Terrorismus am Bespiel RAF

In den Kinos läuft der Action-mäßig gemachte "Baader-Meinhof-Komplex". Den Machern des Films geht es erklärtermaßen um die "Zerstörung des Mythos RAF". Wir zeigen hier eine marxistische Einschätzung und Bilanz der RAF-Strategie.

Terrorismus als Methode im Klassenkampf ?

Eine Analyse am Beispiel der RAF 

von Katja Weinmann (Arbeitsgruppe Marxismus),  September 1999

Kann „Terrorismus“ als revolutionäres Konzept erfolgreich sein? Ist die Anwendung von Gewalt durch eine kleine Gruppe eine wirksame Methode, um eine Revolution zu entfachen? Ist solcher „individueller Terror“ einer Revolution zumindest förderlich? Die Antwort sei vorweggenommen: Terrorismus als revolutionäres Konzept ist zum Scheitern verurteilt – muß scheitern, vor allem weil es mit terroristischen Aktionen nicht gelingt, die Massen zu mobilisieren.

Nochmals zum besseren Verständnis: Es geht mir hier einzig um „linken“ Terror, um Terrorismus von konspirativen Gruppen, die den Sturz des Kapitalismus und die Schaffung einer gerechten, freien, lebenswerten Gesellschaft zum Ziel haben – und die zu diesem Zweck auf bewaffnete Aktionen gegen Vertreter und Einrichtungen des System setzen. Es sei jedoch erwähnt, daß Terror im weiteren Sinne ein alltägliches Phänomen ist. So etwa der Terror in den Produktionsverhältnissen, dem wir alle permanent ausgesetzt sind: etwa krankmachende Arbeitsbedingungen, Disziplinierungsmaßnahmen, das Schüren von Angst, Haß und Neid, Rassismus und Sexismus et cetera. Dazu kommt, daß große Teile der Bevölkerung im kapitalistischen Weltsystem gezwungen werden, in Armut und Elend zu leben. Mit Zins und Zineszins im Anschlag werden von den Banken und Großkonzernen in den imperialistischen Ländern und ihren Staaten täglich zehntausende Menschen ums Leben gebracht. Ebenso ist Staatsterror tägliche Realität, etwa der Terror, den diktatorische und teilweise auch bürgerlich-demokratische Staaten ausüben: Einschüchterung durch Staatsorgane im Alltag, Spitzelwesen, Polizeieinsätze gegen Streiks und Demonstrationen, permanente Kontrolle auch der Privatsphäre, durch eine systemtreue Justiz legitimierte Verhaftungen, Sippenhaftung, Verurteilungen ohne Prozesse und so weiter – oder der Terror, den die USA und andere imperialistische Länder gegen Vietnam und seine Bevölkerung und unzählige andere Länder ausgeübt haben und ausüben. Terrorismus sieht sich als eine Methode des politischen Kampfes, und jede ernsthafte Terrorismusinterpretation muß auf politischer Argumentation aufbauen. Hier die (erstaunlich brauchbare) Definition aus Meyers Enzyklopädischem Lexikon:

„Terrorismus ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche Formen der politisch motivierten Gewal­tanwendung v.a. durch revolutionäre oder extremistische Gruppen. Dabei ist die Ab­grenzung der Bezeichnun­gen Terrorist, Freiheitskämpfer, Widerstandskämpfer, Guerillero unscharf und problematisch. Der Wortgebrauch hängt meist vom Standpunkt des Betrachters ab. Die Terrorakte zielen darauf, das herrschende System durch di­rekte Aktionen zu überwinden, Vertreter des Systems aus ihren Herrschaftspositionen zu ent­fernen, sie gegebenenfalls zu töten. Die Hilflosigkeit des Regierungs- und Polizeiapparates gegenüber dem Terrorismus soll bloßge­stellt werden, Loyalität von den Herrschenden abgezogen und ein politisches Klima hergestellt werden, das einer Revolution gün­stig ist“.

Was hier angesprochen wird, sei nochmals hervorgehoben: Die Konkretisierung, was wann legitime Gewalt beziehungsweise Terrorismus ist, vollzieht sich machtpolitisch. In der Praxis wird Terrorismus definiert durch die Staatlich­keit, gegen die er ankämpft. Der Staat und die Klasse, deren Herrschaft er absichert, beanspruchen für sich ein Definitions- und Sanktions­mono­pol. Der Staat behält es sich vor, radikale oppositionelle „staatsfeindliche“ Tätigkeiten mit dem (im herkömmlichen Sprach­ge­brauch äußerst negativ besetzten) Begriff „Terrorismus“ zu belegen. Das ist schon daran ersichtlich, daß jeder Staat gewaltsamen Widerstand im eigenen Land als Terrorismus verfolgt, gewaltsamen Widerstand in einem anderen Land mit einer ihm mißliebigen Staatsform jedoch als Freiheitskampf akzeptiert und möglicherweise auch finanziell und/oder mit Waffen unterstützt.

Geschichte des Terrorismus

Die Frage, ob es rechtens sei, einen politischen Gegner zu töten, ist seit Menschengedenken von Philosophen und Theologen erörtert worden. Die Denker der Antike bis hin ins 16. und 17. Jahrhundert beschäftigten sich vor allem mit dem ethischen Problem, ob Töten stets Mord sei, und ob das Töten eines Tyrannen nicht gerechtfertigt oder sogar sittlich sei. In De Offi­ciis bemerkt Cicero, daß Tyrannen stets eines gewaltsamen To­des sterben und daß die Römer ge­wöhnlich denen applau­dieren, die sie getötet hätten. Im Grundtenor wird Tyrannenmord befürwortet. Die großen Helden der Literatur sind die Tyrannenmörder, und niemand würde einen Tyrannenmörder, wie Wilhelm Tell oder Schillers Damon, mit dem negativ besetzten Wort „Terrorist“ in Zusammenhang bringen, geschweige denn, ihn als solchen bezeichnen.

Mit dem Komplexerwerden der gesellschaftlichen Machtver­hältnisse im aus-gehenden 18. bzw. be­ginnenden 19. Jahrhundert wird auch das Problem des politischen Mordes vielschichtiger. Jetzt geht es darum, eine Gesellschaftsstruktur zu ändern, die von verschie­denen „anonymen“ Mächten und Institutionen ge­prägt wird. Insofern wurde die Terrorismus-Frage zu dieser Zeit auch viel praktischer gestellt, nämlich ob politischer Mord und politische Ge­walt auch politisch wirksam und effektiv sind oder nicht.

Das Phänomen Terrorismus ist so alt wie die Existenz von staatlichen Strukturen, gleich welcher Art. Schon in der Antike und im Mittelalter waren terroristische Gruppen aktiv. So verübten etwa die Sicarier im Altertum Anschläge gegen die Repräsentanten der römischen Herrschaft in Palästina; im Mittelalter waren die Assassinen (frz. Assasin: Mörder) bekannt als Gruppe, die mißliebige islamische Herrscher tötete. Im Zeitalter des Absolutismus waren politische Attentate auf führende Staatsmänner relativ selten. Religiöse Konflikte hatten an Bedeutung verloren, unter den Monarchen bestand über alle Interessenskonflikte hinweg eine relativ starke Solidarität, und die Untertanen waren in einem solchen Maße diszipliniert und bevormundet, daß sie offensichtlich nicht an Widerstand dachten.

Diese Situation änderte sich erst nach der französischen Revolution und nach dem Aufkommen des Nationalismus in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Jetzt wurde Terrorismus zu einem bedeutenden und breitdiskutierten Phänomen. Tyrannische und autoritäre Herrschaftsstrukturen, unerträgliche gesellschaftliche Verhältnisse, Elend, Armut, Not, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Ausbeutung hatte es schon immer gegeben. Jetzt aber setzten die ersten Anfänge einer Industrialisierung ein, der Frühkapitalismus bildete sich heraus und mit ihm erste Ansätzen einer sich formierenden Arbeiterbewegung und ein Klima größerer öffentlicher gesell­schaftspolitischer Auseinan­dersetzungen. Begünstigt durch den Fortschritt der Technik, der eine bessere und schnellere öffent­liche Kommunikation möglich machte, wurden nun politische Strategien im Allgemeinen und Terrorismus im Besonderen verstärkt diskutiert. Jetzt entstand eine Doktrin des Terrorismus beziehungsweise „systematischer Terrorismus“, wie wir ihn heute verstehen, als Einsatz von Gewalttaten, um Aufmerksamkeit für politische Ziele zu erregen und diese zu fördern.

Die radikalsten Verfechter der terroristischen Methode waren deutsche und russische Revolutionäre, die Narodniki und die Anarchisten, unter ihnen vor allem Karl Heinzen, Johann Most, Nicolai Morosow, Nicolai Romanenko und Pjotr Kropotkin. Die Narodnaja Volja (zu deutsch: Volkswille) begann den bewaffneten Kampf gegen den Zarismus im Jänner 1878. Das Programm des Zentralkomitees der Narodnaja Volja zählt als Hauptaufgaben im terroristischen Kampf die Ermordung der gefährlichsten Regie­rungsmitglieder auf, sowie die Bestrafung jener, die durch besondere Unterdrückungsmaßnahmen und Gehässigkeiten aufgefallen waren, und weiters die Abwehr von Spitzeln innerhalb der Partei. Man war der Ansicht, wenn 10 oder 15 Stützen des Systems auf einmal fielen, werde die Regierung in Panik aus­brechen und die Handlungsfähigkeit verlieren. Gleichzeitig würden die Massen aufwachen. Die großen Theoretiker der ter­roristischen Methode, Morosow und Romanenko, kamen aus den Reihen der Narodnaja Volja.

Terrorismus war, Morosow zufolge, eine völlig neue Art zu kämpfen, sehr viel kosteneffektiver als der, wie er sagt, altmodische revo­lutionäre Kampf der Massen. Obwohl man nur über unbedeu­tende Kräfte verfüge, sei es möglich, alle Anstregungen auf den Umsturz zu konzentrieren: „Terrorismus ersetzt durch eine Se­rie individueller politischer Morde, die immer ihr Ziel treffen, die umfassenden revolutionären Bewegungen, in denen sich die Mit­glieder oft gegeneinander stellen, weil sie Meinungsverschieden­heiten haben, während der Feind aus seinem geschützten Versteck dem zusieht und dann die Bewegung zerstört. Terrorismus bestraft nur diejenigen, die wirklich für die Grausamkeiten verantwort­lich sind. Deshalb ist die terroristische Revolution die einzig richtige Form der Revolution“ (Morosow 1880). Morosows Landsmann und politischer Weggefährte Nicolai Roma­nenko kommt auf eine ähnliche Conclusio: „Terrorismus ist nicht nur wirkungsvoll, sondern auch humanitär, fordert er doch viel weniger Opfer als der Kampf der Massen. Die Schläge des Terrorismus richten sich gegen die Haupt-schuldigen“ (Romanenko 1880).

