste“ nahm das Bankenpaket der alten Regierung in Anspruch. Interessant, dass die VertreterInnen des Neoliberalismus über Jahre erklärten, dass die Kassen leer seien. Pensionen wurden deshalb gekürzt, im Gesundheitssystem wurde gespart und in manchen Schulen gibt es nicht einmal genug Klopapier. Wenn aber der Bankensektor bedroht ist, werden locker mal 100 Milliarden Euro aus dem Ärmel geschüttelt.

Das weckt natürlich Begehrlichkeiten: auch der Versicherungssektor und die Bauwirtschaft verlangen schon nach ihren eigenen „Rettungspaketen“. Jenen, die immer nach „weniger Staat“ schrieen, kann es jetzt auf einmal gar nicht genug Staat sein. Die Stimmung der Bevölkerung ist aber eine andere: In einer Umfrage im Auftrag der bürgerlichen „Presse“ wurde gefragt: „Soll der Staat grundsätzlich Banken, die sich verspekuliert haben, retten?“ Nur 28 % antworteten mit Ja, hingegen 48 % mit Nein.

SPÖ-Valium und die Kälber der ÖVP

Diese wirtschaftliche Situation hatte natürlich enormen Einfluss auf die politische Lage. In der ÖVP wollte sich vor allem der Wirtschaftsflügel in dieser Situation nicht auf das Experiment einer äußerst fragilen Koalition mit der FPÖ und dem (nach dem Haider-Salto-Überschlag) führerlosen BZÖ einlassen. Eine große Koalition unter Einbindung und Ruhigstellung der Sozialdemokratie und somit der Gewerkschaften war da weit attraktiver. Die große Koalition war also auf Schiene, trotz der Querschüsse der Schüssel-Fraktion rund um Ex-Kanzler Schüssel selbst, Ex-Wirtschaftsminister Bartenstein (übrigens der einzige deutschnationale Burschenschafter in führenden ÖVP-Kreisen) und Ex-Außenministerin Plassnik.

Das Regierungsprogramm selbst ist differenziert zu betrachten. Es enthält keine Generalangriffe auf alle Sektoren der ArbeiterInnenklasse, doch einige harte Angriffe auf einzelne Bereiche, vor allem den öffentlichen Dienst. Die KleinstverdienerInnen profitieren kaum, hingegen werden der ominöse Mittelstand und die Familien tatsächlich steuerlich entlastet (was der ÖVP politisch und ideologisch natürlich entgegenkommt). Allerdings ist bei steuerlichen Entlastungen natürlich immer die Frage, wie das fehlende Steueraufkommen eingeholt wird. Bei den Unternehmen wird es nicht sein, denn dort gibt es massive Geschenke. Gleichzeitig wird das Goldene Kalb der ÖVP, das Nulldefizit, in veränderter Form wieder bemüht, es findet sich als „Ausgeglichener Haushalt über den Konjunkturzyklus“ im Regierungsprogramm.

Öffentlicher Dienst unter Beschuss

Angriffe wird es offenbar vor allem im öffentlichen Dienst geben. Das Regierungsprogramm spricht von „Strukturreformen im Bereich der öffentlichen Verwaltung“. Konkret genannt sind auch ÖBB und Postbus.

Für die KollegInnen der ÖBB soll es offenbar dick kommen: „Eine Fortsetzung der ÖBB-Reform ist unerlässlich: Dabei gilt es insbesondere die Struktur weiter zu entwickeln und verstärkte Anstrengungen zur Senkung der Kosten zu unternehmen. (…) Bis Ende 2009 wird im Rahmen der strategischen Ausrichtung der Teilkonzerne auch die Zuordnung der Bereiche Traktion, Verschub und Technische Services kostenoptimal und wettbewerbsneutral gelöst. (…) Die Weiterentwicklung des Dienstrechts unter Einbindung der Sozialpartner soll es einerseits dem Konzern erleichtern, eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Personalpolitik umzusetzen …“.

Darin verbirgt sich starker Tobak: eine (noch dazu sehr schnelle) Kostensenkung sowie Dienstrechtsveränderungen bedeuten massive Angriffe. Für den Postbus und seine sehr kämpferische Belegschaft kündigt das Regierungsprogramm an: „Ungeachtet dessen, dass das Unternehmen Postbus die Produktionskosten senken muss …“.

Übrigens gibt es in anderen Teilen des Programms sehr wohl große Rücksichtnahmen auf Belegschaften: „Die Altersstruktur der Polizeibediensten, der stark steigende Frauenanteil, genauso wie Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie erfordern zusätzlichen Personaleinsatz, um mittelfristig den Personalbedarf abdecken zu können.“ Tja, wer das Kapital mit der Waffe in der Hand schützt, auf den muss eben geachtet werden. Wer hingegen die Bevölkerung zur Arbeit bringt, der kann ruhig unter Druck geraten.

