Argentinien: Eine Krise mit Ansage? (Teil 1)

Die Gewitterwolken mehren sich am argentinischen Horizont: zu einem äusserst militant geführten, beinahe vier-monatigen Konflikt über Fragen der Besteuerung von Agrarexporten, der Mitte Juli (vorerst) mit einer demütigenden Niederlage für die Regierung von Cristina Fernandez de Kirchner endete, gesellen sich gegenwärtig rund 30 % Inflation. Hinzu kommen die sich doch recht drastisch eintrübenden Konjunkturaussichten der Weltwirtschaft, welche u. a. die gewichtigen Soja-, Weizen- und Fleischexporte beeinträchtigen dürften.

Auf Regierungsseite übt man sich in Vogel-Strauss-Politik und beharrt z. B. auf dem offiziellen Index, der eine Inflationsrate von lediglich 8 % angibt. Viel mehr als die Aushöhlung der ohnehin angeschlagenen Glaubwürdigkeit erreicht man damit nicht. Eine Alternative, die Illusionen wecken könnte, hat die bürgerliche Polit-Landschaft aber gegenwärtig auch nicht zu bieten. Derweil macht in verschiedenen (Klassen-) Zusammenhängen die Ankündigung einer neuen Krise im Ausmass von 2001 die Runde. Die revolutionäre Linke, damals noch geschwächt von den schwierigen 90er-Jahren unter Menem und daher ohne entscheidenden Einfluss, dürfte dieses Mal besser aufgestellt sein. Ein Bericht aus Südamerika.

 

Teil 1: Ein Blick zurück: Die Krise von 2001

Dass man die Gegenwart nicht verstehen kann, ohne die Vergangenheit zu kennen, ist eine Binsenweisheit. Allerdings ist die Zahl der Länder äusserst überschaubar, die in der jüngsten Zeit einen so dramatischen Einschnitt erleben mussten, wie ihn die Ereignisse des Jahres 2001 für Argentinien darstellten. Es führt hier also kein Weg vorbei an einer kurzen Skizze dieser Ereignisse, um den Hintergrund zu haben, vor dem in einem 2. Teil die Schilderung der gegenwärtigen Lage möglich wird.

Der am 20. Dezember 2001 davongejagte Präsident De la Rua war 1999 an der Spitze einer Allianz bestehend aus der Radikalen Partei (Union Civica Radical, kurz UCR) und FREPASO zum Nachfolger Carlos Menems gewählt worden.1 Dabei war sein Vorgänger zugleich sein heimlicher Gegenkandidat gewesen. Denn Menem durfte zwar nach zwei Amtsperioden selbst nicht mehr antreten (sein Versuch einer Verfassungsänderung, die ihm dies ermöglicht hätte, war gescheitert…), er machte aber bei Gelegenheit deutlich: solange seine Partido Justitialista (PJ, die Peronisten) an der Macht bliebe „somebody else will be in office, but I will be in power“. Damit war es allerdings nach einem Jahrzehnt der Privatisierungen, der Austeritätspolitik und der offensichtlichsten Korruption vorbei: der PJ-Präsidentschaftskandidat und vormalige Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Eduardo Duhalde erlitt mit einem Stimmenanteil von gerade mal 38 % eine deutliche Niederlage, ohne dass De la Rua (48.5 %) seinerseits im Vorfeld der Wahl viel von seinem politischen Programm preisgegeben oder danach viel an Menems Kurs geändert hätte. Was sich allerdings sehr wohl geändert hatte, waren die ökonomischen Rahmenbedingungen, die Menem in den ersten Jahren seiner neoliberalen Regentschaft noch entgegengekommen waren 2.

1997 hatte nämlich die Asienkrise gewütet und sie zeitigte auch im folgenden Jahr rund um den Erdball einige Nachwehen: nicht nur die Erschütterung der russischen Wirtschaft (inklusive Zahlungsunfähigkeit auf Staatsanleihen im Umfang von 13.5 Milliarden US-Dollar), sondern auch die ernsten Schwierigkeiten, in die Argentiniens grosser Nachbar Brasilien geriet, dürfen als ihre Folgeerscheinungen betrachtet werden. Nun ist Brasilien auch heute noch der bedeutendste Empfänger argentinischer Exporte 3, so dass die Währungsabwertung, die man dort zwecks Krisenbekämpfung vornehmen musste, nicht ohne Auswirkungen bleiben konnte: sie ermöglichte es brasilianischen Unternehmen, ihre argentinischen Konkurrenten auf breiter Front zu unterbieten. Binnen kurzer Zeit nahmen Argentiniens Exporte nach Brasilien um 29 % ab und auch für anlagesuchendes (ausländisches) Kapital war das Land damit auf einen Schlag uninteressanter geworden.