Im September 1879 verurteilte das revolutionäre Volksgericht der Narodnaja Volja Zar Alexander II. zum Tode. Nach mehreren erfolglosen Attentaten wurde der Zar schließlich im März 1881 ermordet. Dies war der Höhepunkt des Terrorismus in Rußland und auch sein Ende für mehr als zwei Jahrzehnte. Die meisten Mitglieder der Partei waren zu diesem Zeitpunkt schon verhaftet, die verbliebenen wurden nach der Ermordung des Zaren in einer großangelegten Verhaftungswelle festgenommen, viele von ihnen hingerichtet.

Die zweite große Welle des Terrorismus in Rußland ging von der 1900 gegründeten Sozialrevolutionären Partei aus und begann 1902 mit dem Attentat auf den russischen Innen­minister. Den Sozialrevolutionären gehörten auch einige Über-lebende der Narodnaja Volja an, und sie vertraten die Ansicht, daß Terrorismus im politischen Kampf notwendig und unvermeidlich sei. Er solle nicht den Kampf der Massen ersetzen, hieß es, sondern werde im Gegen­teil die Revolutionierung der Massen vorantreiben und ver­stärken und ihren Kampf unterstützen und ergänzen. Systematischer Terrorismus sollte mit anderen Formen des offenen Kampfes koordiniert werden, etwa mit Arbeitsstreiks, Bauernaufständen und Demonstrationen. Die Partei hatte eine terroristische Kampforganisation, die einen autonomen Status inne­hatte.

Auch die Anarchisten, vor allem in Rußland und in Deutschland, sahen im Terrorismus ein geeignetes Mittel im politischen Kampf. Der russischen Anarchist Pjotr Aleksejewitsch Kropotkin prägte die Phrase von der „einzigen Tat, die in wenigen Tagen mehr Propaganda schafft als tausend Flugblätter“. Auf dem Anarchistenkongreß von 1881 in London stand die Konzeption von der „Propaganda der Tat“ ganz im Vordergrund der Diskussion. 10 Jahre später war die Ära der „Propaganda der Tat“ mit zahlreichen Sprengstoff­anschlägen und Bombenattentaten in Europa zu Ende. Kro­potkin selbst bekannte sich zu seinem Irrtum: „Ein System, das sich in Jahrhunderten ent­wickelt hat, zerstört man nicht mit ein paar Kilo Sprengstoff“ (Kropotkin, um 1890).

In Deutschland war wohl der Anarchist Johann Most der bekannteste und einflußreichste Agitator einer terroristischen Revolution. In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts gab Most im Exil in den USA die anarchistische Zeitschrift Die Freiheit heraus, in der er das Konzept der „Propaganda der Tat“ entwickelte: „Die rechte Tat zur rechten Zeit am rechten Ort kann mehr nützen, als eine noch so große Propaganda von 1.000 Agitatoren“. Für die Arbeiterbewegung hatte die „Propaganda der Tat“ verheerende Folgen. Die Machthaber reagierten mit Repression, die Medien mit Schuldzuweisungen, Verunglimpfungen und Hysterie. Die Arbeiterbewegung war auf diese Konfrontation nicht vorbereitet und wurde völlig in die Defensive gedrängt.

Völlig anders war die Situation Jahrzehnte später im Europa der Zwischenkriegszeit:  Vor allem in den 20er Jahren war die Arbeiterbewegung in Europa stark und gut organisiert. Sie war aktiv und konnte hunderttausende Menschen auf die Straße bringen. Sie war kämpferisch, verfolgte – zumindest teilweise – ein revolutionäres Konzept und verfügte mit der erfolgreichen russischen Oktoberrevolution über einen Orientierungspunkt. Diese Arbeiterbewegung war nicht nur für die Arbeiterklasse, sondern auch für viele Intellektuelle attraktiv – denn sie hatte (im Gegensatz zu den terroristischen Modellen der Vergangenheit) eine vielversprechende und realistische systemüberwindende Perspektive anzubieten. In dieser Situation hatten terroristische Aktionen keinen Platz und offensichtlich keinen Sinn.

Die revolutionäre Arbeiterbewegung lehnte den Terror durch kleine isolierte Gruppen, den individuellen Terror, auch traditionell ab – und zwar nicht aus moralischen Gründen: Das kapitalistische Ausbeutungs- und Unterdrückungssystem wird immer wieder Widerstand und Gegengewalt seiner Opfer hervorbringen. Bei der Gewalt der Unterdrückten handelt es sich für Marxisten um eine unvermeidbare Notwehrmaßnahme, bei revolutionärer Gewalt um eine Notwendigkeit, um der kapitalistischen Barbarei ein Ende zu setzen: „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.“ (Karl Marx und Friedrich Engels 1848/48 in der Schlußpassage des Manifests der Kommunistischen Partei)

Mit revolutionärer Gewalt, und auch mit der Motivation von linken Terroristen, konnten marxistische Revolutionäre kein prinzipielles Problem haben. „Unsere ganze Leidenschaft, alle unsere Sympathien sind mit den sich selbst opfernden Rächern, auch wenn sie unfähig waren, den richtigen Weg zu finden“ (Leo Trotzki). Entscheidend ist eben genau diese politische Bewertung von terroristischen Strategien – und da kamen die Marxisten zu einem eindeutig negativen Befund.

Karl Marx und Friedrich Engels waren grundsätzlich gegen Terrorismus. Sie sahen als Motor einer Revolution einzig die Massenbewegung, die organisierte Arbeiterschaft, nicht den Terror einzelner. In ihren Schriften betonten sie immer wieder die Notwendigkeit, die Massen für die Ideen der Revolution zu gewinnen, in der Partei zu organisieren und einen organisierten, koordinierten, geplanten Kampf zu führen, weil allein die (organisierten) Massen die Macht zum Umsturz hätten.

Im selben Sinne lehnte auch W. I. Lenin individuellen Terror als Mittel, eine Revolution zu entfachen, ab. In seiner Schrift Anarchismus und Sozialismus wirft Lenin den Anarchisten vor, daß sie die Ursache der Ausbeutung und in Folge die Bedeutung der Organisierung des Klassenkampfes der Arbeiterklasse nicht verstünden. Außerdem würde das Organisieren von terroristischen Aktionen durch die Partei „unsere spärlichen organi­satorischen Kräfte von ihrer schwierigen und in keiner Weise beendeten Auf­gabe abhalten, eine revolutionäre Arbeiterpartei zu organisieren“. Lenin räumt einzig ein, daß Terrorismus in Ergänzung zum Kampf der Massen, als Taktik in bestimmten Stadien des Kampfes, unter bestimmten Bedingungen nutzbringend, d.h. einer Revolution förderlich, angewendet werden könne. Entscheidend sei jedoch die Stimmung der Massen und der Arbeiterbewegung, so Lenin, in jeder anderen Situation sei Terrorismus völlig unsinnig. Und er macht sich über die Wirkung terroristische Attentate lustig: „Wie erstaunlich klug das alles ist: Das Leben eines Revolutionärs wird geopfert, um Rache an dem Schuft Sipyagin zu üben, der dann durch den Schuft Plehve er­setzt wird – das ist großartige Arbeit“. Lenins Conclusio: „Anarchismus ist eine Ideologie der Verzweiflung von individualistischen Kleinbürgern“.

Leo Trotzki argumentierte in dieselbe Richtung – und er geht (trotz zugestandener emotionaler Sympathien, siehe oben) noch einen Schritt weiter: Er hält terroristische Aktionen nicht nur für wirkungslos, sondern sogar für kontraproduktiv und einer Revolution abträglich. Trotzki führt aus, daß individueller Terror in Wahrheit die Revolution gefährdet, weil er die Massen vom Kampf abhält:

„Der Grund, warum Terrorismus von uns nicht befürwortet wird, liegt darin, daß er das politische Bewußtsein der Massen verringert, daß diese sich an ihren Mangel an Stärke gewöhnen und nur noch ihre Hoffnung auf einen großen Rächer und Befreier set­zen, der eines Tages kommen mag und ihre Arbeit für sie tut. (…) Aber der Rauch der Explo­sion verweht, die Panik legt sich, der Nachfolger des ermordeten Ministers ist da; das Leben geht in den eingefahrenen Geleisen wieder weiter. Die Räder der ka­pitalistischen Ausbeutung drehen sich weiter wie zuvor, nur die Polizeiunterdrückung wird brutaler und schamloser, und anstelle von ausgebrannten Hoffnungen und künstlich er­weckten Erwartungen haben wir Desillusionierung und Apa­thie“ (Trotzki).

Trozki hat erkannt, was auch heute Gültigkeit hat: Bei terroristischen Aktionen bleiben die Massen, bleibt die Arbeiterbewegung passiv, selbst wenn sie mit den Zielen der Terroristen symphatisieren sollte. Terrorismus trägt nicht zur Politisierung der Massen bei, er kann die Menschen nicht aktivieren, die Massen nicht mobilisieren. Terrorismus ist ein Stellvertreterkampf, der scheitern muß. Der Staat reagiert auf die Anschläge mit Repressionen und Aufrüstung – in den Augen von (großen) Teilen der Bevölkerung noch dazu gerechtfertigterweise. Die Terroristen, die Linke und die gesamte Arbeiterbewegung werden in die Defensive gedrängt. Gestärkt werden ausschließlich die Kräfte der Reaktion (was auch der Grund ist, weshalb Staaten immer wieder „linke“ Terroraktionen inszeniert haben).

