Zur Spaltung der Schweizerischen Volkspartei

Die schweizerische Parteienlandschaft scheint sich derzeit rapide zu verändern: Grüne und Grünliberale gehen seit der letzten Wahl getrennte Wege, auf der anderen Seite fusioniert der Freisinn und die Liberale Partei wohl demnächst zur Freisinnig-Liberalen Partei (FLP). Die  höchsten Wellen schlägt aber derzeit ganz klar die Spaltung der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Dieser Spaltung, ihren Hintergründen und ihrer Bedeutung soll sich der vorliegende Artikel annehmen

 

Ein Sturm im parlamentarischen Wasserglas

Zur Schweizerischen Volkspartei und ihren Spaltprodukten.

Man (über-)nehme: die wirtschaftsliberalen Programmbestandteile der Schweizerischen Volkspartei, eine gute Handvoll ihrer NationalrätInnen und nicht zu vergessen ihre beiden BundesrätInnen mitsamt Anhang und parfümiere diese ungustiösen Zutaten mit einer kräftigen Prise angeblich urschweizerischen Anstands. Das Ganze garniere man schliesslich mit einem eindringlichen Bekenntnis zur Konkordanz – und fertig ist die frischgebackene Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP). Auf der anderen Seite der Spaltung ist das Rezept sogar noch traditionsreicher: die Rest-SVP braut sich ihre eigene Dolchstosslegende zusammen, die sie für die immer deutlicher hervortretenden Risse in ihrem Fundament verantwortlich machen kann. Derweil sie sich mit den DeserteurInnen noch Grabenkämpfe lieferte, endete ihre als fremdenfeindliches Vereinigungsprojekt konzipierte sogenannte „Einbürgerungsinitiative“ an der Urne in einem Fiasko. Die Häme auf der linken Seite des parlamentarischen Spektrums ist gross und der Freisinn freut sich nach Jahren des Niedergangs schon auf neuen Wählerzulauf.

Währenddessen bedürfen aus marxistischer Perspektive die meisten Fragen dringend des näheren Zusehens: handelt es sich bei diesen Vorgängen tatsächlich um Zersetzungserscheinungen der parlamentarischen Rechten oder gar um eine Krise des gesamten bürgerlichen Polit-Systems? Oder inszeniert die neue Konstellation in der Parteienlandschaft bloss das Gleiche nochmal anders? Und: welche Auswirkungen auf die derzeitige Form des institutionalisierten Klassenkompromisses hat man zu gewärtigen?

Als 2003 der Liechtensteinische Fürst Hans Adam II. den für seinen Geschmack etwas widerspenstig gewordenen Untertanen drohte, er werde sich in Richtung Österreich verabschieden, wenn man seine Macht nicht per Verfassungsrevision ausbaue, wurde das in der Schweiz (wenn überhaupt) mit einem selbstgefälligen Lächeln zur Kenntnis genommen: in der besten Demokratie der Welt hatte man dergleichen ja nicht zu fürchten. Das war einmal. Als am 11. April dieses Jahres die bürgerliche Frauenorganisation Alliance F (und mit ihr übrigens u. a. die Gewerkschaften…) zu einer Solidaritätskundgebung mit der damals formell noch in Diensten der SVP befindlichen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf aufriefen, schrieb der Tages Anzeiger unter ein Bild vom menschenübersäten Berner Bundesplatz: „Trotz Regen gingen über 10'000 für die Demokratie auf die Strasse.“ Was sich mit Bezug auf die Schweiz für viele anhören mag wie der einsetzende Untergang des Abendlands ist in Wahrheit nichts als ein weiterer Akt einer parlamentarischen Schmierenkomödie gewesen, als deren Ouverture man gemeinhin die Abwahl des schwerreichen Industriellen und Rechtspopulisten Christoph Blocher aus dem Bundesrat ansieht. Es ist seither nicht der letzte Akt geblieben. Aber der Reihe nach.