In einigen anderen Bereichen gibt es ebenfalls Angriffe: Eine „Valorisierung“ der Gebühren – also die Erhöhung von Massensteuern, die Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen für Arbeitslose, verstärkte Sanktionsmöglichkeiten für „renitente“ Zivildiener, eine Verstärkung des Repressionsapparates (Online-Durchsuchung, Spezialparagraphen für „Hassprediger“, …) sowie eine Anpassung der Zuwanderung nach den Interessen der Wirtschaft („Rot-Weiss-Rot“-Card).

Wirtschaftlich setzt das Programm neben steuerlichen Entlastungen zu guten Teilen auf eine Rückkehr zu den alten „austrokeynesianistischen“ Maßnahmen der 70er Jahre, also dem Versuch, durch öffentliche Wirtschafts-Belebungsprogramme (vor allem der Bauwirtschaft) die Wirtschaft anzukurbeln. Da, wo das Straßenbauprogramme betrifft, sind diese Maßnahmen allerdings ökologisch höchst fragwürdig. Gleichzeitig werden Nebenbahnlinien weiter munter eingestellt.

Opposition?!

Von Grün, Orange und Blau ist in dieser Zeit wenig zu hören. Die Grünen sind scheinbar mit Streitigkeiten im Zuge der Nachfolge von Parteichef Alexander Van der Bellen beschäftigt. Das BZÖ ist führungs- und orientierungslos, perspektivisch wird es wohl eine Absetzbewegung hin zur FPÖ geben und das BZÖ wird auf ein Kärntner Regionalphänomen reduziert werden. Der Raum für zwei rechtsextreme Parteien ist kaum gegeben und die FPÖ scheint weit authentischer. Die FPÖ selbst wird wohl weiter zulegen können, denn die Lethargie der Gewerkschaften und die Schwäche der Linken sind der Dünger, auf dem der Rechtsextremismus gedeiht.

Interessant ist die Situation innerhalb der Sozialdemokratie. Offenbar sind Gewerkschaften und „Linke“ glücklich mit der partiellen Renaissance der SozialpartnerInnenschaft. Der ÖGB darf wieder mitreden, Sozialminister wurde ÖGB-Boss Hundstorfer, Gesundheitsminister der Metaller-Gewerkschafter Alois Stöger. Stögers Wahl ist strategisch besonders klug, denn er kommt aus dem als eher kritisch bekannten oberösterreichischen ÖGB, gleichzeitig wird es ihm als Gewerkschafter leichter fallen, seinen KollegInnen die (von der alten Regierung) geplanten Angriffe auf die Selbstverwaltung der Krankenkassen, also auf die Mitspracherechte der ArbeiternehmerInnenvertretung, zu verkaufen. Die Verwaltung des Elends durch die Gewerkschaften ist garantiert.

In der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter gab es in den meisten Teilgewerkschaften starke Stimmen für Rot-Blau, diese sind nun verstummt. Die Jugendorganisationen SJ, VSSTÖ, JG, AKS und Co blieben schweigsam, der Ruf nach einer Minderheitsregierung, der 2006 noch die Parole der SJ war, blieb diesmal aus. Im Gegensatz dazu schrieb Wolfgang Moitzi, Verbandsvorsitzender der SJÖ einen auf der SJÖ-Homepage veröffentlichten „offenen Brief“ zum Regierungsprogramm, der in seiner Beliebigkeit und sanften Kritik einzig ausdrückt, dass sich die SJ vom Anspruch der „linken SJ“ ab dem Jahr 2000 und somit von jeder systemverändernden Perspektive nun endgültig verabschiedet hat.

Ausblick

Für die nächste Periode wird in der Bevölkerung wohl zu Beginn die Zustimmung zu Faymann/Pröll zunehmen, auch, weil sie einem Harmoniebedürfnis nachkommen und Faymann sich als sehr geschickter Stratege erweist, der auch beim aktuellen Konflikt um die Post die Gewerkschaft gut eingebunden und beruhigt hat (und dabei „vergisst“ zu erwähnen, dass die SPÖ bei all den EU-Liberalisierungs-Beschlüssen, die schließlich 2011 zur Vollliberalisierung der Post führen, immer vorn dabei war). Die Frage ist allerdings, wie sich die Situation entwickelt, wenn die Arbeitslosenzahlen immer mehr steigern und immer mehr Menschen die Auswirkungen der Finanzkrise immer drastischer spüren.

Die radikale Linke ist derzeit viel zu schwach, um von diesem Vakuum qualitativ zu profitieren. Doch gleichzeitig ist gerade die wirtschaftliche und soziale Lage ein ureigenes Thema der Linken. Und auch das Vertrauen in das System sinkt. Anfang November fragte die „Presse“ in einer Umfrage: „Wer ist ihrer Meinung nach Schuld an der Finanzkrise der Banken?“. 23% nannten FinanzmanagerInnen, jeweils 13% die Politik bzw. die Banken, nur 1 % machte die objektive Wirtschaftslage verantwortlich. Aber immerhin 4 % meinten, der Kapitalismus als Ganzes sei verantwortlich. Wir sollten also daran, gehen, ihn zu bekämpfen, damit „die ganze, alte Scheisse“ einmal ein Ende hat!