Der Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil entführte die 10-jährige Natascha Kampusch und hielt sie acht Jahre in einem Keller gefangen. Der Unternehmer Josef F. sperrte seine Tochter Elisabeth und mit ihr gezeugte Kinder 24 Jahre lang in ein Verlies. Der PR-Berater Reinhard S. erschlägt seine ganze Familie, um ihr “die Schande” seines finanziellen Scheiterns “zu ersparen”. Die bürgerlichen Medien haben ihre Topthemen gefunden und können wochenlang über die Psyche des jeweiligen “Monsters” erschaudern und sich an den Leiden der Opfer aufgeilen. Wir wollen uns hier nicht mit den Details der einzelnen Fälle beschäftigen, die medial ohnehin endlos ausgewälzt werden. Wir wollen uns stattdessen damit auseinandersetzen, was Priklopil, Josef F. und der “Axtmörder” mit einer Gesellschaft zu tun haben, in der die Mehrheit der ermordeten Frauen durch ihre (Ex-) Partner ums Leben kommen.
Der Kapitalismus ist nicht einfach “die Wirtschaft”, “die Konzerne”, “der Markt” oder “die KapitalistInnen”, sondern jenes Gesellschaftssystem, in dem wir alle leben. Daraus folgt logischerweise auch, dass gesellschaftliche Ereignisse auf der Grundlage der Funktionsmechanismen eben dieses gesellschaftlichen Zusammenhangs erklärt werden müssen, Wir wollen uns deshalb die Aufgabe stellen, die sozialen Grundlagen zu beleuchten, welche ein Verbrechen wie jenes von Amstetten erst möglich machen.
Frauenunterdrückung und Kapitalismus
Auffallend ist, dass sexualisierte Gewalt an Kindern (zumeist als “Kindesmissbrauch” bezeichnet, als ob man/frau Kinder auch richtig “gebrauchen” könnte) sowie Vergewaltigungen fast ausschließlich von Männern begangen werden. Warum ist das so? Das ist nicht in einer “gewalttätigen Natur des Mannes” begründet, wie biologistische Ansätze, wonach es eben fixe psychische Unterschiede zwischen Mann und Frau gäbe, behaupten. Die Antwort auf diese Frage liegt in der Struktur ungleicher Geschlechterverhältnisse in der kapitalistischen Klassengesellschaft.
Natürlich sind Frauenunterdrückung und Sexismus nicht erst im Kapitalismus entstanden, sondern sind von der herrschenden Klasse vielmehr erfolgreich ins kapitalistische System integriert worden. Rein theoretisch könnte das kapitalistische System auch ohne die Existenz dieser spezifischen Unterdrückungsmechanismen auskommen. Das Funktionieren der ökonomischen Ausbeutung basiert auf der Existenz von Klassen, welche die Gesellschaft in BesitzerInnen (von Produktionsmitteln) und Besitzlose (die ArbeiterInnen, die nichts besitzen außer ihre Arbeitskraft und daher gezwungen sind, diese Arbeitskraft zu verkaufen). Damit schaffen die Klassenverhältnisse die Voraussetzung für die Möglichkeit der Ausbeutung der Mehrarbeit der ArbeiterInnen durch die KapitalistInnen. Welches Geschlecht das ausgebeutete Subjekt hat, ist dem/der Kapitalisten/in abstrakt gesehen egal. Er/sie kann zwar den Faktor Geschlecht, genauso wie andere Faktoren dazu verwenden, mehr Mehrwert aus der Arbeitskraft zu pressen, am zentralen Ausbeutungsverhältnis Arbeit-Kapital ändert das aber nichts.
Im real existierenden Kapitalismus, so wie er sich historisch entwickelt hat, sind Frauenunterdrückung und Sexismus jedoch sehr wohl zu einem seiner fest integrierten Bestandteile geworden. Das liegt daran, dass der Kapitalismus nie nur ein ökonomisches Ausbeutungssystem ist, sondern immer auch eine politische Herrschaftsstruktur. Die soziale Unterdrückung, etwa nach Geschlecht und Nation, stellt für die herrschende Klasse ein zentrales Instrument dar, um die ArbeiterInnenklasse zu spalten. Nur mittels dieser (rassistischen, sexistischen…) Spaltungspolitik kann sie die Gefahr einer geeinten ArbeiterInnenklasse, die sich ihrer eigenen Stärke bewusst wird, bannen. Einen politik- und ideologiefreien Kapitalismus wird es daher real nie geben können.