Eine andere Position nahmen die Bolschewiki (inklusive Lenin und Trotzki) in der speziellen Situation des russischen Bürgerkriegs ein: Nachdem sie sich anfänglich gegenüber der bewaffneten Konterrevolution der Großgrundbesitzer und des imperialistischen Finanzkapitals sehr großzügig erwiesen hatten, änderte sich das bald. Angesichts des Ausmaßes von brutalen Übergriffen der konterrevolutionären Truppen gegen die Bevölkerung setzten die Bolschewiki diesem „weißen Terror“ nun einen „roten Terror“ entgegen. Gezielte Terrorakte gegen die Vertreter der ehemaligen herrschenden Klassen Rußlands, die einen blutigen Kampf um die Wiedererlangung ihrer Privilegien führten, befürworteten die Bolschewiki (in dieser speziellen Situation der Verteidigung der Revolution und des Volkes) als taktisch und strategisch sinnvoll. Allerdings handelte es sich bei diesen revolutionären Terroraktionen um solche der Arbeiterbewegung beziehungsweise des revolutionären Sowjetstaates, um eine Ergänzung des im Vordergrund stehenden Massenkampfes und nicht um seine Ersetzung – es handelte sich eben nicht um individuellen Terror.

Diese Form des Terrorismus wurde erst in der Periode nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder zu einem zwar marginalen, aber weltweiten Phänomen. Es ist dabei schwierig, von einem Gesamtkomplex Terrorismus zu sprechen. Die verschiedensten Gruppen und Strömungen bedienen sich terroristischer Aktionen in der Hoffnung, so ihre politischen Ziele voranzutreiben. Im linken und anti-imperialistischen Lager können dabei folgende Strömungen unterschieden werden (wobei die Übergänge fließend sind): erstens bewaff­nete nationale Befreiungsbewe­gungen in der Dritten Welt (z.B. Algerien im Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft, Vietnam gegen den US-Imperialismus, Kuba, Nicaragua gegen von den USA gestützte nationale Herrschaftsclans); weiters linksorientierte separatistische Befreiungsbewegungen unterdrückter ethnischer Minderheiten in imperialistischen Ländern, die für Unabhängigkeit kämpfen (z.B. die Irisch-Republikanische Armee IRA in Nord-Irland oder die baskische Separatistenorganisation ETA in Spanien) und drittens Terrorismus, der in der BRD, Italien und an­deren westlichen Industriegesellschaften von relativ isolierten studentischen Gruppierungen getragen wird, die den Kapitalismus und die Klassengesellschaft im Land mit Hilfe des be­waffneten Kampfes aus den Angeln heben wollen.

Diese letzte Art von linkem Terrorismus (mit ihm will ich mich hier näher beschäftigen) ist eine Konsequenz des Aufstiegs und des Niedergangs der Neuen Linken, die in den späten 60er Jahren zu einer bedeutenden Kraft an den Universitäten geworden war. Sozialdemokratie und Gewerkschaften hatten sich zuvor im „Wiederaufbau“ immer enger mit dem bürgerlichen Staat arrangiert. Die bürokratische Degeneration der Sowjetunion, die bereits in den 20er Jahren begonnen hatten, war nur noch schwer zu ignorieren. Der revolutionäre Teil der Arbeiterbewegung war vom faschistischen (und stalinistischen) Terror, vom Krieg und schließlich von der Stabilisierung des Kapitalismus nach 1945 schwer angeschlagen. Die radikale Linke war bis in die 60er Jahre auf Klein- und Kleinstgruppen beschränkt, die in der Regel kaum in der Arbeiterklasse verankert waren. Durch die Studentenbewegung Ende der 60er Jahre veränderte sich die Situation ansatzweise.

Den radikaleren Teilen der Bewegung wurden die Grenzen eines studentischen Kampfes rasch klar, und sie suchten nach Auswegen. Während sich viele auf „revolutionäre“ Parteiaufbaukonzepte in der Arbeiterklasse orientierten (und dabei meist in mao-stalinistischen Sackgassen landeten), zogen andere aus dem Niedergang der Studentenbewegung andere Schlußfolgerungen: Angeekelt von der reformistischen und proimperialistischen Politik der offiziellen Arbeiterbewegungen war ihnen der Kampf um den Einfluß auf die (oftmals als hoffnungslos „verbürgerlicht“ angesehene) Arbeiterklasse letztendlich zu mühsam – und sie orientierten sich auf einen vermeintlich einfacheren und rascheren Weg. In Westeuropa, den USA, in Japan und Lateinamerika formierten sich linke Studenten zu radikalen, größtenteils von der Arbeiterklasse abgehobenen Gruppen, die dachten, sie könnten mit politisch motivierter Gewalt einen Umsturz herbeiführen. Die bekanntesten sind wohl die Rote Armee Fraktion in Deutschland, die Brigata Rosso in Italien, die Weathermen in den USA und die Rote Armee in Japan. In den 70er Jahren hielten diese Gruppen zeitweise die Weltöffentlichkeit in Atem. Heute gelten sie als geschlagen, viele ihrer Mitglieder sind verhaftet oder von der Polizei erschossen. Nachfolgeorganisationen existieren versplittert immer noch, ihr Einfluß ist aber noch geringer geworden.

Die Institution Staat war und ist in jedem Fall stärker als die terroristische Gruppe, die sie bekämpft. Der Staat verfügt, solange er nicht durch eine revolutionäre Massenbewegung desintegiert wird, tendentiell über ein Gewaltmonopol, hält sich einen Poli­zei- und Militärapparat, hat eine umfassende Logistik und gleichsam unerschöpfliche Finanzmittel zur Verfügung und kann auf die Loyalität der Medien zählen, was ihm ein wirkungsvolles Definiti­onsmonopol sichert und vor allem die Macht und Möglichkeit, die Öffentlichkeit weitgehend nach seinen Zwecken zu beeinflussen.

Der Staat wehrt sich prompt gegen terroristische Aktionen und schlägt zurück mit Mitteln, die um nichts weniger gewaltsam und um nichts legitimer sind als die der Terroristen. In den Dritte-Welt-Ländern kann dies geradezu pogromartige Züge tragen – man denke an die Ausrottung ganzer Dörfer in Lateinamerika, weil ihre Bewohner im Verdacht stehen, mit Rebellen zu sympathisieren. In demokratischen Ländern mit Nationalitäten­problemen entsendet der Staat meist Militärs in die Unruhegebiete und etabliert einen Quasi-Belagerungszustand. Und auch die demokratischen westlichen Industrieländer reagier(t)en auf Terrorismus in ihrem Land mit enormer inner­staatlicher Aufrüstung, Überwachung und politischen Repres­sionen.

Die Entstehungsbedingunge der RAF

Die Rote Armee Fraktion Deutschlands entstand 1970 durch eine spektakuläre Gefangenenbefreiung, und unter ihren Grün­dungs­mitgliedern waren so prominente Namen wie der von Ulrike Meinhof, damals Starkolumnistin des linken Nachrichtenmagazins konkret, Radio- und TV-Journalistin und Liebkind des Hamburger liberalen Establishments, sowie Horst Mahler, Wirtschafts­jurist mit gutgehender Anwaltspraxis. Die RAF war die erste Gruppe in Europa, die sich kollektiv und organisiert einem Leben in der Illegalität verschrieb und mit der Waffe in der Hand gegen die herrschende Gesellschaftsordnung kämpfte. Die ideologische Stoßrichtung der RAF war antikapitalistisch und antiimperialistisch. Ihre Aktionen richteten sich vor allem gegen militä­rische Stützpunkte der USA in Deutschland, gegen den Militär- und Polizeiapparat und den reaktionären Zeitungsverlag Axel Cäsar Springers mit sei­nem Parade(hetz)blatt Bild.

Nach zwei Jahren im Untergrund verübte die RAF im Mai 1972 eine Serie von Anschlägen, wenige Wochen später war der Kern der soge­nannten Baader-Meinhof-Gruppe verhaftet. Ihre Entstehungsgeschichte, ihre Aktionen, ihr Ende und die Tatsache, daß sie mit ihrem Konzept, mittels terroristischer Aktionen den revolutionären Kampf in Deutschland zu entfachen beziehungsweise den Imperialismus in den Metropolen zu schwächen (um so die antiimperialistischen Befreiungskämpfe in den Halbkolonien zu entlasten), scheitern mußte, soll im folgenden näher erläutert werden.

Das Deutschland der frühen 60er Jahre war ideologisch geprägt von einem rigiden Antikommunismus zur Zeit des Kalten Krieges (KPD-Verbot 1965), der der kommunistischen Hexenjagd der Mac Carthy-Ära in den USA kaum nachstand: wirtschafts- und verteidigungspolitisch durch eine Wiedera­ufrüstung sowie den Beitritt Deutschlands zur NATO im Mai 1955; parteipolitisch durch das Einschwenken der SPD auf einen „entideologisierten“ offen prokapitalistischen Kurs, der schließlich unter weitreichenden Abstrichen vom „sozialistischen“ Programm und politischen Zugeständnissen in einer großen Koalition mit der CDU/CSU mündete.

Es war gesellschaftlich wie politisch eine äußerst beklemmende Zeit, in der ein Verdrängen der Nazi-Vergangenheit, ein militanter Antikommunismus, ein absoluter wirtschaftlicher Leistungsanspruch und das Wir-sind-wieder-wer-Gefühl zufriedener Bürger eine At­mosphäre der Lähmung verbreiteten – und in der immer mehr Jugendliche nicht mehr mitspielen wollten. Sie protestierten gegen Leistungszwang und Autorität, gegen Konsum und Materialismus, gegen rigide Moralvorstellungen und Konformismus, und sie lebten ihren Traum. Die „wilden 60er Jahre“ hatten begonnen. Die Jugendlichen verweigerten die Regeln ihrer Elterngenera­tion, bemühten sich um eine neue Sexualmoral, um neue Beziehungs- und Lebensmuster, um die Emanzipation der Frau, um eine freie Gesellschaft gleich-berechtigter Individuen, sie ließen sich die Haare wachsen, hörten Rock´n Roll, lebten in den Tag hinein oder trampten durch die Länder und experimentierten mit Drogen. Die bürgerliche Öffentlichkeit war dementsprechend schockiert.