Die schweizerische Bundesratswahl ist nicht gerade berüchtigt für überraschende Ergebnisse. Das einzige, was in diesen sogenannten Erneuerungswahlen üblicherweise „erneuert“ wurde, war die Amtsperiode der bisherigen Bundesräte. Ein Ausscheiden aus diesem Gremium war demgegenüber mehr oder weniger Privatsache: einmal gewählt, hatte man seinen Sitz in der Regel bis zum Einreichen des Rücktritts auf sicher. 2003 kam dieses durch das Konkordanzprinzip und die sogenannte „Zauberformel“ abgestützte System erstmals in Bewegung1. Damals verlangte die abermalige klare Wahlsiegerin SVP (+ 4,1 % der Stimmen nach + 7,6 % bei der Wahl 1999) eine angemessene Repräsentanz auch in der Exekutive und drückte auf Kosten der CVP-Vertreterin Ruth Metzler ihr Zugpferd Christoph Blocher in den Bundesrat. Da dieser allerdings seine Rolle als selbsternannter Oppositionsführer auch innerhalb der Regierung nie richtig aufgab, folgten vier Jahre voller unappetitlicher Polemiken und Verunglimpfungen. Auch die „Andersgläubigen“ in der eigenen Partei bekamen ihr Fett weg: die Bündner NationalrätInnen Gadient und Hassler wurden aus der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur bzw. der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit abberufen, weil sie zu oft von der Linie des „Parteiführers“ abwichen2. Und Bundesrat Samuel Schmid konnte beinahe im Wochenrhythmus in der Presse lesen, die Partei sehe in ihm ein Kuckucksei, das sie lieber heute als morgen aus dem Nest werfen würde.

Die Messer gegen den selbstherrlichen Blocher waren daher gewetzt, als einem „links-bürgerlichen“ Lager Ende 2007 der Coup gelang: es vereinigte bei der Bundesratswahl seine Stimmen auf die bisherige Finanzdirektorin des Kantons Graubünden und Parteikollegin von Blocher, Eveline Widmer-Schlumpf. Ungeachtet des massiven Drucks aus ihrer eigenen Partei, zu Blochers Gunsten die Wahl auszuschlagen, liess sich diese nach eintägiger Bedenkfrist vereidigen. Von den Parteihardlinern öffentlich als „Meuchlerin“ tituliert, wurde sie umgehend aus der SVP-Fraktion verstossen, welche nun geschlossen in die Opposition gehen sollte3.

Opposition und Konkordanz

Gegen diesen verordneten Oppositionskurs regte sich allerdings von Beginn weg unerwarteter Widerstand. Denn beträchtliche Teile der SVP-Sektionen in Bern und Graubünden fühlten sich durch „ihre“ BundesrätInnen (den ebenfalls aus der Fraktion „ausgeschlossenen“ Samuel Schmid und eben Eveline Widmer-Schlumpf) durchaus angemessen im Bundesrat vertreten und sahen keinen Grund, die Schlappe des besonders offen xenophoben Zürcher Flügels mit dem Ausscheiden aus der Regierung zu bezahlen. Ausserdem – und das dürfte die eigentliche materielle Basis für diesen Widerwillen darstellen – sitzen nicht wenige Leute in der SVP in kantonalen und kommunalen Gremien und sind da auf die einigermassen reibungslose Zusammenarbeit mit genau jenen Parteien angewiesen, welche auf nationaler Ebene nun einem Frontalangriff unterzogen werden sollten. Damit wären die Chancen auf Wiederwahl aufgrund des Majorzsystems vielenorts massiv beeinträchtigt.

Man kokettierte jedenfalls vorerst in aller Öffentlichkeit damit, bis zu einen Drittel der bisherigen SVP-Fraktion herauszubrechen und damit eine neue Fraktion zu konstituieren. Noch setzte sich aber die Einschätzung durch, dass eine solche Fraktion zwischen dem Freisinn und der Oppositions-SVP unweigerlich zerrieben würde. Daher liessen sich bei der entscheidenden Fraktionssitzung letztlich beinahe alle auf den neuen Oppositionskurs einschwören (es gab dazu lediglich noch 3 Gegenstimmen).

Wie das mit dem Opponieren genau gehen soll innerhalb eines politischen Systems, das ganz auf Konsensfindung ausgerichtet ist, war und ist allerdings alles andere als klar. Das Gespür für Themen, mit denen man nicht nur bei Reaktionären und den jeweils unmittelbar bedienten Interessengruppen, sondern – mit allerhand Scheinlösungen und Folklore im Gepäck – auch bei den Desorientierten und Verzweifelten punkten kann, scheint die SVP jedenfalls verlassen zu haben. Die Einbürgerungsinitiative wurde mit fast 64 % Nein-Stimmen wuchtig abgelehnt. Von der angekündigten Flut von Initiativen und Referenden hat man ansonsten bislang wenig gesehen. Das gewichtige Zeitungsprojekt, dass laut dem früheren SVP-Präsidenten Ueli Maurer für den Fall einer Abwahl Blochers lanciert werden sollte (und das angeblich fixfertig in der Schublade liegt und nurmehr herausgezogen werden müsste), ist ein bis heute ungelegtes Ei. Man könnte sich fragen, woran das wohl liegen mag. Denn an der ausreichenden Finanzstärke für dergleichen Unterfangen mangelt es wahrlich nicht.