Die naheliegende wirtschaftspolitische Antwort wäre natürlich gewesen, den argentinischen Peso ebenfalls abzuwerten. Dazu war Menem allerdings nicht bereit, da dies die Auflösung der 1:1-Dollarbindung bedeutet hätte, die sein Wirtschaftsminister Cavallo 1991 zur Bekämpfung einer langjährigen Hyperinflation eingeführt hatte. So schlitterte Argentinien Ende 1998 in eine Rezession, die letztlich über 4 Jahre andauern und das Bruttoinlandprodukt um beinahe 20 % schrumpfen lassen sollte.

Aber Menems Erbe anzutreten, brachte noch anderes Ungemach mit sich: die offizielle Arbeitslosigkeit stand bei Amtsantritt De la Rua’s (u. a. infolge der umfassenden Privatisierungen 4) bei 14.5 %. Dazu kam der sehr ausgedehnte informelle Sektor. Und in einigen der ärmeren Provinzen war man mit den Lohnzahlungen an LehrerInnen, ÄrztInnen, BeamtInnen usw. bereits mehrere Monate im Rückstand, was regelmässige Streiks und Demonstrationen zur Folge hatte.

Die Verschuldung des Staates wie auch der einzelnen Provinzen war relativ dramatisch – jedenfalls für ein halbkoloniales Land 5. Dementsprechend wurde die argentinische Wirtschaftspolitik seit langem anderswo gemacht: die Geldpolitik aufgrund der Dollarbindung in Washington; die staatliche Ausgaben- und Steuerpolitik beim Internationalen Währungsfonds, mit den im Schuldendienst dringend benötigten neuen Kreditlinien in der einen Hand und dem Strukturanpassungsprogramm in der anderen.

Bruchlinien

Ausbaden mussten dies natürlich in erster Linie die Lohnabhängigen, da dem jeweils angemahnten Zusammenstreichen des Staatshaushalts nicht zuletzt die sozialen Sicherungssysteme und die Löhne im öffentlichen Sektor zum Opfer fielen. Und die „Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen“ erzielte man zu Lasten ihrer Arbeitsrechte.

Aber auch die national ausgerichteten Kapitalfraktionen waren mässig erfreut: denn auf der Jagd nach immer neuen Krediten, um nur ja die u. a. in der Zeit der Militärdiktatur 1976 – 1983 aufgehäuften (Auslands-) Schulden bedienen zu können, wurden Massnahmen gesetzt, die ganz und gar nicht zu einer Erholung der angeschlagenen Wirtschaftslage beitrugen. Im Gegenteil. Menem war sogar so weit gegangen, den USA vorzuschlagen, in Argentinien den Dollar einzuführen, was der Notenbankchef Brasiliens mit der lapidaren Bemerkung quittierte, damit würde das Land „ein zweites Panama“ 6. Derweil saugte der Schuldendienst und die einsetzende Kapitalflucht so viel Geld aus dem Land, dass man bereits Ende 1999 ein Darlehen nur noch zum astronomischen Zinsfuss von 15 % erhalten konnte (bei einer gleichzeitigen Deflation von  1.8 %! Daten nach ECLAC).

Schliesslich waren auch einige der Provinzgouverneure in einer ungemütlichen Position: sie standen einerseits viel unmittelbarer unter dem wachsenden Druck der Bevölkerung und waren daher oftmals versucht, sich ihre Gunst durch Zugeständnisse zu erkaufen. Andererseits wurden sie unter dem Diktat des IWF von der Zentralregierung, von der sie letztlich finanziell abhingen, an die Kandare genommen. Die Bruchlinien verliefen also nicht nur entlang der Klassengrenzen, sondern zogen sich auch vergleichsweise scharf durch die Bourgeoisie und den Staatsapparat.

