Gesundheitsreform in Österreich

Rainer Possert ist Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut und arbeitet in einer kassenärztlichen Praxisgemeinschaft im SMZ Liebenau/Graz. Im Interview mit der RSO spricht er über die Pläne der SPÖ/ÖVP-Regierung zur neoliberalen Umgestaltung des Gesundheitssystems und die Rolle der Ärztekammer…

"Ist von Sparen und Wirtschaftlichkeit die Rede, können PatientInnen nur draufzahlen"

Interview zur Gesundheitsreform in Österreich

Rainer Possert ist Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut und arbeitet in einer kassenärztlichen Praxisgemeinschaft im SMZ-Sozialmedizinischens Zentrum Liebenau/Graz. Im Interview mit der RSO spricht er über die Pläne der SPÖ/ÖVP-Regierung zur neoliberalen Umgestaltung des Gesundheitssystems und die Rolle der Ärztekammer…

Die Gesundheitsreform wird derzeit heiß diskutiert. Was fällt dir dabei auf?

Die Diskussion ist von Phrasen bestimmt, die wir aus der Wirtschaft kennen. Die Rede ist von „Kostenbewusstsein“, ÄrztInnen werden zu „ökonomischer Verschreibweise“ angehalten, es vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht ein „Gesundheitsökonom“ zu Wort meldet, um sich PolitikerInnen anzudienen. Angeblich machen Krankenkassen „Defizite“, als ob sie als selbst verwaltete Versicherungen jemals „Gewinn“ gemacht hätten. Spitäler seien nicht „wirtschaftlich geführt“, das Gesundheitswesen sei in der bisherigen Form „nicht finanzierbar“, „Ressourcen“ würden „vergeudet“. „Pflegenotstände“ werden ausgerufen, einmal sind die Raucher „die Bösen“, die „hohe Kosten“ verursachen, einmal die hoch betagten MitbürgerInnen, dann wieder die Übergewichtigen….

Nichts davon ist wahr, außer der Tatsache, dass die Absicht hinter diesen Formulierungen, die „Liberalisierung“ des Gesundheitswesens ist, an deren Ende die Zerschlagung der Sozialversicherung und die weitgehende Privatisierung der Krankhäuser steht.

Was hältst du von der Wirkstoffverordnung „aut idem“?

Um das Thema verständlich zu machen: Jedes Medikament besitzt einen chemischen Namen, z.B. Diclovenac. Dieser Wirkstoff wird von unterschiedlichen Herstellern erzeugt und hat deshalb von den Herstellern erfundene Namen, im Fall der genannten Substanz z.B. Voltaren, Diclofenac-Genericon, und so fort.

Bisher werden Ärzte/ÄrztInnen von den Kassen zu ökonomischer „Verschreibweise“ veranlasst, d.h. sie sollten das kostengünstigste Medikament aussuchen. Das führt in der Praxis dazu, dass der Computer bis zu 30 im Preis unterschiedliche, mit verschiedenen Firmennamen versehene Medikamente ausspuckt. Das Ziel dieser Maßnahmen ist angeblich die Reduktion der Medikamentenkosten.

Die einfachste und aus der Industrie abgeleitete Maßnahme der Kostenreduktion bei Medikamenten wäre die europaweite Ausschreibung eines Wirkstoffes seitens des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger, mit der Zulassung dieser einen Substanz für z.B zwei Jahre, danach neue Ausschreibung. So macht es die Automobilindustrie bei ihren Zulieferern. Jedoch: In den Krankenkassen und auch im Hauptverband sitzen Vertreter der Wirtschaft, d.h. auch der Pharmaindustrie. Und hat man einmal ein Monopol, sinkt das Interesse am so genannten freien Markt oder freien Wettbewerb.

Ob die Verlagerung der Auswahl des kostengünstigeren Medikaments vom Arzt/von der Ärztin zum/zur ApothekerIn eine reale Verbesserung für die PatientInnen bringt, bleibt fraglich. Die Dominanz der Pharmaindustrie im Gesundheitswesen als Teil des medizinisch-industriellen Komplexes ist auch in anderen Ländern ungebrochen. ÄrztInnenfortbildung bei Kongressen, direkte Finanzierung der Forschung in den Kliniken, Manipulation von Forschungsergebnissen, um Medikamente auf den Markt zu bringen, all diese Einflussnahmen auf ärztliche Tätigkeiten werden durch diese „Reform“ nicht eingeschränkt.