Vielmehr hat die SVP nach einigen Monaten des selbstbetäubenden Aktivismus einsehen müssen, dass sie auf dem Holzweg ist. Das Kapital will die Sozialpartnerschaft aushöhlen, nicht auflösen – jedenfalls noch nicht4. Die Attacken auf die ArbeiterInnen und Angestellten, teilweise auch auf die Gewerkschaften selbst, sollen dadurch zum Schein gemildert werden, dass man die Sozialdemokratie als Feigenblatt in der Regierung behält. Zumal sie in den meisten Fällen ohnehin brav kooperiert und wenigstens den kapitalistischen Rahmen nicht einmal mehr rhetorisch in Frage stellt5. Und zumal die parlamentarische Linke – selbst wenn man die Grünen dazuzählt – bei nationalen Wahlen kaum je ein Drittel der Stimmen erhält. So gibt es für eine rechte Massenpartei jenseits der Konkordanz derzeit wenig Verwendung

Rechtsum kehrt – aber ohne Gesichtsverlust

Wie aber zurückrudern, ohne das Gesicht zu verlieren? Und dies vor allen Dingen schnell, denn die biologische Uhr tickt: der Leitwolf Blocher ist in die Jahre gekommen (er wird heuer 68), eine ganze Reihe der profilierteren SVP-Exponenten ist bei der nächsten nationalen Parlamentswahl 2011 Ende Fünfzig / Anfang Sechzig und das Nachwuchsproblem der SVP hat in der Person des unbedarften neuen Parteipräsidenten Toni Brunner (33) bereits Gestalt angenommen. Die Antwort fiel klar und eindeutig aus: eine Rückkehr in die Regierung lässt sich nur verkaufen, wenn sie auf Kosten der „Verräterin“ geht6.

Also wurde der heuchlerische moralische Kreuzzug gegen Eveline Widmer-Schlumpf wieder in voller Intensität aufgenommen. Mit dergleichen kennt man sich aus bei der SVP, denn die Partei mimt seit Jahren bei jeder Gelegenheit das Opfer (und trägt diese Rolle jeweils in einer Weinerlichkeit vor, die zu der aggressiven Weise, in der AusländerInnen, EmpfängerInnen von Sozialtransfers und andere willkommene Projektionsflächen angegriffen werden, in auffälligem Kontrast steht).

Die Bundesrätin ohne Fraktion, die aber immer noch Mitglied der SVP war und auch wiederholt betonte, dass sie deren politische Positionen (wenigstens mehrheitlich) teilt, wurde in einer Pressekonferenz vom 2. April ultimativ aufgefordert, per 11. April aus der Partei auszutreten sowie ihr Bundesratsmandat zurückzulegen. Bei einer Weigerung sollte die kantonale SVP Graubünden nachhelfen und Widmer-Schlumpf bis Ende des selben Monats ausschliessen. Und bei Gelegenheit schob man gleich noch die Drohung nach: für den Fall, dass die bündner Sektion der nationalen Führung in dieser Sache die Gefolgschaft verweigere, werde sie als ganze aus der Partei geworfen.      

Die in der Pressekonferenz gesetzten Fristen schmiegten sich einerseits eng an die kurzen Zyklen der hiesigen Boulevardkampagnen an, liessen aber auch klar durchblicken, dass man weder von Seiten von Widmer-Schlumpf, noch von jener der Kantonalpartei Graubünden ernstlich erwartete, dass sie auf die Forderungen eingehen würden. Und auch darauf, dass bei der Berner Sektion eine Gruppe um den zweiten Bundesrat Samuel Schmid im Protest den Austritt geben würde, wird man höchstwahrscheinlich spekuliert haben. Jedenfalls nahm man diese „Flurbereinigung“ eher mit Erleichterung auf. Auch daran ist man bereits gewöhnt, denn es handelt sich nicht um den ersten SVP-Splitter. Schon vor der Wahl 2007 hatte sich der Aargauer SVP-Nationalrat Ulrich Siegrist mit der Partei überworfen und war mit einer eigenen Liste angetreten, dem „Forum liberale Mitte“7. Auch im Kanton Zürich haben sich einige ehemalige SVP-ExponentInnen in die Kleinstparteien Demokratische Partei oder Partei für Zürich abgesetzt und in Bellinzona kandidierte der Bürgermeister Brenno Martignoni, der sich im Arbeitskampf bei SBB Cargo als Volkstribun zu profilieren versuchte, auf einer eigenen Liste mit dem wunderlichen Namen „Der Nussbaum“ für eine Wiederwahl. 