Das sollte sich u. a. im Zick-Zack-Kurs der oppositionell gewordenen PJ niederschlagen, die angesichts interner Richtungskämpfe und natürlich vor allem eigener Machtansprüche im selben Halbjahr die blutigste Repression befürworten und das neueste Austeritätspaket im Senat niederstimmen konnte. Im grossen und ganzen trug die Partei aber die Politik De la Rua’s mit, da sie sich ja kaum von jener Menems unterschied und die Regierung von Anfang an Züge eines Projektes der nationalen Einheit trug 7.

Die Keime der nachfolgenden Krise waren jedenfalls gesät. Und selbstverständlich standen die Massnahmen, mit denen eine Katastrophe für Millionen von Menschen bei Amtsantritt De la Rua’s noch zu verhindern gewesen wäre: Zurückweisen der Schulden, Zerschlagung des durch und durch korrupten und mit den verschiedenen Kapitalfraktionen auf das innigste verbundenen bürgerlichen Staatsapparats, Enteignung der Industrie und der Latifundien 8, nicht zur Debatte.

Also packte De la Rua den Zweihänder aus: die Repression gegen die ArbeiterInnenklasse und die entstehenden Arbeitslosenbewegungen (Piqueteros), schon unter Menem in unschöner Regelmässigkeit auf der Tagesordnung, wurde noch einmal drastisch verschärft, es kam verschiedentlich zu Toten. Neue Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen wurden fast im Monatsrhythmus verkündet: so wurde beispielsweise das Arbeitsrecht so verändert, dass keine branchenweiten Arbeitsverträge mehr gelten sollten, sondern nur noch Verträge zwischen den einzelnen Unternehmen und ihren Angestellten. Und in einer „Null-Defizit“-Vereinbarung mit den Provinzen wurden die Löhne im öffentlichen Sektor um 13 % gesenkt und gleichzeitig Arbeitsplätze vernichtet. Als die Lohnabhängigen diese und ähnliche Einschnitte mit Streiks beantworteten, schlug ihnen die Arbeitsministerin Patricia Bullrich vor, stattdessen einen Stundenlohn in einen Solidaritätsfonds einzuzahlen…

Die Lage verschärfte sich zusehends: die offizielle Arbeitslosigkeit erreichte 20 %, zusätzlich waren 15 % unterbeschäftigt. Ein Drittel der Bevölkerung lebte bereits unter der Armutsgrenze und jeden Tag kamen 2.000 Menschen dazu.9 In einem Land, in dem die Bedingungen für Ackerbau und Viehzucht zu den besten der Welt gehören, mussten die Menschen Hunger leiden und gleichzeitig zusehen, wie tausende Tonnen Fleisch nach Europa abtransportiert wurden.

Die Bedingungen prägten nicht nur den Alltag der unmittelbar Betroffenen, sondern auch das Stadtbild und sogar die Unterhaltungsindustrie. Während die städtischen Armen scharenweise mit Einkaufswagen die Strassen nach Karton durchforsteten, um für’s Recycling ein paar Pesos einzustreichen, zeigte das argentinische Fernsehen Gameshows, in denen der Sieger einen Job bekam. Immer häufiger brachten die Piqueteros durch Strassenblockaden die grossen Städte zum Erliegen.

Die letzten Tage der Regierung de la Rua

Im November 2001 lag die Kapazitätsauslastung der argentinischen Industrie noch bei gerade mal 60 %. Die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten war auf 9.2 Millionen zusammengeschrumpft (bei einer Bevölkerung von damals knapp über 36 Millionen), ihr monatlicher Durchschnittsverdienst lag bei 576 $. 10

Unter diesen Voraussetzungen waren die vom IWF vorgeschriebenen Haushaltsziele nicht zu erfüllen. Das führte dazu, dass ein bereits zugesagter Kredit über 1.25 Milliarden $ zurückgehalten wurde. Die Unumgänglichkeit einer baldigen Abwertung des Peso zeichnete sich immer deutlicher ab, was Leute mit Ersparnissen dazu bewog, noch zum 1:1 Kurs Dollar einzutauschen und diese meist auch gleich ausser Landes zu bringen. Allein am 30. November mussten die argentinischen Banken so 1.3 Milliarden $ auszahlen.11 Einen drohenden Kollaps des Finanzsystems vor Augen, veranlasste dies die Regierung, Auszahlungen über 250 $ pro Konto und Woche zu verbieten. Das brachte das Fass schliesslich zum überlaufen.