Durch unterschiedliche Sozialisation und Erziehung von Mädchen und Buben in der bürgerlichen Gesellschaft wird diese spezielle Struktur des real existierenden Kapitalismus immer wieder aufs Neue reproduziert. Buben wird mehr Aufmerksamkeit geschenkt, sie lernen sich zu extrovertierten, dominant aufzutreten etc., während von Mädchen oft genau das Umgekehrte verlangt wird. Wenn etwa Buben raufen, wird das positiv bemerkt, da diese eben “so wild” wären, wenn Mädchen das gleiche tun, wird das als “zickenhaft” abgewertet. Die Opferrolle wird Mädchen von Geburt auf anerzogen. Das ist auch ein Grund dafür, warum weibliche Opfer (sexualisierter) Gewalt dies nicht selten als Schande empfinden oder sogar die Schuld bei sich selbst suchen und nicht beim männlichen Gewalttäter.
Besitzdenken von Männern
Eine besondere Form der durch die Sozialisation der bürgerliche Gesellschaft verursachten männlichen Verhaltensweisen ist das typische Besitzdenken. Der junge Mann, der glaubt, die eigene (volljährige) Schwester vor anderen jungen Männern beschützen zu müssen. Der Familienvater, der den Verehrer seiner Tochter um ihre Hand anhalten lässt. Der eifersüchtige Ehemann, der ständig seiner Frau nachspioniert. Der Arbeitskollege, der mit dümmlichem Stolz verkündet, “mein Auto und meine Freundin greift keiner an”. Sie alle sind Ausdruck dieses Besitzdenkens, dessen Quintessenz ist, dass Frau und Kinder eigentlich dem Mann “gehören”.
Seine höchste Entwicklung erreicht diese Ideologie in der bürgerlichen Kleinfamilie, der für den Kapitalismus typischen Form menschlichen Zusammenlebens. Insofern haben auch die drei jüngsten aufsehenerregendsten Gewaltverbrechen in Österreich (der “Fall Kampusch”, der “Fall Josef F.” und der aktuelle Fall des fünffachen “Axtmörders” aus Wien) eines gemeinsam. In allen drei Fällen geht es um Männer, die glaubten, sie könnten über das Schicksal “ihrer” (leiblichen, oder im Fall Kampusch, der durch Entführung erzwungenen) Familie bestimmen. Der “Axtmörder”, der seine Frau, seine siebenjährige Tochter, sein Eltern und seinen Schwiegervater erschlagen hat, “um ihnen die Schmach seiner Schuldenlast zu ersparen” genauso wie Josef F., der seine Tochter 24 Jahre in den Keller sperrt und vergewaltigt, um sie vor “schlechten Einflüssen zu schützen”.
Bis vor relativ kurzer Zeit war das männliche Besitzdenken in der Familie selbst in entwickelten europäischen Industriestaaten noch gesetzlich verankert. Bis Mitte der 70er Jahre hatte der österreichische Ehemann das Recht, seiner Frau die Erwerbsarbeit zu verbieten, wenn sie dadurch ihre “Pflichten als Hausfrau und Mutter” verletzte. Außerdem hatte er ein rechnungsfreies Verwaltungsrecht über das Vermögen der Frau und durfte den ehelichen Wohnsitz bestimmen. Ähnliche Bestimmungen gab es auch in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern. Auch die sexuelle Selbstbestimmung hatte der bürgerliche Staat in einigen Ländern Europas den Ehefrauen bis vor kurzem verwährt: Vergewaltigung in der Ehe ist in der Schweiz erst seit 1992 strafbar, in Deutschland erst seit 1997. Bis 2004 war die Vergewaltigung in der Ehe oder in einer außerehelichen Lebensgemeinschaft in Österreich in bestimmten Fällen nur auf Antrag des Opfers zu verfolgen. Auch wenn diese Gesetze heute beseitigt sind, so wirken doch die dahinter stehenden Ideologien immer noch nach. Tagtäglich produziert die bürgerliche Gesellschaft neue Patriarchen, tagtäglich wird männliche Dominanz und männliches Besitzdenken durch bewusste und unbewusste Kindererziehung reproduziert und nicht selten auch noch bewusst gefördert oder allenfalls positiv konnotiert. Erinnern wir uns nur an die unglaubliche Aussage des Polizeisprechers auf der ersten Pressekonferenz nach dem Bekanntwerden des Falls von Amstetten, der von Josef F. als einem “virilen” Mann von “hoher sexueller Potenz” gesprochen hatte.