Eher als diese Absetzungsbestrebungen machte den SVP-Parteistrategen sicherlich die eingangs erwähnte gut besuchte Solidaritätskundgebung mit Eveline Widmer-Schlumpf zu schaffen, mit der die aus verschiedenen politischen Richtungen kommenden Gralshüter der Demokratie den totalitären8 Stil der SVP-Forderungen zurückweisen wollten. Ins gleiche Horn bliesen 126'422 Leute9, die sich innert knapp 20 Tagen über eine Online-Protestnote zu Wort meldeten und etwa auch ein Kreis um FDP Alt-Bundesrat Rudolf Friedrich, der für über einhunderttausend Franken Inserate in den verbreitetsten Schweizer Tageszeitungen schaltete, um sich gegen das angeblich drohende Ende der Demokratie zu stemmen.

Erzwungene Parteigründung

Eine abermalige Kurskorrektur stand für die SVP jedoch nicht zur Debatte. Der Parteiausschluss der Bündner Sektion wurde vollzogen. Damit wurde der „liberale“ – d. h. vor allem rhetorisch gemässigte und etwas konsensorientiertere – Flügel der SVP praktisch zur Gründung einer neuen Partei gezwungen. Diesen Weg vorgespurt haben inzwischen die Sektionen in Graubünden und Bern, die bereits eine kantonale Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP) gegründet haben, sowie eine Fraktion im Kanton Glarus, die sich ebenfalls in Kürze als neue Partei konstituieren wird. Die BundesrätInnen Schmid und Widmer-Schlumpf haben zugesagt, Teil der nationalen BDP sein zu wollen, die man diesen Herbst begründen will. Ausserdem verfügt man bereits über vier National- und ein Ständeratsmandat sowie zahlreiche kantonale und kommunale Mandate. Zur Gründung einer eigenen Parlamentsfraktion, was mit einem Betrag von jährlich 94'500 Franken aus der Bundeskasse dotiert wäre, braucht es allerdings 5 NationalrätInnen, was die medialen Spekulationen in den letzten Wochen so ziemlich ins Kraut schiessen liess. Bislang sieht es jedoch nicht danach aus, als ob man fündig würde.

Auf der Ebene der Parteibasis rechnet man damit, zwischen 50 und 60 % der insgesamt 3’500 Mitglieder aus dem Kanton Graubünden gewinnen zu können, in Bern wurden bereits mehr als 300 Partei-Eintritte vermeldet. Interesse bekundet wurde aber auch aus den Kantonen Zürich, Thurgau, Zug. Und auch einige Mitglieder in Sektionen der französischsprachigen Schweiz scheinen durchaus gespalten, wohin ihr politischer Weg gehen soll.

Diese Entscheidung wird sicherlich nicht erleichtert durch den Umstand, dass sich BDP und SVP programmatisch kaum unterscheiden, was von Polit-JournalistInnen auch regelmässig moniert wird. „Anstand allein ist noch kein Programm“ ist wahrscheinlich der Satz, der zur Zeit am häufigsten durch den Blätterwald und die Fernsehstudios geistert. So oft, dass ihn die frisch gewählte Präsidentin der BDP Bern, Beatrice Simon, gleich in ihr Argumentarium übernommen hat. In der Tat: insofern von Seiten der BDP Anstand, Respekt und Toleranz im Sinne von moralischen Trümpfen bemüht werden, werden sie wohl kaum auf breiter Front verfangen. Indes kommt es auf diese Werte auch nicht um ihrer selbst willen an. Vielmehr sollen die SVP und damit die von ihr vertretenen Teile der Gesellschaft in der Konkordanz gehalten werden. Diese und nur diese Funktion erfüllt nun stellvertretend die BDP – und zwar nur solange die SVP selbst an ihrem Oppositionskurs festhält. Sollte die SVP dereinst auf diese Rolle selbst wieder Anspruch erheben und – möglicherweise nach dem Rückzug Blochers aus der Politik – auch glaubwürdig versichern können, den Rahmen einigermassen zu achten, werden die Parteien, welche im Moment in die Anstandsforderungen der BDP einstimmen, das Spaltprodukt bereitwillig zum Bauernopfer machen.    

Die SVP – ein Flickenteppich

So weit, so gut. Bisher haben wir allerdings die Erscheinungen überwiegend zu ihrem parlamentarisch-politischen Nennwert genommen. Nun wollen wir ihr ökonomisches und soziales Substrat stärker mit in Betracht ziehen und auf dieser Grundlage dann auch die eingangs erwähnten Fragen zu beantworten suchen.

Die unterdessen eskalierten Grabenkämpfe in der SVP kamen für viele überraschend, hatte man es in der Vergangenheit doch jeweils bestens verstanden, eine eiserne Parteidisziplin durchzusetzen. Selbst der Umstand, dass die SVP (vor allem in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre) die Wählerschaft anderer rechtsgerichteter Parteien und nicht selten auch gleich deren Exponenten zu schlucken hatte10, schien dem weitgehenden Monolithismus der Ansichten keinen Abbruch tun zu können.