In der Linksradikalismus-Schrift Lenins heisst es: „Das Grundgesetz der Revolution, das durch alle Revolutionen, insbesondere durch die drei russischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts bestätigt worden ist, besteht in folgendem: zur Revolution genügt es nicht, dass die ausgebeuteten und geknechteten Massen die Unmöglichkeit, in alter Weise weiterzuleben, einsehen und eine Änderung fordern; zur Revolution ist es nötig, dass die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben und regieren können. Nur wenn die „unteren Schichten“ die alte Ordnung nicht mehr wollen und die „Oberschichten“ in der alten Weise nicht mehr leben können – nur dann kann die Revolution siegen. Mit anderen Worten kann man diese Wahrheit so ausdrücken: die Revolution ist ohne eine Krise der gesamten Nation (die Ausgebeutete wie Ausbeuter erfasst) unmöglich“ 12

Diese Voraussetzungen schienen nun gegeben: das ohnehin zu einem beträchtlichen Teil verarmte Kleinbürgertum liess sich den limitierten Zugang zu seinen Bankkonten nicht bieten und ging zusammen mit den Lohnabhängigen und den Piqueteros auf die Barrikaden. Derweil warnte der Polizeichef von Buenos Aires, seine 18.000 Leute seien vermutlich nicht sehr zuverlässig, da sie selbst so schlecht bezahlt würden, dass sie einen Einsatz gegen die Massen als „Krieg der Armen gegen die Armen“ auslegen könnten. Unzählige Fabriken waren von den KapitalistInnen aufgegeben worden (in weit über hundert davon wurde allerdings unter ArbeiterInnenkontrolle weiterproduziert). Und die Partido Justitialista schlug De la Rua’s „Angebot der letzten Stunde“ aus, offiziell eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, obschon zu diesem Zeitpunkt nicht klar war, ob und wie man die Dynamik der Bewegung sonst bremsen könnte.

Trotzdem kam es, wie man weiss, nicht zu einer eigentlichen Revolution. De la Rua musste am 20. Dezember 2001 zwar zurücktreten und konnte der aufgebrachten Menge vor der Casa Rosada (dem Regierungssitz) nur entgehen, indem er sich mit dem Hubschrauber vom Dach fliegen liess – nachdem er ein halbes Jahr zuvor noch getönt hatte, er gäbe im Kampf für sein „Null-Defizit“-Programm sein Leben, da er die Menschen damit vor katastrophalen Konsequenzen bewahren würde. Und auch sein Nachfolger Adolfo Rodriguez Saa vermochte sich nur eine knappe Woche im Sattel zu halten.13 Es wurde allerdings rasch deutlich, dass den protestierenden Massen jenseits des „Que se vayan todos!“ (sie sollen alle abhauen!) ein politisches Programm ebenso fehlte, wie eine Partei, welche die Entwicklungen hätte koordinieren und vorantreiben können:

Die Gewerkschaften CGT, CGT-d und CTA, traditionell der Partido Justitialista nahestehend, hatten sich zwar nach der weitgehenden Einfrierung der Bankeinlagen durch die Regierung bereit erklärt, einen Generalstreik auszurufen, der am 13. Dezember stattfand. Daran hatte sich in Argentinien allerdings längst jeder gewöhnt, es war bereits der 8. solche Streik in den zwei Jahren unter De la Rua und nach 24 Stunden war dann jeweils alles wieder beim Alten gewesen. Insofern hatte sich in einigen Teilen der unterdrückten Schichten bereits die Einsicht ausgebreitet, dass die Gewerkschaftsbürokratie solche Anlässe lediglich dazu benutzte, damit die Streikenden „Dampf ablassen konnten“.14 In der Tat weigerten sich die Gewerkschaften dann auch, den Generalstreik auf 48 Stunden auszuweiten und eine Woche später, beim Sturz De la Rua’s, suchte man unter den Protestierenden vergeblich nach den Gesichtern der Gewerkschaftsfunktionäre.