Freiheitsberaubung, Bevormundung, sexualisierte Gewalt: Normalität in der bürgerlichen Gesellschaft
Kurz nach ihrer Flucht aus dem Kellerverlies wurde Natascha Kampusch zum Medienstar und zum Liebling der einfachen Bevölkerung. Das arme kleine Mädchen, das vom bösen Fremden am helllichten Tag von der Straße weg entführt wurde – so wie sich das die Kronenzeitung, ÖVP, FPÖ und Co. eben vorstellen. Doch als sich die Indizien verdichteten, dass Kampusch und ihr Entführer Priklopil auch hin und wieder zu gemeinsamen Einkäufen unterwegs waren und sogar zusammen auf Schiurlaub fuhren, da hörte sich die überschwängliche Sympathie plötzlich auf. Das Gratisblatt “Heute” hetzte seine LeserInnenschaft sogar so weit auf, dass in LeserInnenbriefen Sätze zu lesen waren wie jener, wonach sich (sinngemäß zitiert) “Frau Kampusch aus dem Fall Amstetten heraushalten soll, denn denen ist wirklich Leid angetan worden, was man von ihr ja nicht gerade sagen kann. Sie war Einkaufen, Schi fahren etc.” Tja, und wenn frau Schifahren darf, dann kann man sie offenbar in den Augen der bürgerlichen Medien und der von ihr aufgehetzten Bevölkerung ruhig acht Jahre lang einsperren. Das Kippen der öffentlichen Meinung im Fall Kampusch bis hin zur Empörung über das Opfer selbst speist sich wohl aus der Erkenntnis vieler Menschen, dass einzelne Elemente der speziellen Beziehung zwischen Priklopil und Kampusch auch in ihren eigenen sozialen Beziehungen zu finden sind.
Über ihren Entführer sagte Natascha Kampusch kurz nach ihrer Flucht, er habe sie “auf Händen getragen und mit Füßen getreten”. Dieser Satz, der eine Mischung aus Zuneigung und Gewalt, aus Fürsorge und Dominanz ausdrücken soll, kann in Wahrheit auf das Zusammenleben von tausenden Familien in diesem Land umgelegt werden. In gewisser Hinsicht und zugegebenermaßen überspitzt formuliert ist doch jedes Kind einE GefangeneR seiner/ihrer Familie, der/die von Geburt an mit irgendwelchen Menschen zusammenleben muss, selbst wenn sie die grausamsten Sachen mit ihm/ihr anstellen. Wie viele Möglichkeiten zur Flucht gibt es schließlich für ein Kind, das permanent geschlagen oder misshandelt wird? Und selbst erwachsene Frauen können ihren tyrannischen Ehemännern oft nicht entkommen, da sie von ihnen unter anderem finanziell abhängig sind. Weil es im Kapitalismus für einen großen Teil der Bevölkerung überhaupt keine ausreichenden finanzielle Absicherung gibt. Die Hilfeleistungen des bürgerlichen Staats, von Einrichtungen wie Frauenhäusern bis hin zu diversen Almosen, reichen da keinesfalls, im Gegenteil, in den letzten Jahren werden hier die Mittel sukzessive gekürzt. Das ist unter anderem eine materielle Grundlage für Verbrechen a la Josef F.
Insofern spiegelt der Fall von Amstetten die Realität der bürgerlichen Gesellschaft weitaus besser wieder als der Fall Priklopil – denn ersterer ist ein Fall von häuslicher Gewalt in der Familie. ExpertInnen weisen immer wieder darauf hin, dass jedes 3. bis 4. Mädchen und jeder 7. bis 8. Bub mindestens einmal sexuell misshandelt wird. Ebenso bekannt ist, dass die TäterInnen (in den allermeisten Fällen Männer) zu über 90 % aus dem sozialen Nahbereich der Opfer kommen – als Verwandte bzw. Bekannte der Familie. Laut Schätzungen ist in Österreich jede fünfte Frau von Gewalt durch einen nahen männlichen Angehörigen betroffen. Nicht jeder tyrannische Familienvater könnte ein Josef F. werden, aber ein Stückchen Josef F. steckt in jedem von ihnen. Einzigartig ist das Ausmaß von F.’s Verbrechen, nicht aber die dahinter stehende Logik.