Schlüsselt man die Wählerschaft der SVP aber einmal nach soziodemographischen Faktoren auf, wird schnell klar, wo das Konfliktpotential herkommt. Dabei stösst man nämlich auf vier verschiedene Gruppierungen, deren objektive Interessen im Grunde durchaus gegenläufig sind oder wenigstens sein können: auf der einen Seite die Stammwählerschaft der 1936 als gesamtschweizerische Partei gegründeten Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei11. Für deren Klassencharakter und die daraus erwachsenden Ideologeme finden wir keine entlarvenderen Worte als die Hofgeschichtsschreiber der SVP selbst, die wir daher an dieser Stelle gerne direkt zu Wort kommen lassen: „Die Anstösse zur Gründung einer Bauernpartei waren zugleich wirtschaftlicher und politischer Natur: Einerseits war es der wirtschaftspolitische Gegensatz zwischen Bauern und Unternehmern innerhalb der Freisinnigen Partei und andererseits die Untervertretung der Landwirte in dieser Partei. Aber auch der Vormarsch der Sozialisten und die Überzeugung jüngerer Bauernpolitiker, der Freisinn trete zu wenig energisch gegen sozialistische, aber auch antimilitaristische und internationalistische Tendenzen auf, spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Gründung der Bauern- und Bürgerpartei.“12

Es ist unschwer zu erkennen, dass sich da an zentralen Programmpunkten nicht viel geändert hat – sieht man einmal davon ab, dass heute die Bekämpfung des Sozialismus gerade in der Schweiz bloss ein Amalgam aus leerer Rhetorik, groben Verzerrungen und einer tüchtigen Portion Ignoranz sein kann. Mit dem Unterschied zwischen SozialistInnen und SozialdemokratInnen haben es die Rechtsparteien allerdings noch nie besonders genau genommen, insofern lässt man heute auch gerne mal den ein oder anderen Reformisten für seine vermeintlich in marxscher Tradition begangenen Sünden büssen…

Charakteristisch für dieses erste Wählersegment ist jedenfalls der kleinbürgerliche Klassencharakter und / oder der Bezug auf eine ländliche Lebenswelt13. Die kleinbürgerliche Stellung im Produktionsprozess, die Möglichkeit, innerhalb gewisser Grenzen die Arbeitszeit an den eigenen Bedürfnissen zu orientieren, schliesslich die auf dem Land nicht unübliche teilweise Subsistenzproduktion lässt sich ohne grosse Schwierigkeiten in die SVP-Schlagworte „Eigenverantwortung“, „Freiheit“ und „Unabhängigkeit“ übersetzen. Ebenso greift hier der Slogan des Parteilogos, in dem man sich selbst als „die Partei des Mittelstandes“ qualifiziert. Von Bedeutung dürfte ausserdem sein, dass man anders als die Grossbourgeoisie wenigerdavon profitieren kann, wenn ausländische ArbeiterInnen als LohndrückerInnen ins Land geholt werden. Ein solches materielles Gegengewicht zu einer Abschottungspolitik existiert im kleinbürgerlichen Zusammenhang daher nicht und macht offenbar besonders empfänglich für den isolationistischen Kurs der SVP.

Nun reicht dieses Segment bei weitem nicht aus, um die wählerstärkste Partei der Schweiz zu werden, auch wenn hier normalerweise eine hohe Mobilisierungsrate erzielt werden kann. In den Jahrzehnten, in denen es die Hauptstütze der SVP abgab, war sie eine 10 % – Partei mit überschaubaren Fluktuationen nach unten und oben. Das zweite Segment bildet eine national ausgerichtete, konservative Bourgeoisie. Da es in der Schweiz in einigen Bereichen recht hohe Hürden für den Marktzutritt gibt, haben sich z. B. viele Familienunternehmen und mit ihnen oft Strukturen erhalten können, die im internationalen Wettbewerb nicht bestehen könnten und die daher ebenfalls auf Abschottung setzen. Dieses Segment ist, wie man sich denken kann, eher finanziell als personell bedeutsam und dürfte nicht zuletzt dafür verantwortlich sein, dass die SVP jeweils die bei weitem aufwändigsten Kampagnen fahren kann.

Ähnliches gilt für das dritte Segment (bei einer gründlichen empirischen Untersuchung würde man wohl finden, dass sich die Segmente zwei und drei nicht selten auch personell überschneiden), bei dem es sich um wirtschaftsliberale UnternehmerInnen handelt, welche bei der Aushöhlung der Sozialpartnerschaft und der Privatisierung der Unternehmen der öffentlichen Hand gerne ein etwas höheres Tempo anschlagen würden ohne dabei auf die diversen Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. In den Arbeitskämpfen auf dem Bau und bei SBB-Cargo war ihre Stimme laut und deutlich zu hören, wenn von der Abschaffung der Gewerkschaften oder der umgehenden und vollständigen Privatisierung der SBB die Rede war. Als Blocher noch Bundesrat war, hatte er höchselbst ein Privatisierungsprojekt für die Swisscom durchdrücken wollen, war mit diesem Anliegen allerdings gescheitert.