Das politisierte Bewußtsein der rebellierenden Jugendlichen fand seinen organisierten Ausdruck in einer losen, aber immer breiter werdenden oppositionellen Bewegung, die später Außerparlamentarische Opposition, kurz APO, genannt wurde. Sie setzte sich zusammen aus kritischen Studenten und Intellektuellen, aus antiautoritären, undogmatisch eher sozialistisch orientierten Individuen und Gruppen, aus enttäuschten SPD-Anhängern, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund SDS und anderen im weitesten Sinne fortschrittlichen beziehungsweise linken Gruppierungen. Die APO richtete sich innenpolitisch gegen die imperialistische Rüstungspolitik Deutschlands, gegen die autoritäre, hierarchische, verbüro­kratisierte Institution Universität und ganz allgemein gegen die bieder-reaktionäre Stimmung in der BRD. Außenpolitisch solidarisierte sich die APO mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, deren Situation in dieser Zeit erstmals in globalem Umfang thematisiert wurde, und vor allem mit dem Kampf des vietnamesischen Volkes gegen den Massenmord durch die USA. Und als der schwelende Konflikt zwischen der KPdSU und der KP-China 1963 in einem offenen Bruch endete und Peking die politische Führungsrolle der Sowjetunion bestritt und die Gefolgschaft aufkündigte, entdeckten linke Studenten in Westeuropa den „Sozialismus“ chinesischer Prägung als Alternative zum verbürokratisierten „Revisionismus“ der Sowjetunion.

Die Bewegung äußerte sich in der Öffentlichkeit vor allem mit Demonstrationen, sie arbeitete aber auch mit gezielten Provokationen, das Schlagwort hieß begrenzte Regelverletzung. Die Staatsgewalt reagierte sofort und in unverhältnismäßigem Ausmaß mit Bespitzelungen, Verfolgungen, Verhaftungen und diversen Schikanen. Als z.B. das als Protestaktion gegen die Präsenz amerikanischer Truppen in Vietnam gedachte sogenannte Pudding-Attentat der Kommune 1 gegen den in der BRD auf Staatsbesuch weilenden amerikanischen Vizepräsidenten Hubert Humphrey bei der Planung aufflog (Humphrey sollte mit puddinggefüllten Plastikbeuteln beworfen werden), wurden die beteiligten Studenten umgehend inhaftiert, und die bürgerliche Presse, allen voran Springers Bild-Zeitung, überschlug sich vor Empörung. Die damalige Konkret-Kolumnistin und spätere RAF-Aktivistin Ulrike Meinhof brachte die Widersprüche in einer konkret-Kolumne zu Papier:

„Nicht Napalm-Bomben auf Frauen und Kinder und Greise abzuwerfen ist demnach kriminell, sondern dagegen zu protestieren. Nicht die Zerstörung lebenswichtiger Ernten, was für Millionen Hunger und Hungertod bedeutet, ist kriminell, sondern der Protest dagegen. Es gilt als unfein, mit Pudding und Quark auf Politiker zu zielen, nicht aber Politiker zu empf­angen, die Dörfer ausradieren lassen und Städte bombardieren (…). Napalm ja, Pudding nein.“

Die unverhältnismäßig scharfe Reaktion des Staates führten einerseits zu einer Kriminalisierung der Protestbewegung und andererseits auch zu ihrer Radikalisierung. Am 2. Juni 1967 eskalierten die Konflikte zwischen de­monstrierenden Studenten und der Staatsgewalt. Bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien in Berlin kam es zu Straßenschlachten zwischen Polizisten und Demons­tranten, in deren Verlauf der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Er war das erste politische Todesopfer der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Schlägerei war von der Polizei provoziert worden, sie hatte, nach späteren Zeugenaussagen, von Seiten der Polizei einen regelrechten Angriffscharakter. Sogar der deutsche Staat selbst kam später zu dem Schluß, daß die staatlichen Kontrollinstanzen, d.h. die Polizei, mit Gewalteinsätzen gegen Personen früher und zahlr­eicher auffielen als die Aktivisten der APO. In den 1982 vom Bundesministerium des Inneren herausgegebenen Ana­lysen zum Terrorismus heißt es wörtlich: „Bis zum Anfang der 70-er Jahre, als die Terro­risten zu den Waffen griffen, war es die Staatsmacht, die – ge­wollt oder in Überreaktion einzelner – jeweils die nächsthöhere Gewaltstufe einführte.“

Um die Verhältnislosigkeit im Umgang mit den Studenten zu schildern, sei das geradezu dramaturgische Nebeneinander zweier Strafverfahren erwähnt, die sich aus diesem 2. Juni ergaben: Das eine hatte den Todesschuß auf Benno Ohnesorg zum Gegenstand, das andere einen angeblichen Steinwurf, der dem Kommunarden Fritz Teufel ein Verfahren wegen schwerem Landfriedensbruch eintrug. Während der der fahrlässigen Tötung angeklagte Po­lizist in Freiheit blieb, wurde Teufel vom 2. Juni bis Anfang August und von September bis Dezember in Untersuchungshaft gehalten. Im November wurde der Polizist am ersten Verhandlungstag freigesprochen, Teufel erst nach knapp einmona­tigem Prozeß.

Die offene Demonstration staatlicher Gewalt, die den Schah-Besuch begleitet hatte, und der Einsatz der Schußwaffe gegenüber unbewaffne­ten Demonstranten leitete für viele Studenten einen Sinneswa­ndel bezüglich der Verläßlichkeit der demokratischen Strukturen in der BRD und der Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit gewaltloser Protestaktionen ein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man über das Für und Wider der Anwendung von Gewalt gegen Sachen diskutiert (welche sich bislang im Werfen von Farbeiern gegen Amerika-Häuser und in Fahnenverbrennungen bei Vietnamdemonstrationen erschöpfte). Das wich nun über Nacht der Diskussion über die Notwendigkeit der eigenen Bewaffnung zur Abwehr der zunehme­nden Brutalität der Polizei.

Die nun einsetzende „Eskalation der Gewalt“ spiegelte diese Wandlung deutlich wider. So wurde im Herbst dieses Jahres erstmals ein Brandanschlag auf das Kriminalgericht in Berlin verübt, und im April 1968 erfolgte eine Brandstiftung an zwei Kaufhäusern in Frankfurt, die als „Hinweis auf den tagtäglichen Völkermord der US-Army in Vietnam“ deklariert wurde und bei der erstmals die späteren RAF-Mitglieder Andreas Baader und Gudrun Ensslin als politische Gewalttäter auftraten.

Die Studentenbewegung hatte sich jedenfalls nach diesem 2. Juni 1967 explosionsartig ausgebreitet und ansatzweise gewalt­samere Formen angenommen. Im Jahr darauf, 1968, erreichte sie ihren Hö­hepunkt. In Frankreich waren die Studenten auf den Barrikaden, hatten einen Generalstreik der Arbeiterklasse ausgelöst – und auf diese Weise die staatliche Macht an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. In einigen europäischen und nordamerikanischen Städten hielten die Studenten die Unis besetzt, und in Vietnam hatten die Amerikaner bereits so viele Bomben abgeworfen, wie im ganzen Zweiten Weltkrieg insgesamt abgeworfen worden waren.

Diese studentische Protestbewegung, die sich in ihrer Kritik an der realen bürgerlichen Demokratie und wirtschaftspolitischen Restauration durchaus für ein Mehr an tatsächlicher De­mokratie einsetzte und die mit dem demokratisch-rechtsstaatlichen Modell verknüpfte Freiheit vollinhaltlich einklagte, als daß sie die bürgerlich-demokratische Grundform insgesamt desavouiert hätte, hatte sich von Beginn an einer beispiellosen Hetze und Diffamierung der bürgerlichen Medien gegenüber gesehen. Und diese Medienhetze v.a. der rechtspopulistischen Bild-Zeitung des Springer-Verlages war es auch, die in den Augen vieler schließlich zur Eskalation führte: Am 11. April 1968 wurde der prominente Studentenführer und Vorsitzende des SDS, Rudi Dutschke, von einem jungen Rechtsextremisten angeschossen. In der Presseerklärung, die der SDS am selben Tag herausgab, hieß es:

„Ungeachtet der Tat­sache, ob Rudi das Opfer einer politischen Veschwörung wurde: man kann jetzt schon sagen, daß dieses Verbrechen nur die Konsequenz der systematischen Hetze gewesen ist, welche Springer-Konzern und Senat gegen die demokratischen Kräfte in dieser Stadt betrieben haben.“

Spontane Demonstrationszüge formierten sich vor dem Gebäude des Springer-Verlages in Berlin. Ein gewisser Peter Urbach, seit Monaten als Vorzeige-Proletarier in der Bewegung unterwegs und – wie sich später herausstellt – als Spitzel auf der Gehaltsliste des Landesamtes für Verfassungsschutz, ver­sorgte die Demonstranten mit den Molotowcocktails, mit denen die Auslieferungsfahrzeuge des Verlages in Brand gesteckt wurden. Die Zeitungswagen in Flammen – mit Hilfe des Staates angesteckt – wurden zum Symbol für die deutsche Studentenbewegung. In den folgenden Tagen kam es zu immer größer werdenden Demons­trationen gegen den Springer-Konzern. Allein am Ostermorgen zogen 45.000 Demonstranten in mehr als 20 deutschen Städten vor die Druckereien des Presse-Imperiums und versuchten die Auslieferung der Bild-Zeitung zu verhindern. Dabei kam es zu heftigen Straßenschlachten, den später sogenannten Oster-Unruhen.

Die Medien reagierten auf die Blockaden und Demonstrationen mit empörten Kommentaren über die „zunehmende Bereitsc­haft zur Anwendung von Gewalt“. Ulrike Meinhof entgegnet darauf:

„Stellen wir fest: Diejenigen, die von politischen Machtpositionen aus Steinwürfe und Brandstiftung verurteilen, nicht aber die Hetze des Hauses Springer, nicht die Bomben auf Vietnam, nicht Terror in Persien, nicht Folter in Südafrika (…), deren Engagement für Gewaltlosigkeit ist heuchlerisch (…), ihnen fehlt beides: die politische und die moralische Legitima­tion, gegen den Widerstandswillen der Studenten Einspruch zu erheben.“

Auch Ulrike Meinhof begann nun, sich stellvertretend für viele in konkret öffentlich mit den Möglichkeiten einer Gewaltanwendung auseinanderzusetzen: „Die den Mut haben zu solchen Methoden oppositioneller Arbeit zu greifen, haben offen-sichtlich den Willen zur Effizienz. Darüber muß nachgedacht werden.“

Die Radikalisierung der Jugendlichen und die Reaktion des Staates darauf, nämlich eine institutionell verfügte Kriminalisierung der Studenten durch die Definitionshoheit des Staates, der legale Aktivitäten für illegi­tim erklärte, die beteiligten Personen kriminalisierte und somit legaler Handlungsspielräume beraubte, läuteten den Niedergang und den Zerfall der Bewegung ein. Betroffen von dieser Radikalisierung waren Hunderte von Studenten, gegen die wegen der Teilnahme an verschiedenen Demonstrationen strafgerichtliche Verfahren ein-geleitet worden waren. Krassestes Beispiel ist wohl der Fall des Rechtsanwalts Horst Mahler, der wegen bloßer Teilnahme an der gewaltsam verlaufenen Demonstration gegen den Springer-Verlag während der Osterunruhen 1968 wegen Landfriedensbruchs zu 10 Monaten Gefängnis und der Zahlung einer Dreiviertelmillion Mark an das Verlagshaus Springer verurteilt wurde. Dies bedeutete für Mahler Ausschluß aus der Rechtsanwaltskammer, Berufsverbot und angesichts der Geldforderung: existenziellen Ruin.