Auch die Organisationen der revolutionären Linken konnten keinen entscheidenden Einfluss gewinnen, was zur Hauptsache zwei Gründe hatte: zum einen lagen mit den Menem-Jahren harte Zeiten hinter ihnen, in denen sie mit Mitgliederschwund und Nachwuchsproblemen zu kämpfen hatten. Und zum anderen konnten viele der Organisationen in dieser Lage der Aussicht auf raschen Massenzulauf nicht widerstehen und konzentrierten sich in ihrer Arbeit nicht auf die noch beschäftigten Lohnabhängigen, sondern auf die Piquetero-Bewegungen. Diesen fehlte es auch keineswegs an der Radikalität der Forderungen und Aktionen – aber an der Stellung im Produktionsprozess, die sie auch über längere Zeit resistent gemacht hätte gegen Versuche, einige von ihnen „einzukaufen“ und damit die Bewegung zu spalten. Insbesondere die Regierung um Nestor Kirchner sollte zwei Jahre später blendend verstehen, durch die Vergabe staatlicher Posten gewisse Piquetero-Strukturen zu kooptieren.

Am 1.1.2002 übernahm De la Rua’s vormaliger Gegenkandidat Eduardo Duhalde das Staatsruder. Er holte als erstes die Abwertung des Peso nach, gegen die sich Menem und De la Rua mit Händen und Füssen gewehrt hatten und liess die drastischen Folgen mit einer (allerdings bloss kosmetischen) Sozialhilfe abfedern. Ein schnelles Ende der Krise war allerdings nicht zu haben, die wirtschaftliche Lage verschärfte sich zunächst eher noch.

Der politischen Situation war allerdings de facto der Zahn gezogen: niemand hatte es verstanden, das sich kurzzeitig eröffnende Vakuum mit einer glaubwürdigen gesellschaftlichen Alternative zu füllen. Fast sämtliche bürgerlichen Parteien hatten sich durch ihre Teilnahme an der Regierung oder durch Komplizenschaft mit derselben diskreditiert, die revolutionär marxistischen Kräfte waren nicht breit genug verankert. Die Bahn war wieder einmal frei für eine Präsidentschafts-Kandidatur mit etwas linkspopulistischer Rhetorik und die gleichzeitige langsame Stabilisierung des Kapitalismus im Rahmen einer sich erholenden Weltwirtschaft.         

 

Zum Weiterlesen:

Argentinien: Eine Krise mit Ansage (Teil 2)

Argentinien: Wegweiser im Kampf gegen die "Neue Weltordnung" (15.01.2002)

 

 

 Fussnoten:


1 Jenseits der beiden grossen Parteien UCR und PJ ist die parlamentarische Landschaft Argentiniens recht zerklüftet und kompliziert: FREPASO wurde 1994 als „Föderation“ verschiedener Parteien ins Leben gerufen: 1. der Frente Grande, die im Jahr zuvor um einen Kern ehemaliger Peronisten entstanden war, die sich vom Rechtsruck der PJ unter Menem distanziert hatten. Der Frente Grande floss zum Zeitpunkt der Gründung von FREPASO gerade eine Fraktion der Unzufriedenen aus der UCR zu, während sich andererseits ihr linker Rand, bestehend aus der KP Argentiniens und der Frente del Sur um den Filmemacher Fernando Solanas (u. a. „Chronik einer Plünderung“ über die Menem-Jahre) herauslöste. Sodann 2. der Unidad Socialista, ihrerseits wiederum ein Bündnis aus der Partido Socialista Popular und der Partido Socialista Democratico und schliesslich 3. der Partido Democrata Cristiano. Mit dem Fall De la Rua’s, der selbst allerdings der UCR angehörte, fiel auch FREPASO auseinander, die einzelnen Bestandteile existieren aber weiterhin (wobei die Parteien der Unidad Socialista inzwischen ganz fusioniert haben).