Das letzte Segment ist in seiner Zusammensetzung sicherlich am diffusesten, da es Menschen umfasst, die sich aus verschiedenen Gründen an den Rand gedrängt sehen und die teilweise auch durch ihre fragile Integration besonders empfänglich sein können für jene, die Ängste zu schüren wissen. Ausserdem dürfte (auch) hier die bisweilen zu hörende konservative Anti-System-Rhetorik der SVP greifen14. Neben den bereits erwähnten BewohnerInnen ländlicher Regionen gehören dazu vor allem ältere Leute, nicht Erwerbstätige, WenigverdienerInnen und Menschen mit niedriger Bildung. In diesem Segment wiegt das Fehlen einer gesellschaftlich relevanten linken Alternative sicherlich am schwersten. Die Sozialdemokratie ist da durch ihre jahrzehntelange staatstragende Rolle jedenfalls gehörig diskreditiert und eine revolutionäre Alternative ist für den Grossteil der Bevölkerung im Theaternebel der parlamentarischen Inszenierung weder sichtbar noch denkmöglich (nicht bei ihrer derzeitigen Grösse und nicht nach Jahren der schulischen und medialen Abrichtung).

Viel Lärm um nichts?

Was vermögen nun die hier zusammengetragenen Punkte mit Blick auf die eingangs erwähnten Fragen zu erhellen? Eine Krise der parlamentarischen Rechten liegt sicher nicht vor. Die BDP dürfte in erster Linie wirtschaftsliberale Kräfte ansprechen. Auch die SVP scheint das so einzuschätzen, denn sie hat diesen das im Wahlkampf versprochene Referendum gegen die erweiterte Personenfreizügigkeit geopfert. Man hätte angesichts der Zusammensetzung des eigenen Elektorats auch gerne auf zwei Hochzeiten getanzt, indem man die bisherige Personenfreizügigkeit erneuert, ihre Ausweitung auf Bulgarien und Rumänien aber abgelehnt hätte. Die zweite Abstimmung hätte man wohl bereitwillig verloren, damit aber doch die fremdenfeindlichen Elemente in der eigenen Partei besser bei der Stange gehalten. Nun droht man allenfalls WählerInnen des äussersten rechten Randes an die Schweizer Demokraten zu verlieren, die das Referendum anstelle der SVP ergriffen haben. Um nicht ganz abseits zu stehen, hat man die Junge SVP zur Unterschriftensammlung für das Referendum abkommandiert.

Aber auch die Verschiebungen von wirtschaftsliberalen Kräften in Richtung BDP werden sich wohl in Grenzen halten und sehr wahrscheinlich auch nur temporär sein. Mit der SVP in der Opposition dürfte die BDP für die längere oder kürzere Übergangszeit sogar systemstabilisierende Wirkung haben – so paradox das dem / der BetrachterIn des politischen Alltagsgeschehens derzeit erscheinen mag. Und 2011 könnte auch schon alles wieder beim Alten sein. Es erscheint höchst unwahrscheinlich, dass die SVP nicht wenigstens einen Bundesratssitz zurückerobern kann, wahrscheinlicher sind aber zwei. Noch viel weniger ist das bürgerliche Polit-System in Gefahr. Allerdings zeigt sich wie schon im Fall des einmonatigen Streiks bei SBB-Cargo, wo auch die Rede von der Systemkrise die Runde machte, wie dürftig es in der Schweiz um die Schockresistenz dieses Systems wohl tatsächlich bestellt ist. Es fehlt an entsprechender Erfahrung – wie man sieht nicht nur bei der ArbeiterInnenbewegung (welche bei entsprechender Vorbereitung allerdings in kurzer Zeit grosse Schritte nach vorn tun kann, wie das Beispiel Bellinzona zeigt), sondern auch bei den politischen MagistratInnen, die über Eskalationen normalerweise nur in der Zeitung lesen. Der institutionalisierte Klassenkompromiss schliesslich erfährt in der gegenwärtigen Situation eine gewisse Belastungsprobe. Insofern sind die gegenwärtigen Entwicklungen vielleicht doch nicht nur viel Lärm um nichts, sondern durchaus ein Sturm – wenn auch im parlamentarischen Wasserglas. Solange es nicht gelingt, die SVP oder eine einigermassen gewichtige BDP an ihrer Stelle in die Konkordanz einzubinden, sind unliebsame Misstöne vorprogrammiert. Man lässt die Legitimität der herrschenden Staatsordnung nicht gerne in Frage stellen, auch nicht halbherzig und auch nicht von rechts. Denn man wird diese Legitimität allenfalls noch gut gebrauchen können, wenn man daran gehen will, der ArbeiterInnenklasse die Auswirkungen und Folgen der Kreditkrise auf den Rücken zu laden.