Angesichts dieser Kriminalisierung und der gleichzeitigen Radikalisierung verfiel die Bewegung in heftige Kontroversen über die weitere politische Linie und Strategie, spaltete sich schließlich 1969 und zerfiel in Folge durch Positionskämpfe und politische Fraktionierungen. Vor allem in Berlin entstanden zahllose Fraktionen und Gruppierungen einer in sich heterogenen Kontrakultur der Ent­täuschten. Ein Teil begann seinen langen Marsch durch die Institutionen, ein anderer Teil zog sich ins Privatleben zurück, wieder ein anderer bildete „marxistisch-leninistische“ Gruppen, Rote Zellen, antiautoritäre Wohngemeinschaften und politische Kommunen, Basisgruppen, Stadtteilfraktionen, lockere Strukturen einer Kneipenkultur oder vollzog den Rückzug in die Mystik. Und ein Teil beriet nun ernsthaft darüber, wie man den Kampf als bewaffnete Avantgarde weiterführen, die früher theoretischen Diskussionen über bewaffneten Widerstand in die Praxis umsetzen konnte, unter ihnen die späteren RAF-Mitglieder, die allesamt aus dem Umkreis der Studentenbewegung stammten.

Die RAF verstand sich in diesem Sinne von Anfang an als ein Abspaltprodukt und als die radikalste Konsequenz dieser Studentenbewegung und fühlte sich als Nachlaßverwalter der Bewegung. Um die damaligen Ziele und Forderungen durchzusetzen, war ihrer Meinung nach der Übergang zum bewaffneten Kampf notwendig. Ihre Erledigung von Seiten der Staatlichkeit fand die deutsche Studentenbewegung schließlich im sogenannten Radikalen-Erlaß vom Jänner 1972, einem Berufsverbot für, so wörtlich, „politische Extremisten“, de facto eine staatlich betriebene Infragestellung der beruflichen und damit auch gesellschaftlichen Existenz eines jeden, der in Verdacht fundamentaler Opposition zur „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ der BRD steht, ohne daß er dieser auch aktiven gewaltsamen Ausdruck geben muß – die Gesinnung genügt. 

Aktionen und Strategie der RAF

Am 14. Mai 1970 wurde Andreas Baader gewaltsam aus der Haft befreit. Er hatte eine dreijährige Strafe abzusitzen wegen der beiden, von den Tätern als „Fanal gegen den Vietnamkrieg“ deklarierten Brandstiftungen an Frankfurter Kaufhäusern. Beteiligt an der Befreiungsaktion waren unter anderen Gudrun Ensslin, die wie Baader wegen desselben Delikts zu dreijähriger Haft verurteilt, nach der Ablehnung ihres Berufungsverfahrens untergetaucht war (und nicht wie Baader nachträglich gefaßt wurde), Ulrike Meinhof und indirekt der als APO-Anwalt bekannt gewordene Rechtsanwalt Horst Mahler. Ein älterer Mann wurde dabei angeschossen und schwer verletzt. Diese Gefangenenbefreiung gilt als die Geburtsstunde der RAF, sie war die erste deklarierte Aktion der Gruppe.

In einem von Ulrike Meinhof besprochenen Tonband wurde die Gefangenenbefreiung erklärt und begründet. Die Aktion wäre durchgeführt worden, „aus drei Gründen: erstmal natürlich deswegen, weil Andreas Baader ein Kader ist. Und weil wir bei denjenigen, die jetzt kapiert haben, was zu machen ist und was richtig ist, nicht davon ausgehen können – auf irgendeine lu­xuriöse Art und Weise – daß einzelne dabei entbehrlich sind. Das zweite ist, daß wir als erste Aktion eine Gefangenenbef­reiung gemacht haben, weil wir glauben, daß diejenigen, denen wir klarmachen wollen, worum es politisch heute geht, welche sind, die bei einer Gefangenenbefreiung überhaupt keine Pro­bleme haben, sich mit dieser Sache selbst zu identifizieren. Das dritte ist, wenn wir mit einer Gefangenenbefreiung anfangen, dann auch deswegen, um wirklich klarzumachen, daß wir es ernst meinen.“ Der endgültige Schritt in die Illegalität war getan – die Abtren­nung von der legalen Linken und damit der Prozeß der Isoli­erung und Entfremdung von der politischen Basis, welcher sich in den folgenden zwei Jahren immer mehr verstärken und als verhängnisvoll erweisen sollte, in die Wege geleitet.

Nach einigen Monaten in einem Trainingscamp der PLO in Jordanien überfiel die RAF in einer wohlvorbereiteten Aktion in Berlin gleichzeitig drei Banken. In einem Bekennerbrief der RAF heißt es: „Der Bankraub ist politisch richtig, weil er eine Enteignungsak­tion ist, er ist taktisch richtig, weil er eine proletarische Aktion ist, er ist strategisch richtig, weil er der Finanzierung der Guerilla dient.“

Inzwischen war die Gruppe von Staat und Medien zur Baader-Meinhof-Bande hochstilisiert und befand sich bereits zu diesem Zeitpunkt in einer permanenten Fluchtsituation. Ihre Mitglieder waren ständig bemüht, Sicherheitsmaßnahmen für das mühselige Leben im Untergrund zu treffen und eine Logistik aufzubauen. Ihre bisherigen Aktivitäten erschöpften sich in Ba­nküberfällen in Berlin und Kassel, Einbrüchen in Paßämtern, Autodiebstählen und dem betrügerischen Anmieten von Leih­wägen – Delikte, die in keinem Verhältnis standen zum Aufruhr und der Empörung, die von den Medien betrieben wurde, und dem unglaublichen Fahndungsaufwand der Polizei.

Im Februar 1971 entzogen sich zwei mutmaßliche RAF-Mitglieder durch Flucht einer Ausweiskontrolle. Die Polizei schoß hinter den Flüchtenden her. Dieser später als „Schußwechsel“ bezeichnete Vorfall heizte das ohnehin schon brisante Klima zu einer wahren Hysterie auf. Die erste große bundesweite Fah­ndungsaktion lief an, unzählige Wohnungen wurden durchsucht, mögliche Quartiergeber festgenommen und verhört. Die Jagd nach den Terroristen (die bis jetzt nur durch „gewöhnliche“ Kriminalität aufgefallen waren) wurde zum beherrschenden innenpolitischen Thema.

Der Staat reagierte mit massiver Aufrüstung –  und das bereits zu einer Zeit, als de facto noch keine Attentate begangen worden waren. Das Bundeskriminalamt wurde zur Zentrale der Terrorismusbekämpfung erhoben, das Etat des BKA wurde mehr als verdreifacht, der Personalstand annähernd verdoppelt. Die Bewaffnung der Polizei wurde aufgestockt, polizeiliche Kompetenzen ausgeweitet, eine Elite-Einheit zur Bekämpfung des Terrorismus, die Grenzschutzgruppe GSG 9, gebildet. Großaktionen der Polizei wechselten einander ab, zumeist ohne Erfolg. Ein gewaltiges Computernetz wurde eingerichtet und bis zur Dimension eines Orwellschen Überwachungsstaates ausgebaut. Es wurden nicht nur Daten aufgenommen von Leuten, die per Haftbefehl gesucht wurden, sondern auch von solchen, gegen die ein Ermittlungsverfahren lief oder von denen eine „Gefahr ausging“ – was immer damit auch gemeint sein mochte. Die Daten umfaßten neben Personenbeschreibung, Lichtbildern der betreffenden Person und ihrem Lebenslauf oft auch Handschriftproben, Informationen über bevorzugte Lektüre, Musikgeschmack etc., sowie Namen von Freunden, Eltern und Geschwistern. 1979 enthielt der Computer 4,7 Mio. (!) Namen von Terroristen, des Terrorismus Verdächtigen, des Terrorismus Fähigen, von Kontaktpersonen der Terroristen, von Kontaktpersonen der Kontaktpersonen (!), von Mitgliedern diverser Initiativkreise gegen das Berufsverbot oder schlechte Haftbedingungen, von Menschenrechtsorganisationen, Soldaten- und Reservistenko­mitees etc.

Am 15. Juli 1971 schließlich gab es das erste Todesopfer. Die zwanzigjährige mutmaßliche Terroristin Petra Schelm wurde bei einem Schußwechsel mit der Polizei tödlich getroffen. Zehn Tage nach der Hamburger Schießerei veröffentlichte das Allensbacher Meinungsforschungsinstitut die Ergebnisse einer Repräsentativ-Umfrage zum Thema „Baader-Meinhof: Verbrecher oder Helden?“. Von rund 1.000 Befragten befanden 18 Prozent, die Untergrundgruppe handle aus politischer Überzeugung (bei Eumnid-Umfrage sogar 40 Prozent). Jeder vierte (!) Bundesbürger unter 30 gestand gewisse Sympathien für die Rote Armee Fraktion ein. Jeder zehnte Norddeutsche erklärte sich sogar bereit, gesuchte Untergrundkämpfer für eine Nacht bei sich zu beherbergen, im Bundesdurchschnitt war es jeder Zwanzigste.

Im Oktober 1971 wurde bei einem Schußwechsel zwischen mutmaßlichen Terroristen und der Polizei ein Polizist getötet, im Dezember erschoß die Polizei bei einer Fahndung den 22-jährigen RAF-Aktivisten Georg von Rauch, zwei Wochen später wurde bei einem Banküberfall der RAF in Kaiserslautern ein Polizist tödlich verletzt, im März 1972 wurde der 22-jährige RAF-Aktivist Thomas Weisbecker bei einer Polizeiaktion getötet.