Die mediale Berichterstattung und die Aussagen diverser bürgerlicher PolitikerInnen dominiert aber weiterhin der fremde Mann von der Straße (oft auch noch rassistisch konnotiert), der seine Opfer mit Süßigkeiten anlockt oder einfach über sie herfällt. Da verwundert es dann auch nicht mehr besonders, wie eine Psychologin in einer ORF-Sendung agiert: Auf die Frage, was denn Eltern ihren Kindern, die aus den Medien vom Kriminalfall aus Amstetten erfahren hatten, sagen sollten, antwortete die “Expertin”, sie sollten sagen “dein Papa oder dein Opa macht so was nicht”. Zur Aufrechterhaltung des heilen Scheins der bürgerlichen Familie sollen also die Kinder in Sicherheit gewogen werden, anstatt sie (ohne sie in Panik zu versetzen) zu Aufmerksamkeit und Selbstbewusstsein zu erziehen und damit zu Widerstand zu ermächtigen.
Ob bewusst oder unbewusst: die permanente Titulierung des Amstettener Keller-Martyriums als “Inzest-Fall” und deren Leidtragende als “Inzest-Opfer” impliziert, dass das wahre Verbrechen nicht jahrelange sexualisierte Gewalt und Freiheitsberaubung wäre – wie sie, in abgeschwächter Form, tausendfach vorkommen – , sondern der Geschlechtsverkehr zwischen nahen Verwandten. Darüber hinaus wird die Art, wie Herr F. mit seiner Familie oben und unten umgesprungen ist, von der bürgerlichen Öffentlichkeit jetzt zwar oberflächlich als “tyrannisch” kritisiert, was mehr als psychologische Erklärung serviert und nicht so sehr als Problem erkannt wird. Seine Ehefrau hätte nichts von seinen Taten mitbekommen, da sie Angst vor ihm gehabt hätte. Punkt. Wieso eine Frau in einer Beziehung Angst haben muss, wird nicht weiter hinterfragt. Wieso müssen Frauen und Kinder oft Angst vor dem Familienvater haben? Um diese Frage zu klären, wird es notwendig sein, das System Familie näher zu beleuchten.
Die bürgerliche Kleinfamilie
Wenn die Familie, wie Konservative stets behaupten, “die Keimzelle der Gesellschaft” ist, dann müssen sich, folgen wir dieser biologischen Metapher, gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen auch in der Familie wieder finden. Und so ist es auch. In einer männerdominierten Gesellschaft werden auch die Familien in der Regel von Männern dominiert. Doch worauf beruht die Familie überhaupt und welche Funktionen erfüllt sie im Kapitalismus?
Um ihre Produktion zu organisieren, brauchen die KapitalistInnen nicht nur Maschinen und Rohstoffe, sondern auch Infrastruktur (z.B. gute Verkehrswege für den Transport ihrer Produkte) und vor allem Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen. Doch genauso wie kaum einE einzelneR KapitalistIn Straßen und Schienen finanzieren will (da es oft keinen, oder jedenfalls nicht unmittelbar Profit bringt), so verhält es sich auch mit der Ware Arbeitskraft. Für deren Reproduktion ist der Staat als ideeller Gesamtkapitalist (Engels) zuständig, beispielsweise wenn er über die Organisierung eines Schulwesens für die adäquate Ausbildung der Arbeitskräfte sorgt. Es sind aber bei weitem nicht alle Komponenten der Reproduktion der Ware Arbeitskraft staatliche organisiert: Erziehung (teilweise), Abrichtung oder Versorgung zukünftiger oder gegenwärtiger ArbeiterInnen wird im Kapitalismus vom Staat an die Kleinfamilie delegiert, die sich im Prozess der industriellen Revolution mit der Zersetzung der feudalen Produktionsweise entwickelt hat. So heißt es im Artikel 6 des deutschen Grundgesetzes: “(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. (…)”
Wie auch weiter oben in Bezug auf die Frauenunterdrückung beschrieben, muss auch hier zwischen der abstrakten und der konkreten Analyseebene unterschieden werden. Theoretisch könnten im Kapitalismus Funktionen wie Kindererziehung (oder auch Hausarbeit) auch völlig marktwirtschaftlich organisiert sein (und sind es auch zum kleinen Teil). Der real existierende Kapitalismus beruht aber auf der unbezahlten Ausführung dieser Tätigkeiten – die in der Regel durch Frauen erfolgt. Die Kleinfamilie ist also die grundlegende Reproduktionseinheit des kapitalistischen Systems. Als solche bestehen an sie auch ideologisch hohe Ansprüche an “Familienglück” und klassen- und schichtspezifisch an materielle Möglichkeiten. Im Extremfall zieht es ein gescheiterter PR-Berater, der von kapitalistischen Konkurrenz- und Aufstiegsgedanken offenbar völlig zerfressen war, dann vor, seine ganze Familie mit der Axt zu massakrieren, wenn er ihr keinen “angemessenen” Standard bieten kann.