2 Seit 1990 verzeichnete Argentinien folgende BIP-Wachstumsraten (alle Daten nach der Economic Commission for Latin America and the Caribbean der UNO):

1990: – 1.8 %                1996:  5.5 %                2002: – 10.9 %
1991: 10.6 %                  1997:  8.1.%                2003:     8.8 %
1992:    9.6 %                1998:  3.9 %                2004:     9.0 %
1993:    5.7 %                1999: -3.4 %                2005:     9.2 %
1994:    5.8 %                2000: -0.8 %                
1995: – 2.8 %                2001: -4.4 %                        

Zwei Bemerkungen zu diesen Zahlen: einerseits hat die Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC) ihre eigenen Daten im Nachhinein häufig noch recht markant korrigiert. Andererseits weist Eduardo Levy-Yeyati, Lateinamerika-Experte bei Barclays Capital, darauf hin, dass bei niedrigem Wachstum damit zu rechnen sei, dass die Regierung eine „kreative Berechnungsweise“ für das BIP anwende (nachzulesen in: Birgit Jennen, Maximilian Borowski: Stagflation nach Latinomuster. Financial Times Deutschland vom 4.7.08). Auf die verschiedenen Unzulänglichkeiten der Kenngrösse BIP selbst kann an dieser Stelle nicht eingetreten werden.

3 Im Jahr 2005 war das Gewicht Brasiliens für die argentinischen Gesamtexporte mit 21,9 % doppelt so hoch wie jenes der USA (10,3 %). Die Autoindustrie produzierte 1999 sogar zu 50 % für brasilianische Abnehmer. Daten aus Eduardo Molina: America Latina ante los nuevos vientos de tormenta en el escenario mundial. In: Estrategia Internacional 24, S. 111 – 172 bzw. Bill Vann: Argentine Economy in free fall. Artikel auf wsws vom 23. Juli 1999.

4 Stellvertretend für alle anderen Privatisierungen sei hier der 1999 abgeschlossene Verkauf der staatlichen Erdölgesellschaft YPF an die spanische REPSOL genannt – selbst übrigens auch ein ehemaliger Staatsbetrieb. Dabei gingen über 40.000 Arbeitsplätze verloren. Die Bilanz aller Privatisierungen ist mit über 150.000 vernichteten Arbeitsplätzen noch schwärzer, genoss aber das uneingeschränkte Lob der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds. In einem Bericht der Weltbank hiess es: „Das Privatisierungsprogramm [Menems] war einzigartig in der Welt, denn es betraf alle grösseren Unternehmen und wurde in Rekordzeit zum Abschluss gebracht.“ Michel Camdessus, zwischen 1987 und 2000 Direktor des IWF, versicherte in einer 1997 gehaltenen Ansprache an argentinische Banker, dass es solche Reformen (wie in Argentinien) einem Land ermöglichen würden, „qualitativ hochstehendes und nachhaltiges Wachstum“ zu erzielen (New York Times vom 15. Juli 1997). Nur vier Jahre später lag das Land am Boden…   

5 Dass die Verschuldung im internationalen Vergleich nicht aussergewöhnlich war, darauf machte z. B. Tom Lewis in seinem Artikel Argentinas Revolt aufmerksam (in: International Socialist Review, Issue 21, Januar / Februar 2002). Die damals 132 Milliarden US-Dollar Schulden Argentiniens machten gut 45 % seines BIP aus, während z. B. Japan zu 125 und Italien gar zu 130 % ihres BIP verschuldet waren, ohne dass jemand auf die Idee gekommen wäre, für diese Länder Strukturanpassungsprogramme aus dem Hut zu zaubern. Der Vergleich ist allerdings nicht ganz treffend: aufgrund einer viel niedrigeren Länderrisikoprämie (das sind Zins-Aufschläge auf Kredite oder Anleihen infolge grösserer Unsicherheiten) können Länder wie Japan oder Italien ihren Kapitalbedarf über die Finanzmärkte decken und sind nicht auf den Internationalen Währungsfonds angewiesen.

6 Dieser Appell an den Chauvinismus der ArgentinierInnen, sich von einer Quasi-Regionalmacht nicht zu einem US-Schosshündchen machen zu lassen, war allerdings auch nicht ganz uninteressiert: ein unmittelbar unter die Knute des Fed geratenes Argentinien hätte die Zukunftsaussichten für den Wirtschaftsblock MERCOSUR (Mercado Comun del Sur – Gemeinsamer Markt des Südens) praktisch beerdigt und damit Brasiliens Verhandlungsposition über seine eigene Rolle in der Welt geschwächt.
 