Während dieser Zeit versuchte die RAF ständig, sich politisch und strategisch zu erklären, ihre Analysen und Vorstellungen zu deklarieren, ihr Tun zu rechtfertigen, um die Menschen zu überzeugen und Kader zu rekrutieren. Im April 1971 veröffentlichte die RAF die Ulrike Meinhof zugeschriebene Schrift Rote Armee Fraktion – Das Konzept Stadtguerilla, in der die Aufnahme des „bewaffneten Kampfes“ theoretisch begründet, das Konzept vom „Primat der Praxis“ erläutert wird.

Im Juni erschien unter dem Decknamen „Die Neue Straßenverkehrsordnung“ die Horst Mahler zugeschriebene Abhandlung Kollektiv RAF – Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa. Sie wurde im Berliner Wagenbach Verlag verlegt, jedoch kurz nach ihrem Erscheinen beschlagnahmt. Klaus Wagenbach bezeichnete dies als „die erste Beschlagnahmung eines Buches aus politischen Gründen in der Bundesrepublik“. Die Schrift enthält den umfangreichsten Versuch einer theoretischen Begründung und strategischen Anleitung des „bewaffneten Kampfes“ nach dem Vorbild lateinamerikanischer Stadtguerillas in der BRD. „Die Bomben gegen den Unterdrückungsapparat schmeißen wir auch in das Bewußtsein der Massen“ heißt es in der Schrift. Terrorismus solle und könne politische Arbeit nicht ersetzen, sei aber ihre Bedingung und ihr Ausgangspunkt. Durch terroristische Aktionen sollen die „Widersprüche der spätkapitalistischen Gesellschaft“ auf die Spitze getrieben werden, der „latente Faschismus“ des Systems sollte zur offenen Manifestation gezwungen werden, um so die Bedrohung durch einen neuen Faschismus ins all-gemeine Bewußtsein zu rücken. Die Staatsgewalt solle durch ständige Provokationen zu Überreaktionen verleitet werden und gezwungen werden, ihren liberalen Schein abzuwerfen und sich als Unrechtsstaat zu demaskieren. Dies würde Konfliktbereitschaft und revolu­tionäres Bewußtsein der Massen heben, so die Argumentation.

Im April 1972 erschien die Ulrike Meinhof zugeschriebene Broschüre Dem Volke dienen, Rote Armee Fraktion – Stadtgu­erilla und Klassenkampf, in der versucht wird, die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes anhand der politischen und ökonomischen Entwicklung in der BRD nachzuweisen. In einer Schrift von Ulrike Meinhof heißt es schließlich:

„Das ist die Dialektik der Strategie des antiimperialistischen Kampfes: Daß durch die Defensive, die Reaktion des Systems, die Eskalation der Konterrevolution, die Umwandlung des politischen Aus­nahmezustandes in einen militärischen Ausnahmezustand, der Feind sich kenntlich macht, sichtbar – und so, durch seinen eigenen Terror die Massen gegen sich aufbringt, die Widersprüche verschärft, den revolutionären Kampf zwingend macht.“

Die Studenten als der bewußteste Teil des derzeitigen Deutschlands sollten eine Avantgardefunktion übernehmen, den Kampf organisieren und eine Massenpartei aufbauen.

Anfang Mai 1972 startete die RAF eine Reihe offensichtlich wohl­vorbereiteter Bombenanschläge, um die bisher theoretisch pro­pagierte innen- und außen-politische Stoßrichtung praktisch werden zu lassen. Es waren gezielte Aktionen gegen politisch gewählte Angriffsziele – gegen Armee, Polizei, Justiz, Springer-Presse. Einerseits waren dies die klassischen Organe und Institutionen des BRD-Imperialismus, d.h. die repressiven Einrichtungen des Staates, die imperialistischen Gewaltförmigkeiten und die pri­vatwirtschaftliche, jeder gesellschaftlichen Kontrolle ent­zogene Presse als Garant kapitalkonformer Massenloyalität. Und andererseits waren dies jene politischen Fragen, über die sich auch die Studentenbewegung radikalisiert hatte und die insofern eine größtmögliche Solidarisierung anderer Organisationen und Gruppen der radikalen Neuen Linken mit der RAF ermög­lichen und herstellen sollten.

Am 11. Mai 1972 verübte die RAF einen Bombenanschlag auf das Hauptquartier des 5. US-Korps in Frankfurt. Ein amerikanischer Offizier wurde dabei getötet. Das IG-Farben-Haus, in dem das US-Korps untergebracht war, fungierte für mehrere US-Nachrichtendienste während der gesamten Dauer der Aggression in Indochina als Hauptstützpunkt und hatte militärstrategische Planungs-, Leitungs-, Koordinations- und Kontrollfunktionen, sowohl im operativen wie im logistischen Bereich. Ein Kommando Petra Schelm – RAF übernahm die Verant­wortung und erklärte in einem Schreiben an die DPA und andere Presseagenturen und Zeitungen:

„Für die Ausrottungsstrategen von Vietnam sollen Westdeutschland und West-Berlin kein sicheres Hinter­land mehr sein. (…) Wir fordern den sofortigen Abbruch der Bombenblockaden gegen Nordvietnam. Wir fordern die sofortige Einstellung der Bombenangriffe auf Nordvietnam. Wir fordern den Abzug aller amerikanischer Truppen aus Indoc­hina (…).“

Am 12. Mai 1972 erfolgten Bombenattentate auf Polizeigebäude in Augsburg und München. Ein Kommando Thomas Weisbecker – RAF bekannte sich dazu und begründete in einem Brief an die DPA die Anschläge als Vergeltungsanschläge für die Erschießung des wegen einer dreimonatigen Haftreststrafe gesuchten Weisbecker. Am 15. Mai 1972 explodierte in Karlsruhe eine Bombe im Auto von dem mit Ermitt­lungen gegen die RAF befaßten Bundesrichter Buddeberg. Ein Kommando Manfred Grashof – RAF übernahm die Verantwortung und begründete den Anschlag mit den unerträglichen Haftbedingungen der RAF-Häftlinge, besonders des lebensgefährlich verletzten Grashof, für die Buddeberg verantwortlich gemacht wird. Es sei eine Aktion „zum Schutz des Lebens und der Gesundheit der gefangenen und freien Genossen der RAF.“

Am 19. Mai 1972 erfolgten schließlich mehrere Bombenexplosionen im Hamburger Springer-Hochhaus. Siebzehn Menschen, v.a. Arbeiter und Angestellte des Verlages, wurden verletzt. Ein Kommando 2. Juni – RAF bekannte sich dazu und forderte die Einstellung der antikommunistischen Berichterstattung und Umstellung der Pressepolitik. Weiters erklärte das Kommando, daß es nicht Schuld der RAF sei, wenn bei dem Anschlag Menschen verletzt worden wären, da das Haus trotz mehrfacher telefonischer Warnung nicht geräumt worden sei. Wörtlich heißt es in dem Bekennerbrief:

„Springer ging lieber das Risiko ein, daß seine Arbeiter und Angestellten durch Bomben verletzt werden, als das Risiko, ein paar Stunden Arbeitszeit, also Profit, durch Fehlalarm zu verlieren. Für die Kapitalisten ist der Profit alles, sind die Menschen, die ihn schaffen, ein Dreck. – Wir sind zutiefst betroffen darüber, daß Arbeiter und Angestellte verletzt worden sind“.

Dennoch: zum ersten Mal waren bei einem politischen Anschlag auch Lohn-abhängige, deren Bewußtsein die RAF ja schließlich wecken wollte, zu Schaden gekommen. Die Aktion blieb immer umstritten, und einige RAF-Kader distanzierten sich von ihr. Die Reaktion der legalen Linken und auch vieler aktiver Sympathisanten und großer Teile des anarchistischen Untergrundes war ent­sprechend: Ablehnung und endgültige Aufkündigung der „linken Solidarität“. Die RAF hat sich von den persönlichen und politischen Nachwirkungen dieses Anschlages nie mehr erholen können – ihre sozialistische Glaubwürdigkeit war dahin.

Am 24. Mai 1972 erfolgten Bombenanschläge auf das Hauptquartier der US-Armee in Europa in Heidelberg. Drei amerikanische Soldaten kamen dabei ums Leben. Die Anschläge konzentrierten sich vor allem auf die Teile des Gebäudes, in denen Computer und Fernmeldeeinrichtungen untergebracht waren. Über diese Computer wurden die militärischen Opera­tionen der US-Militäreinheiten in Indochina, insbesondere die Bombardierungseinsätze der Luftwaffe im Mai 1972, weiters der Nachschub und die Auswechslung der Truppenverbände koordiniert. Die durch den Bombenanschlag verursachte Vernichtung der Anlage führte zu einer empfindlichen Störung der militärischen Operationen der US-Army in Vietnam. Ein Kommando 15. Juli – RAF bekannte sich zu dem bisher folgenschwersten Terrorakt. In einer Stellungnahme erklärte die Gruppe:

„Am Montag hat das Außenministerium von Hanoi die Vereinigten Staaten erneut beschuldigt, dicht besiedelte Gebiete in Nordvietnam bombardiert zu haben. Die amerikanische Luftwaffe hat in den letzten Wochen mehr Bomben über Vietnam abgeworfen als im zweiten Weltkrieg über Japan und Deutschland zusammen. Der Krieg in Vietnam ist Völkermord (…). Wir fordern den Abzug aller amerikanischen Truppen aus Indochina (. .).“

Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, daß die bürgerlichen Medien keinen dieser Bekennerbriefe in seiner vollen Länge und in seinem ganzen Zusammenhang abdruckten. Die meisten dieser sogenannten „unterschlagenen Erklärungen“ wurden nie veröffentlicht, einige nur bruchstückhaft und aus dem Zusammenhang gerissen.

Und nun bekam der Staat wieder eindeutig das Heft in die Hand: Am 1. Juni 1972 gelang es den Behörden, Andreas Baader, Holger Meins und Jan Carl Raspe in Frankfurt festzunehmen. Am 7. Juni wurde Gudrun Ensslin in Hamburg gefaßt. Am 9. Juni erfolgte die Festnahme zweier weitere RAF-Mitglieder. Am 15. Juni wurde Ulrike Meinhof verhaftet.