Diese tut gut daran, der ganzen Betriebsamkeit in der parlamentarischen Quatschbude mit grosser Distanz zu begegnen. Auch die Sozialdemokratie hat wieder einmal gezeigt, dass ihre Vorstellung von linker Politik bestenfalls in einer Haupt- und Staatsaktion zur Abwahl eines unliebsamen Bundesrats kulminiert. Sich über die dabei an den Tag gelegte List kindlich freuend, wird man auch in den nächsten vier Jahren der Bourgeoisie die linke Flanke decken – wie auch immer die Regierung zusammengesetzt sein wird. Für die Befreiung der ArbeiterInnenklasse indes wird sich kein Stellvertreter finden, sie wird ihr eigenes Werk sein müssen.  

 

Fußnoten:

1 Konkordanzprinzip: kurz gesagt die Einbindung aller grossen Parteien in die Regierung.
Zauberformel: Zusammensetzung des Bundesrats nach folgendem Schlüssel: je 2 Sitze für die Sozial-
demokratische Partei der Schweiz (SPS), die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) und die Christlich
demokratische Volkspartei (CVP) sowie 1 Sitz für die Schweizerische Volkspartei (SVP) bzw. bis 1971 für
deren Vorgängerorganisation, die Bauern-, Gewerbe, und Bürgerpartei (BGB). Ebenso wie das Konkordanz-
prinzip erhielt die Zauberformel ihre bis 2003 unangetastete Form im Jahr 1959 – mithin unter sozioökonomischen Bedingungen, die von den  heutigen gänzlich verschieden sind.

2 Unter diesem Titel war Blocher laut Zeitungsberichten bei einem parteiinternen Essen von SVP-Fraktionspräsident Caspar Baader eingeführt worden.

3 Dass Widmer-Schlumpf als Bundesrätin eigentlich von vorneherein gar nicht Fraktionsangehörige sein konnte, zählte zu den vielen Spitzfindigkeiten, mit denen sich damals in der Hitze des Gefechts niemand herumschlagen mochte. Als BundesrätIn hat man sich nämlich, getreu der Ideologie des über den Klassen schwebenden bürgerlichen Staates, aus den Niederungen der Parteilichkeit zu verabschieden. Daher ist auch der von Bundesrat Schmid bereits seit längerem gemachte Vorschlag, BundesrätInnen sollten für ihre Amtsdauer ihre Parteimitgliedschaft sistieren, von den verschiedensten Seiten immer wieder aufgenommen worden.

4 Wenn hier vom Kapital die Rede ist, dann im Sinne eines ideellen Gesamtkapitalisten. Dass einzelne Kapitalien und Kapitalfraktionen bzw. die entsprechenden KapitalistInnen von dieser Generallinie abweichen, wird damit voll anerkannt und ist auch massgeblich für die Bedeutung, welche die SVP seit den 90-er Jahren des vorigen Jahrtausends erringen konnte.

5 Als Christian Levrat vor noch nicht allzu langer Zeit das Wort „Klassenkampf“ wieder einmal in den Mund nahm, hagelte es für den Präsidenten der SPS dafür gleich Kritik aus der eigenen Partei – obschon seine Rede mit der Praxis der Sozialdemokratie ja nicht einmal mehr durch einen Glaubensakt vermittelt werden kann. Dass er im Arbeitskampf bei SBB Cargo den Angestellten des Standorts Fribourg zurief, „nur nicht weich zu werden“, ist angesichts des butterweichen Reformismus seiner Partei und ihrer – nennen wir es „Geschmeidigkeit“ in der Klassenkollaboration aber nur noch unverschämt. In der Zwischenzeit ist der Standort Fribourg übrigens geschlossen worden – weil die Angestellten dem Lockruf der sozialdemokratischen Bundesrats-Sirene Moritz Leuenberger erlegen sind und sich an den Verhandlungstisch gesetzt haben…