Was ist vom Plan der Umwandlung des Hauptverbandes in eine Holding zu halten?

Der Hauptverband der Sozialversicherungsträger ist die Dachorganisation der Krankenkassen. Sie bestimmen, welche Gesundheitspolitik mit dem Geld der Sozialversicherung gemacht wird. Hier werden also die Gelder der Werktätigen verwaltet, sogar die Pensionsversicherung ist enthalten.

Die neue Holding soll ein Durchgriffsrecht gegenüber allen Krankenkassen bekommen, denn noch sind die verschiedenen Krankenkassen autonom und handeln sich ihre Verträge mit der Ärztekammer aus. Statt über eine Erhöhung der Lohnnebenkosten (also über eine indirekte Lohnerhöhung), mehr Geld in die Kassen zu bringen, gibt es für die Holding nun zwei Milliarden aus der Staatskasse – die ja auch im wesentlichen von den niederen bis mittleren Einkommen finanziert wird. Die Wirtschaft hat sich also viel erspart.

Als Zuckerl drauf erhalten die ArbeitgeberInnenvertreterInnen die Möglichkeit alle nicht genehmen Entscheidungen in Zukunft in der neuen Holding zu blockieren. die VertreterInnen der ArbeitnehmerInnen haben so die Macht über die Gestaltung der von ihnen selbst finanzierten Versicherung verloren. Der zusätzliche Wahnsinn an der Sache ist, dass die Gewerkschaft mitmacht!

Wie sieht es mit der oft zitierten „marktkonformen Effizienz" aus?

Wenn ein Arzt/eine Ärztin einen Kassenvertrag hat, dann läuft dieser gewöhnlich bis Pensionsantritt. Mit neuen Verträgen solle alle fünf Jahre „rezertifiziert“ werden, d.h., die Kassen können nach fünf Jahren z.B. wegen mangelnder „Effizienz“, was immer diese bedeuten mag, kündigen. Damit wird unterstellt, dass ein großer Teil der derzeit niedergelassenen KassenärztInnen uneffizient arbeiten würde, ein Vorwurf, der bis dato noch nie erhoben wurde. Tatsächlich geht es darum, die Kontrolle über ärztliche Tätigkeiten zu verstärken und selbstverständlich auch wirtschaftlichen Druck auszuüben.

Gegen eine Evaluierung wäre grundsätzlich ja nichts einzuwenden, es ist aber immer eine Frage des Kontexts, und in diesem Fall geht es um neoliberale Umstrukturierungen, die die Einführung von Wettbewerb, Marktwirtschaft und Privatisierung im Gesundheitswesen vorantreiben sollen.

Was hältst du von Einzelverträgen?

Obwohl Ärztinnen völlig unterschiedliche Arbeitsfelder und auch Einkommen haben, besteht Pflichtmitgliedschaft in der Ärztekammer, sie ist die gesetzlich verordnete Vertretung aller ÄrztInnen und schließt die Verträge mit den Krankenkassen ab. Diese Verträge können gekündigt oder nicht mehr verlängert werden, sodass im Falle von Uneinigkeit der „vertraglose Zustand“ droht. Das heißt, jedes Arzthonorar muss vom Patienten selbst bezahlt werden. Welchen Betrag jedoch die Kassen den PatientInnen ersetzen, ist unklar. Tatsache ist, dass freie Honorarvereinbarungen für viele ÄrztInnen eine realistische Alternative zu den Kassenverträgen sind. Die Auflösung der Kassenverträge ist die für die PatientInnen schlechteste Wahl. Dann kostet z.B. der Hausbesuch nicht mehr 21.80, sondern 70 Euro, die Infusion nicht mehr 4,62 Euro sondern das Zehnfache.

Sollten die Verhandlungen zwischen der Ärztekammer und den Gesundheitsministerin bzw. dem Sozialminister scheitern, dann könnte es zum Crash in der Gesundheitsversorgung kommen – willkommen im freien Markt!