[Zum MERCOSUR gehören neben Argentinien und Brasilien als weitere Vollmitglieder Uruguay und Paraguay. Die 2006 vereinbarte Vollmitgliedschaft Venezuelas  wurde bis heute noch nicht ratifiziert. Chile sowie die Mitglieder der Andengemeinschaft: Peru, Bolivien, Ecuador, und Kolumbien figurieren im MERCOSUR als assoziierte Staaten]

Den tatsächlichen Grad der Abhängigkeit Argentiniens von den internationalen Finanzmärkten zeigte übrigens eine Episode aus dem Wahlkampf zwischen De la Rua und Duhalde schlagend auf. Denn als der weit abgeschlagene Duhalde, offensichtlich in einem Akt des verzweifelten Populismus, ankündigte, dass man vielleicht einmal über die Streichung von Argentiniens Schulden reden müsste, sackte die Börse des Landes gleich 9 % ab. Der scheidende PJ-Vizepräsident Carlos Ruckauf wurde daraufhin sofort in die USA abkommandiert, um die Investoren zu beruhigen und Duhalde musste widerrufen.     

7 Beispielsweise wurde De la Rua auf seinen Staatsbesuchen bisweilen von hochrangigen Peronisten begleitet. Und als es immer enger wurde, holte De la Rua mit Domingo Cavallo den ehemaligen Wirtschaftsminister Menems an Bord, den man sowieso nicht als politisch besonders wählerisch bezeichnen kann: zuvor hatte er schon unter der Militärdiktatur das Amt des Zentralbank-Vorstehers ausgeübt.

8 Ein mit Hinblick auf den Grossgrundbesitz in Argentinien mittlerweile berüchtigter Fall ist die Firma Benetton: sie hält über ihre Tochterfirma Compañía de Tierras del Sud Argentino S.A. 900.000 Hektar Land, davon 630.000 in der Provinz Chubut. Die Firma weigert sich gemäss der Tageszeitung Clarin verschiedenenorts, die Grundsteuer zu bezahlen und hat sich ausserdem in einen Rechtsstreit mit einer Mapuche-Familie verstrickt, die Anspruch auf ein 500 Hektar grosses Grundstück erhebt, von dem ihre Vorfahren vertrieben wurden.

9  vgl. Lewis, Argentinas Revolt.

10 Daten nach G. Rojas: Argentina on the edge of default – is Brazil next? (Artikel auf wsws vom 23. November 2001). Bei der Beurteilung des Durchschnittslohns muss man berücksichtigen, dass die Lebenshaltungskosten in Argentinien wesentlich niedriger sind als in Europa. Nach einer Studie hätte eine vierköpfige Familie zur Zeit der Krise etwa 1.000 $ gebraucht, um ihre elementaren Bedürfnisse zu decken. Für Importgüter gelten allerdings Weltmarktpreise, so dass z. B. viele elektronische Geräte für die ArgentinierInnen sehr teuer sind und man heute durchaus auch mal gefragt wird, in wie vielen Raten man eine Rechnung von 40 Peso (nach heutigem Wechselkurs ca. 13 $) bezahlen möchte.

Mittlerweile verrichten wieder über 15 Millionen Menschen Lohnarbeit, der Anteil der prekär Beschäftigten dürfte dabei aber noch immer in der Nähe von 40 % liegen. Im Vorbeigehen: der Economic Survey des ECLAC, der sich auf offizielle Daten aus den lateinamerikanischen Staaten stützt, enthält auch die interessante Definition, die man in Argentinien bei der Berechnung der „Labour Force Participation Rate“ zugrunde legt: „wirtschaftlich aktive Bevölkerung als Anteil der Gesamtbevölkerung in urbanen Gebieten“. Damit ist das Land in Südamerika allerdings keine Ausnahme: auch in Bolivien, Peru, Brasilien, Kolumbien, Ecuador und Uruguay verwendet man ähnliche Methoden, während nur Venezuela, Chile und Paraguay die gesamte Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter als Massstab hinzuziehen.