6 Ganz offen sagte daher der Parteipräsident der Zürcher SVP Hansjörg Frei: „Wichtig ist uns, dass Frau Widmer-Schlumpf ihre Wiederwahl in vier Jahren als Parteilose in Angriff nehmen muss.“ (Interview im Tages-Anzeiger, TA Online vom 9. April). Und Christoph Blocher selbst formulierte nur wenig später in der Neuen Zürcher Zeitung das SVP-Oppositionskonzept wie folgt: „An sich muss die Opposition bei jeder Vakanz im Bundesrat antreten. Das ist ihre Aufgabe. Tut sie es nicht, heisst das, sie will gar nicht in die Regierung. Wir machen nicht Opposition um der Opposition willen. Selbstverständlich wird man stets den Einzelfall prüfen.“ Was mit Blick auf eine Konkurrenzdemokratie mit Regierung und Opposition als Gemeinplatz durchgehen würde, bedeutet für Schweizer Verhältnisse: die SVP würde sich auch mit lediglich einem Bundesratssitz wieder in die Regierung einbinden lassen – auch wenn man sich natürlich weiterhin oppositionell gerieren würde, wenigstens rhetorisch. Unmittelbar nach Blochers Abwahl hatte man da doch bedeutend grössere Töne gespuckt.

7 Er schaffte damit im Aargau über 100'000 Partei-Stimmen oder 4.12 %, was allerdings nicht zur Wiederwahl reichte. Im selben Kanton machte die 920'624 Stimmen (Mehrfachstimmen möglich).

8 Der Totalitarismus-Begriff wurde im konkreten Zusammenhang von CVP-Präsident Christophe Darbellay eingeworfen, er ist aber bei der Charakterisierung des Polit-Stils der SVP und insbesondere Christoph Blochers schon lange eingebürgert. So wurde dieser beispielsweise von FDP-Bundesrat Pascal Couchepin auch schon mal als „Duce“ bezeichnet. Von der Kritikwürdigkeit von Blocher und Konsorten ist natürlich kein Jota zurückzunehmen, ganz im Gegenteil. Was allerdings näher anzuschauen wäre ist wer hier kritisiert und wie. So vergass Darbellay natürlich nicht, seinem Totalitarismus-Vorwurf hinzuzusetzen, das Vorgehen der SVP sei der „ältesten und schönsten Demokratie unwürdig“. Nicht, dass noch jemand auf die Idee käme, an seinem Nationalchauvinismus zu zweifeln… Und zur Kritik der Totalitarismuskonzeption und der damit einhergehenden Gleichsetzung von Rechts und Links vgl. Marxismus Sondernummer 15: Totalitarismustheorie. Rechtfertigungs-ideologie für die demokratische Diktatur der Bourgeoisie.

9 Zur leichteren Einordnung dieser Zahl: die Schweiz zählte über das Jahr 2007 im Schnitt 4'921'794 Stimmberechtigte bei einer durchschnittlichen Beteiligung von 41.2 %.

10 Unter anderem betraf dies die Freiheitspartei, die Schweizer Demokraten und die Republikaner (der langjährige SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer, der 2007 allerdings abgewählt wurde, war in den 70er-Jahren im wörtlichen Sinne die rechte Hand des Republikaners James Schwarzenbach, dem seine Überfremdungsinitiativen zu trauriger Berühmtheit verhalfen). Einzig die Lega dei Ticinesi hat die Konkurrenz der SVP bisher einigermassen unbeschadet überstanden. Jedenfalls vereinigten die kleinen Rechtsparteien 1991 noch 10,8 % der Stimmen auf sich. Heute sind es  2,5 %, während die SVP über den selben Zeitraum 17 % zugelegt hat…

11  Die ältesten Keimzellen der gesamtschweizerischen BGB wurden bereits 1917 bzw. 1918 in Zürich und Bern gegründet

12 Auszug aus der Rubrik „Geschichte“ auf www.svp.ch

13 Bei Gelegenheit sei daran erinnert, dass in der Schweiz nur sechs Städte mehr als 100'000 Einwohner zählen und dass es eine eigentliche Metropole überhaupt nicht gibt. Eine dieser sechs Städte, Winterthur, hat diese Hürde ausserdem erst vor wenigen Tagen genommen und liegt noch sehr dicht bei dieser Marke.
Der Kleinbürger-Begriff ist immer eine der schwammigsten Komponenten der marxistischen Klassentheorie geblieben, ein Defizit, das im vorliegenden Rahmen natürlich nicht behoben werden kann. Sein funktioneller Kern lässt sich aber sicherlich so fassen, dass der Träger der kleinbürgerlichen Charaktermaske weder gezwungen ist, seine Arbeitskraft unmittelbar an einen Besitzer von Produktionsmittel zu verkaufen. Noch lebt er umgekehrt in nennenswertem Umfang von einem Mehrwert, den andere mit in seinem Besitz befindlichen Produktionsmitteln geschaffen hätten. Damit allein ist über empirische Verhältnisse freilich noch nichts Hinreichendes ausgesagt.  

14 So malte Parteipräsident Toni Brunner unlängst wieder mal die drohende „Machtübernahme durch die politische Klasse“ aus. Dem setzte er die SVP als Verteidigerin der Volksherrschaft gegenüber.