Nach zwei Jahren Untergrund, in denen die RAF vor allem damit beschäftigt war, eine illegale Infrastruktur zu errichten und die eigene Reproduktion zu sichern, waren zwei Wochen aktiv-terro­ristische Tätigkeit gefolgt. Dann das Ende: der Kern der Gruppe war verhaftet, die RAF zerschlagen – teilweise in Haft, teilweise während der Fahndung erschossen, versprengte Reste noch auf der Flucht.

In 26 Monaten Krieg zwischen RAF und Staat hatte es 10 Todesopfer (drei RAF-Mitglieder, drei Polizisten, vier US-Soldaten) gegeben, rund 40 RAF-Mitglieder waren verhaftet worden, über zehn wurden noch steckbrieflich gesucht. So makaber Bodycounts sind: In den zehn Jahren zwischen 1970 und 1979 wurden in der BRD insgesamt 28 Personen durch terro­ristische Aktionen getötet, 14 Personen davon erlagen rechts­extremen Attentaten (die in der bürgerlichen Presse nicht annähernd für dieselbe Aufregung sorgten). Im Zeitraum von 10 Jahren kommen in der Bundesrepublik 8.000 bis 9.000 Menschen durch vorsätzliche Tötung ohne politische Motivation, weit über 100.000 Menschen im Straßenverkehr und nochmals fast die gleiche Zahl an Selbstmord zu Tode (dazu kommen Arbeitsunfälle etc.).

Gemessen an diesen Umständen müßte der Aufwand, den der Staat zur Terrorismusbekämpfung setzte, absolut übertrieben erscheinen. Der wahre (banale) Grund: der bürgerliche Staat reagiert auf das für ihn schwerste Vergehen und Verbrechen, nämlich die Infragestellung seines Gewaltmonopols, die Infragestellung der kapitalistischen Klassenherrschaft. Und Attentate und Bombenanschläge können der Reaktion auch nützen: Sie nimmt sie zum Anlaß und zum Vorwand für Aufrüstung und politische Repression. Der Staat hat aus diesem Wissen und diesem Grunde immer wieder agents provocateurs der Polizei, nament­lich in anarchistische Gruppen, die keineswegs immer für Ge­walttaten eintraten und oft sogar dezidiert pazifistisch waren, eingeschleust (es wurde bereits erwähnt, daß der Polizeispitzel Peter Urbach erwiesenermaßen der späteren RAF Waffen verschaffte). Der deutsche Staat wußte über die Anfänge der RAF gut Bescheid und er bestärkte sie. Und verschiedene Aktionen, wie etwa die Sprengung einer Mauer der Justizvollzugsanstalt in der niedersächsischen Kleinstadt Celle im Juli 1978, in der ein Terrorist einsaß, wurden – wie sich später herausstellte – vom bundesdeutschen Verfassungsschutz selbst inszeniert, um eine Gefangenenbefreiung vorzutäuschen, die Gemüter zu er­hitzen und freie Handhabe in der Terroristenbekämpfung zu bekom­men. Die Gewaltpolitik der RAF wurde so durch die Staatsgewalt instrumentalisiert zur Rechtfer­tigung umfassender politischer Repressionen. Rechtsstaatliche Strukturen wurden abgebaut.

Auf der anderen Seite versuchte der Staat unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung die legale Linke zu isolieren. Die Linke sah sich mit einemmal einem enormen Druck der Staatsgewalt und einer empfindlichen Beschneidung ihrer legalen Handlungsspielräume gegenüber. Der im Klima des Kalten Krieges verbreitete undifferenzierte Antikommunismus erfuhr nun in Form der Sympathisantendebatte seine Neuauflage. Was mit einer verbalen Hetze und öffentlichen Be-schuldigung der Linken als Wegbereiter des Terrorismus und mit dem geradezu infla­tionären Gebrauch der Bezeichnung „Terrorist“ und „Sympathisant“ (um zu diffamieren) begann, ging über Hausdurchsuchungen, Abhören von Telefongesprächen, der Beschlagnahmung von Büchern und der Einschränkung der politischen Artikulationsmöglichkeiten und Ausgrenzung der Be­troffenen weiter und fand schließlich seinen formalen Niederschlag im bereits erwähnten Radikalenerlaß 1972. Erwähnenswert sind außerdem die nachträglichen Veränderung der Strafprozeßordnung, die die BRD an den Rand ihrer Rechtsstaatlichkeit brachten.

Neben all diesen Reaktionen instrumentalisierte der Staat den RAF-Terrorismus auch allgemeinpolitisch, im Sinne einer alten soziologischen Weisheit, der „These von der integrativen Funktion des Verbrechens“. Die Produktion eines Feindbildes RAF ermöglichte einen Konsens in der Bevölkerung auf der Basis „Terrorismusbekämpfung“ und steigerte die Loyalität und So­lidarisierungsbereitschaft der Bevölkerung mit dem Staat.

Nicht unerwähnt bleiben darf, daß der Terrorismus mit der Inhaftierung der wichtigsten Köpfe der RAF natürlich nicht zu Ende war. Innerhalb kürzester Zeit formierte sich aus den versprengten Resten der RAF und aus radikalen Sympathisanten eine Nachfolgegeneration, die es sich zur haupt­sächlichen Aufgabe machte, durch terroristische Aktionen die Gefangenen der RAF freizupressen. Die Aktionen dieser Nachfolge­generation waren ungleich gewaltsamer und brutaler als die derer, zu deren Befreiung sie einzig durchgeführt wurden. Die Nachfolgegenerationen erreichten auch nicht das theoretisch-politische Niveau der Gründergeneration. Was als antiimperialistischer Kampf begonnen hatte, verkam unter dem Druck der Verhältnisse zu einer Befreit-die-Guerilla-Guerilla: 1974 wurde der Kammer­gerichtspräsident von Drenkmann – vermutlich bei einem mißglückten Entführungs­versuch – erschossen; 1975 besetzte die RAF die deutsche Botschaft in Stockholm und sprengte sie, nachdem ihre Forderung nach Frei­lassung der Gefangenen nicht erfüllt wurde; im April 1977 wurde der Chef der obersten Anklagebehörde Generalbundesanwalt Buback auf offener Straße erschossen, 3 Monate später der Ban­kier Jürgen Ponto; im September desselben Jahres wurde der Präsident der Deutschen Industriellenvereinigung und der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände Hanns Martin Schleyer entführt, sein Chauffeur und seine vier Leibwächter bei der Aktion sofort er­schossen; ein Monat später wurde das Lufthansaflugzeug Landshut von arabischen Terroristen entführt, ebenfalls um die Forderung nach Freilassung der Gefangenen der RAF zu bestärken. Die deutsche Spezialeinheit des Bundes­grenz­schutzes GSG 9 stürmte das Flug­zeug, worauf die RAF den gekidnappten Schleyer ermordete. In derselben Nacht, am 18. Oktober 1977 begingen die führenden Mitglieder der Gründergeneration in ihren Isolations­zellen „Selbstmord“, besser: Sie wurden tot aufgefunden. Als Motivation für einen oftmals vermuteten staatlichen Mord wurde angeführt, daß damit den Aktionen zur Befreiung der Gefangenen die Grundlage entzogen werden sollte.

Conclusio 

Die RAF scheiterte auf allen Linien, mit ihrem Konzept, mit ihrer Strategie, mit ihrer Taktik, sie scheiterte an ihren eigenen Ansprüchen. Sie scheiterte an ihrer Faschismustheorie, sie scheiterte an der allgemeinen Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse. Und sie scheiterte, weil Terrorismus als revolutionäres Konzept zum Scheitern verurteilt ist.

Vor allem scheiterte die RAF an einer Fehleinschätzung bezüglich der Entfesselung einer revolutionären Situation, die eben nicht einfach durch einige Anschläge herbeizuführen ist, sondern vielmehr eine Zuspitzung der gesellschaftlichen Widersprüche und eine Verankerung der revolutionären Kräfte in relevanten Teilen der Bevölkerung voraussetzt. Auch wenn die „objektive Situation“ in Deutschland „reifer“ gewesen wäre, hätte die Strategie der RAF gerade nicht zu einer solchen Verankerung beigetragen, sondern im Gegenteil zu ihrer Isolierung. In diesem Sinn war das Konzept der RAF prinzipiell perspektivlos.

Und auch bei einer modifizierten Zielsetzung der RAF, daß nämlich eine Revolutionierung in Deutschland eigentlich ohnehin chancenlos war und daß es deshalb in Wirklichkeit um die bestmögliche Unterstützung der halbkolonialen Befreiungskriege ginge, sieht die Bilanz der RAF nicht anders aus. Der Anschlag auf das US-Hauptquartier in Heidelberg hat zwar für kurze Zeit die imperialistische Aggression gegen Vietnam gestört, insgesamt hat die Tätigkeit der RAF nicht dazu beigetragen, den Imperialismus in den Metropolen zu schwächen, die dortige Arbeiterklasse gegen den Staat und das kapitalistische System aufzubringen. Es wurde im Gegenteil letztendlich ein Schulterschluß der großen Mehrheit der Bevölkerung mit den staatlichen Repressionsorganen und der freiheitlich-demokratischen Ordnung bewirkt. Die RAF überschätzte die Solidarisierungs- und Kampfbereitschaft nicht nur der Lohnabhängigen, sondern auch der „undogmatischen“ Linken. Trotz anfänglicher Sympathien, die die RAF besonders nach dem Tod der jungen Petra Schelm in der Bevölkerung sehr wohl hatte (vgl. die oben angeführte Umfrage des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts), schaffte sie es nicht, die Menschen zu aktivieren, die Massen zu mobilisieren, eine Partei oder Bewegung aufzubauen. Im Gegenteil: die ersten Sympathien verschwanden im Zuge der Hetzkampagne der bürgerlichen Medien rasch.