11 vgl. Lewis, Argentinas Revolt

12 Lenin, Sämtliche Werke, Band XXV, S. 272f. Ein Wort zur Verwendung von „klassischen“ Zitaten: nicht zuletzt im Angesicht des Marxismus-Leninismus hat man es sich ja zur Angewohnheit gemacht, das Auftauchen solcher Zitate als ein Kennzeichen des Dogmatismus zu sehen und stattdessen darauf zu bestehen, man solle doch seinen eigenen Kopf gebrauchen  (unterdessen werden Zitate und Paraphrasen häufig einfach nicht mehr ausgewiesen…). Allerdings scheint man mittlerweile vergessen zu haben, worin der ursprüngliche Grund für diese Spitze gegen das geistlose Wiederkäuen der kanonischen Werke bestand. Denn nicht die Zitate selbst hatte man dabei im Visier, sondern die Funktion, die sie für die marxistisch-leninistische Argumentation erfüllen sollten: also den Irrglauben bzw. die Anmassung, aus den „klassischen“ Werken autoritativ zitieren zu können, d. h. die Wahrheit einer Aussage zu „beweisen“, indem man aufzeigte, dass Marx, Engels oder Lenin das selbe auch gesagt hatten. Dass dies in der Tat gängige Praxis war, äussert sich auch im folgenden Witz, der zu Stalins Zeiten durch die Bürokratie geisterte: „Was ist ein Gedanke?  – Der kürzeste Abstand zwischen zwei Zitaten“.

Ungeachtet dieser eigentlichen Stossrichtung wird der Dogmatismus-Vorwurf heute gerade in der akademischen „Linken“ in völliger Entgrenzung verwendet. Denn nicht nur der Rekurs auf angeblich unumstössliche Autoritäten,  sondern meist auch schon der blosse Versuch, von „klassischen“ Theoremen für die Gegenwart zu lernen, wird mittlerweile so taxiert. Das ist dann keine – berechtigte – Korrektur einer Anmassung mehr, sondern schlicht eine mit modischen Etiketten überkleisterte Form der Diskursverweigerung.

Dass „klassische“ Theoreme keine zeitlosen Wahrheiten sind, ist geschenkt. Und diese Rolle haben sie hier dementsprechend auch nicht zu spielen. Wer aber andererseits bei der Analyse eines Ereignisses am Ahistorisch-Konkreten klebenbleibt, wer nicht aus vergangenen Kämpfen und ihrer (theoretischen) Verarbeitung lernen will, verurteilt sich selbst dazu, immer wieder Fehler zu wiederholen, die schon einmal gemacht – und teils von den Lohnabhängigen sehr teuer bezahlt – wurden.

Die selbst schon zum Stereotyp gewordene Kritik am Dogmatismus ist im Grunde ein alter Hut. Man reiht sich damit schliesslich ebenfalls in eine über 100 Jahre alte, allerdings wenig rühmliche Tradition ein. Und worauf diese Tradition politisch dann meistens hinausläuft, darauf findet man in Was tun? einen bis auf die Namen vollkommen zeitgemässen Hinweis: „Worin die ‚neue’ Richtung besteht, die dem ‚alten dogmatischen’ Marxismus ‚kritisch’ gegenübersteht, das hat mit genügender Klarheit Bernstein gesagt und Millerand gezeigt.“ Lenin, Sämtliche Werke IV/2, S. 132.

13 Es waren in dieser Zeit noch zwei weitere Männer kurzzeitig Präsident Argentiniens: Ramon Puerta, der als Vorsitzender des Senats zum Handkuss kam, weil der FREPASO-Anführer und Vizepräsident Carlos Alvarez schon Ende 2000 zurückgetreten und nicht ersetzt worden war, sowie Eduardo Camaño, Vorsitzender der Abgeordnetenkammer. Sie hatten dieses Amt allerdings nur für zwei bzw. einen Tag inne.

14 Rebellion in Argentina: „You have to take action from below“. Interview mit James Petras (in: International Socialist Review, Issue 21, Januar / Februar 2002). Petras hat in den zwei Jahren vor dem Sturz De la Rua’s mit den argentinischen Piqueteros gearbeitet.