Wenn die beschriebenen Reproduktionsarbeiten nicht gesellschaftlich organisiert werden, dann folgt daraus auch, dass etwaige daraus resultierende Probleme keine Angelegenheit der Gesellschaft sind, sondern Privatangelegenheit. Wenn aus der Nachbarwohnung Schreie zu hören sind, dann hat man/frau sich nicht einzumischen. Wenn wieder einmal ein Mann mit überdurchschnittlich vielen Komplexen eine Trennung nicht verkraftet o.ä. und seine (ehemalige) Partnerin ermordet, dann ist in den Medien von einem “Familiendrama” die Rede. Die Familie, das ist Privatangelegenheit. Darüber hinaus ist ein gewisses Maß an Autoriät innerhalb der Familie vom Standpunkt des Kapitals aus sogar gewünscht, entspricht es doch den Gegebenheiten in den Büros und Fabriken dieser Gesellschaft, wo man/frau sich auch ständig irgendwelchen Autoritäten unterordnen muss.”
Das ist also die Struktur, die hinter der gegenwärtig von vielen beklagten Mentalität des Weghören und Wegschauens steht – einer Mentalität, die nicht einzelnen Individuen oder Völkern anzulasten, ist sondern den Funktionsmechanismen des Systems an sich. Natürlich gibt es auch juristische Möglichkeiten für ein Eingreifen des Staats. So findet sich im oben zitierten deutschen Grundgesetz auch der Passus “Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.” Doch in der Realität erfolgt dies nur in absoluten Ausnahmefällen. Zumeist dann, wenn äußere Kriterien (Kinder sehen “verwahrlost” aus) nicht dem bürgerlichen Ideal entsprechen..
Conclusio
Auffallend ist, dass für viele Menschen (auch für viele Linke, die durchaus Kritik am System Familie haben) die eigene Familie ein wichtiger sozialer Bezugs- und Fixpunkt ist. Das liegt daran, dass die Ideologie der heilen Familie im Kapitalismus eine materielle Grundlage hat. Sie ist tatsächlich einer der wenigen sozialen Zusammenhänge in unserer Gesellschaft, der nicht völlig vom Prinzip der Konkurrenz durchzogen ist, der von vielen als Orts des Rückzugs, der Erholung, der Sicherheit u.ä. angesehen wird. Auch wenn sie – wie oben beschrieben – oft von verschieden starker Unterdrückung gekennzeichnet ist, so ist Familie doch der Ort, an dem man/frau sich geschützt fühlt. Kein Wunder, dass selbst junge Menschen, wenn sie gefragt werden, was ihnen im Leben wichtig wäre, die Familie oft ganz oben anführen. Es ist also nicht nur die finanzielle Abhängigkeit vom “Ernährer”, die viele Familien zusammen hält.
Um der Ideologie der heilen Familie und dem dadurch entstehenden Leid ein für alle Mal die Grundlage entziehen zu können, müsste es eine tatsächlich Alternative geben. Diese kann nur in der Vergesellschaftung von Hausarbeit, Kindererziehung, Erholung und anderen Tätigkeiten, die heute der Familie zugeschrieben werden, liegen (wie auch immer diese Vergesellschaftung dann auch konkret aussieht). Dies ist aber im real existierenden Kapitalismus nicht möglich und somit nur durch eine Vergesellschaftung der Produktion überhaupt zu überreichen, die notwendigerweise eine Beseitigung der kapitalistischen Herrschaftsordnung voraussetzt. Vergesellschaftung der Kindererziehung heißt dabei nicht, dass grimmige Politkommissare den Müttern ihre Babys wegnehmen, ihnen blaue Jacken anziehen und sie in Indoktrinierungsanstalten stecken, genauso wie Vergesellschaftung der Produktion nicht heißt, dass ein Zentralkomitee nur blaue Hosen und rote Pullover produzieren lässt. Vergesellschaftung heißt, dass nicht ManagerInnen über ihre ArbeiterInnen, PolitikerInnen über ihre Bevölkerungen oder Familienoberhäupter über ihre Familien bestimmen können, sondern dass alle Menschen gleichberechtigt und demokratisch ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen – im Rahmen einer demokratisch geplanten Wirtschaft. Eine solche Gesellschaft fällt jedoch nicht vom Himmel, für die müssen wir kämpfen und uns organisieren.
Die Überwindung des Kapitalismus würde Verbrechen wie Vergewaltigung oder Misshandlung von Kindern nicht von einem Tag auf den anderen aus der Welt räumen. Aber sie würde den Grundstein dafür legen, dass die sozialen Grundlagen solcher Verbrechen nicht mehr permanent reproduziert werden.