Wie ist überhaupt die Rolle der Ärztekammer zu sehen?

Auch ein Abschluss jeweils eigener Gesamtverträge mit den Facharztgruppen bzw. AllgemeinmedizinerInnen soll möglich werden. Diese Maßnahmen laufen auf eine Schwächung der Verhandlungsposition der Ärztekammer hinaus.

Durch die geplante Zentralisierung kommen nun die eher im konservativen Lager angesiedelte ÄrztInnenschaft und die Ärztekammer unter Druck. Indem die Ärztekammer dafür eintritt, dass die ArbeitnehmerInnenvertretungen als ihre alten VertragspartnerInnen erhalten bleiben, nimmt die Ärztekammer zumindest vorübergehend eine „fortschrittliche“ Rolle ein, auch insofern als dass sie sich gegen eine Umstrukturierung des Gesundheitswesens von „oben“ einsetzt. . Die ArbeitnehmerInnenvertreterInnen hingegen tun gar nichts!

Inwieweit die Ärztekammer im Laufe des Konfliktes doch noch andere Positionen einnehmen wird, kann dzt. nicht gesagt werden. Wir sollten nicht vergessen, dass z.B. die Ärztekammer für Steiermark vor 7 Jahren für die Auflösung der Verträge eingetreten ist und das Schweizer System favorisiert hat: Die Arztrechnungen werden von den PatientInnen direkt bezahlt und erst später mit den Krankenversicherungen rückverrechnet.

Relativ wenig hört man über die umfassenden Krankenakten, die angelegt werden sollen…

Aller niedergelassenen ÄrztInnen sollen zur Teilnahme an ELGA, dem „elektronischen Gesundheitsakt“ verpflichtet werden. Dabei handelt es sich um eine zentrale PatientInnendatei, in der alle Krankengeschichten gespeichert werden. So sichert sich der Staat den Zugang zu allen PatientInnendaten. Angenommen, in Zukunft würde das Gesundheitswesen tatsächlich privatisiert werden, dann könnten private Anbieter auf all diese Informationen zugreifen. Das führt nicht nur zu gläsernen PatientInnen, so wird auch die Verschwiegenheitspflicht der ÄrztInnen ausgehebelt.

Deiner Meinung nach ist also keine Verbesserung für die PatientInnen zu sehen?

Das einzig Sinnvolle an der Reform ist die Debatte um die Verschreibung der Grundsubstanz. Dadurch würde allerdings die Pharmaindustrie als Beraterin wegfallen. Dabei geht es vor allem um Marketing und Beeinflussung. Davon sind aber nicht nur die niedergelassenen ÄrztInnen betroffen, sondern vor allem die Kliniken: Es existiert kaum noch staatlich unabhängige Forschung, die Krankenhausapotheken bekommen Ärztemuster, die weiterverordnet werden.

Die gesundheitliche Versorgung hingegen wird nicht verbessert, eine Qualitätssteigerung ist nicht zu erwarten. Völlig unberücksichtigt bleibt in der Diskussion die Tatsache, dass Menschen mit niedrigem Einkommen häufiger krank sind und auch früher sterben, als Menschen mit höheren Einkommen. So hat ein ca. 40jähriger Mann mit sehr niedrigem Einkommen den gleichen Gesundheitszustand wie ein 70jähriger Universitätslehrer. Soziale Ungleichheit und Gesundheit – ein Kernthema jeder ernst zu nehmenden Reformdebatte – ist aus dem öffentlichen Bewusstsein entschwunden. Auch dazu leistet diese „Reform“ keinen Beitrag. Stattdessen ist ständig von der Kostenfrage die Rede. Der solidarische Gedanke der Versicherungen soll aufgebrochen werden und nur noch unter ökonomischen Aspekten behandelt werden. Dazu gehört auch die Individualisierung des Krankheitsbegriffs: Nicht die Gesellschaft ist für die Gesundheit ihrer Mitglieder zuständig und daher verpflichtet, gesellschaftliche Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu setzten, sondern jedeR einzelnE soll an der eigenen individuellen Gesundheitsoptimierung arbeiten.