Und die RAF unterschätzte die verhängnisvollen Auswirkungen, die ein Leben im Untergrund, in der Illegalität mit sich bringen. Der Aktionsradius der Gruppe ist extrem eingeschränkt, die Aktivisten können keine Propaganda und Agitation mehr entfalten, keine Meetings abhalten oder frei und öffentlich neue Mitglieder anwerben. Sie können keine revolutionäre Organisation aufbauen. Der größte Teil ihrer Kraft und Energie verschleißt sich in der mühsamen Aufrechterhaltung des Lebens im Untergrund und auf der Flucht. Außerdem bringt die Isolation eine gewisse Realitätsverzerrung und eine enorm übersteigerte Emotionalisierung der politischen Freund-Feind-Beziehung mit sich, die in der klassischen Revolutionstheorie der Linken – bei Marx, Lenin oder Trotzki – überhaupt keine Entsprechung fi­ndet und in dieser sicher auch als kleinbürgerlich diskreditiert worden wäre.

Die RAF unterschätzte letztendlich bei weitem die Wehrhaftigkeit des Staates, der seinen Sicherheitsapparat multiplizierte, der einen massiv verstärkten Fahndungsaufwand leistete, der über Politiker und vor allem über die (bürgerlichen) Massenmedien seine Bevölkerung zu einem nationalen Konsensus Terrorismusbekämpfung einigen konnte und der aus dem von der RAF erklärten Krieg gestärkt und von der Mehrheit der Deutschen umsomehr akzeptiert herausging.

Und auch in Italien oder Uruguay, wo die Brigata Rosso beziehungsweise die Stadtguerilla der Tupamaros (anders als die RAF, die Weathermen oder die japanische Rote Armee) über größte Sympathien in einem Teil der Bevölkerung und auch über eine organisiertere Anhängerschaft verfügten, war das Ergebnis im wesentlichen dasselbe: Die Aktivisten isolierten sich von der Masse der Arbeiterklasse und auch von der Bewegung der politisch Bewußteren; sie sind zu „radikal“ ge­worden und erzeugen bei vielen von ihren potentiellen politischen Anhän­gern eher Unverständnis und Ablehnung. Insofern schiebt der Terrorismus einen Keil zwischen die politisch aktive Spitze und die (potentiell revolutionären) Massen.

Terroristische Aktionen waren auch in Italien und Uruguay Stellvertreteraktionen, die den Kampf der Massen keineswegs förderten, im Gegenteil: Teilweise konfrontierten sie Aktivisten unvorbereitet mit einem Eskalationsniveau, auf das sie nicht vorbreitet waren, und trieben sie so in einen Rückzug von politischer Aktivität. Im günstigsten Fall sympathisieren sie zwar mit den Terrori­sten, sie bleiben (oder werden) aber inaktiv – teilweise in der Hoffnung, die Terroristen werden schon für ihre Sache kämpfen. Auch das Ziel, über terroristische Aktionen in die Medien zu kommen und auf diesem Umweg politische Inhalte unters Volk zu bringen, funktioniert nicht im Sinne der Terroristen, da die (bürgerlichen) Mas­senmedien die zu transportierenden politischen Inhalte unterschlagen und mit der Art und Weise ihrer Berichterstattung eine Solidarisierung meist schon im Keim ersticken.

Durch die Entscheidung für ein terroristisches Konzept wandeln sich die betreffenden Organisationen subjektiver Revolutionäre von politischen zu weit-gehend militärischen, in der nicht mehr politische Fragen im Vordergrund stehen, sondern immer mehr militärstrategische (etwa wann, wo und wie der nächste Anschlag verübt wird etc.). Terrorismus zwingt seine Aktivisten in den Untergrund, von dem aus jede Agitation zum Aufbau einer revolutionären Organisation oder Bewegung extrem schwierig ist. Die Aktivisten müssen einen Großteil ihrer Energie und Kraft einzig für die Aufrechterhaltung des Lebens im Untergrund aufwenden (sind permanent auf der Flucht, permanent bedroht; können zu ihrer Existenzsicherung keinem legalen Job mehr nachgehen, sind insofern auch zu „gewöhnlicher“ Kriminalität wie etwa Banküberfällen gezwungen, wodurch sie wiederum extrem gefährdet sind etc.). Außerdem wirkt die Isolation und die permanente Fluchtsituation zwangsläufig realitätsverzerrend.

In den westlichen Demokratien (und nicht nur dort) sind Staatsrepräsentanten ersetzbar. Das System erwählt sich eine neue „Charaktermaske“ und steht un-gebrochen, in den meisten Fällen sogar noch etwas autoritärer als zuvor. Der Staat benutzt Terrorismus oft auch als Vorwand für innerstaatliche Aufrüstung. Er reagiert etwa mit dem Ausbau seines Polizei- und Militärapparates, Ausbau bzw. Erweiterung eines computergesteuerten Überwachungs- und Erfaßungssystems, Ver­schärfung der Sicherheitsgesetzgebung, Einschränkung der de­mokratischen Rechte der Beschuldigten, wie eventuell auch der Bevölkerung allgemein, Kompetenzerweiterung für Polizei, Mi­litär und Elitetruppen, für Geheimdienste und Verfassungs­schutz, gesonderter Behandlung inhaftierter Terroristen in Hochsicherheitstrakten. Und der Staat nimmt Terrorismus zum Vorwand für politische Repressionen: um alles, was links und kritisch ist, zu kriminalisieren, unliebsame politische Strömungen und Bewegungen zu diffamieren, die legale Linke zu isolieren, die Arbeiterbewegung zu diskreditieren und zu spalten, kommunistische Gruppierungen zu verbieten etc.

Terrorismus ist dabei nicht nur taktisch ungünstig und zwecklos, sondern für die revolutionären Kräfte sogar disfunktional und gefährlich. Terrorismus ist zum Scheitern verurteilt, muß scheitern. Revolutionäres Potential haben einzig die Massen, und sie zu mobilisieren, gelingt nicht mit terroristischen Aktionen. Dazu braucht es eine revolutionäre Organisation, die politisch und schließlich auch organisatorisch in der Lage ist, den Kämpfen der Arbeiterklasse eine system-überwindende Perspektive zu geben.

 

 

Anhang

Rosa Luxemburg zur Frage der revolutionären Gewalt

„Es ist ein toller Wahn, zu glauben, die Kapitalisten würden sich gutwillig dem sozialistischen Verdikt eines Parlaments, einer Nationalversammlung fügen, sie würden ruhig auf den Besitz, den Profit, das Vorrecht der Ausbeutung verzichten. Alle herrschenden Klassen haben um ihre Vorrechte bis zuletzt mit zähester Energie gerungen. Die römischen Patrizier wie die mittelalterlichen Feudalbarone, die englischen Kavaliere wie die amerikanischen Sklavenhändler, die walachischen Bojaren wie die Lyoner Seidenfabrikanten – sie haben alle Ströme von Blut vergossen, sie sind über Leichen, Mord und Brand geschritten, sie haben Bürgerkrieg und Landesverrat angestiftet, um ihre Vorrechte und ihre Macht zu verteidigen.

Die imperialistische Kapitalistenklasse überbietet als letzter Sproß der Ausbeuterklasse die Brutalität, den unverhüllten Zynismus, die Niedertracht aller ihrer Vorgänger. Sie wird ihr Allerheiligstes, ihren Profit und ihr Vorrecht der Ausbeutung, mit Zähnen und mit Nägeln, mit jenen Methoden der kalten Bosheit verteidigen, die sie in der ganzen Geschichte der Kolonialpolitik und in dem letzten Weltkriege an den Tag gelegt hat. Sie wird Himmel und Hölle gegen das Proletariat in Bewegung setzen. Sie wird das Bauerntum gegen die Städte mobil machen, sie wird rück-ständige Arbeiterschichten gegen die sozialistische Avantgarde aufhetzen, sie wird mit Offizieren Metzeleien anstiften, sie wird jede sozialistische Maßnahme durch tausend Mittel der passiven Resistenz lahmzulegen suchen, sie wird der Revolution zwanzig Vendeen auf den Hals hetzen, sie wird den äußeren Feind, das Mordeisen der Clemenceau, Lloyd George und Wilson, als Retter ins Land rufen, sie wird lieber das Land in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandeln, als freiwillig die Lohnsklaverei preisgeben.

All dieser Widerstand muß Schritt für Schritt mit eisener Faust, mit rücksichtsloser Energie gebrochen werden. Der Gewalt der bürgerlichen Gegenrevolution muß die revolutionäre Gewalt des Proletariats entgegengestellt werden. Den Anschlägen, Ränken, Zettelungen der Bourgeoisie die unbeugsame Zielklarheit, Wachsamkeit und stets bereite Aktivität der proletarischen Masse. Den drohenden Gefahren der Gegenrevolution die Bewaffnung des Volkes und die Entwaffnung der herrschenden Klassen. Den parlamentarischen Obstruktionsmanövern der Bourgeoisie die tatenreiche Organisation der Arbeiter- und Soldatenmasse. Der Allgegenwart und den tausend Machtmitteln der bürgerlichen Gesellschaft die konzentrierte, zusammengeballte, aufs höchste gesteigerte Macht der Arbeiterklasse. Die geschlossene Front des gesamten deutschen Proletariats: des süddeutschen mit dem norddeutschen, des städtischen mit dem ländlichen, der Arbeiter mit den Soldaten, die lebendige geistige Führung der deutschen Revolution mit der Internationale, die Erweiterung der deutschen Revolution des Proletariats vermögen allein die granitne Basis zu schaffen, auf der das Gebäude der Zukunft errichtet werden kann.

Der Kampf um den Sozialismus ist der gewaltigste Bürgerkrieg, den die Weltgeschichte gesehen, und die proletarischen Revolution muß sich für diesen Bürgerkrieg das nötige Rüstzeug bereiten, sie muß lernen, es zu gebrauchen – zu Kämpfen und Siegen.

Eine solche Aufrüstung der kompakten arbeitenden Volksmasse mit der ganzen politischen Macht für die Aufgaben der Revolution, das ist die Diktatur des Proletariats und deshalb die wahre Demokratie. Nicht wo der Lohnsklave neben dem Kapitalisten, der Landproletarier neben dem Junker in verlogener Gleichheit sitzen, um über ihre Lebensfragen parlamentarisch zu debattieren, dort, wo die millionenköpfige Proletariermasse die ganze Staatsgewalt mit ihrer schwieligen Faust ergreift, um sie wie der Gott Thor seinen Hammer den herrschenden Klassen aufs Haupt zu schmettern, dort allein ist die Demokratie, die kein Volksbetrug ist.“

(Rosa Luxemburg: Was will der Spartakusbund? (Dezember 1918), in: Rosa Luxemburg Gesammelte Werke 4, S. 444f)