Der Nahe und Mittlere Osten war in den letzten Jahren ein zentraler Schauplatz der internationalen Politik. Neben der imperialistischen Intervention im Irak spielte dabei der Palästina-Konflikt eine zentrale Rolle. Auch in der Debatte der deutschsprachigen Linken nahm er eine wichtige Stellung ein. Dies ist Grund genug für uns, die Konturen einer marxistischen Herangehensweise zu skizzieren und zur Diskussion zu stellen.
Eine Anmerkung zur Terminologie: Wir sind uns der Problematik bewusst, dass viele Menschen jüdischer Herkunft sich selbst als nicht religiös sehen, daher im religiösen Sinne keine JüdInnen sind und sich nicht so bezeichnen (andererseits aber auch viele nicht-religiöse Menschen jüdischer Herkunft auf diese Bezeichnung Wert legen). Der besseren Verständlichkeit halber sprechen wir dennoch von JüdInnen, einerseits um in Europa die spezifische Geschichte und Kultur dieser Bevölkerungsgruppe darzustellen, andererseits um in Israel den Unterschied zu den PalästinenserInnen mit israelischem Pass klar zu machen.
Zionismus
1. Während des Mittelalters spielten die JüdInnen in Westeuropa die zentrale Mittlerrolle der HändlerInnen. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus wurden ihre ökonomischen Spielräume enger, es kam zu vermehrten Verfolgungen und der Großteil wanderte in das ökonomisch rückständigere Osteuropa aus, wo sie als Fortschrittsbringer freudig aufgenommen wurden. Noch Anfang des 19.Jahrhunders war die übergroße Mehrheit der JüdInnen im Handel und angrenzenden Berufsfeldern aktiv. Doch das Vordringen der kapitalistischen Produktionsweise nach Osteuropa führte zu ihrer Verarmung und Proletarisierung, begleitet von – oft vom Staatsapparat angestachelten – antisemitischen Ausschreitungen und Pogromen. Viele JüdInnen wanderten aus, nach Westeuropa und Übersee, und waren dort zumeist als ArbeiterInnen tätig. Gleichzeitig war das 19.Jahrhundert die Hochblüte einer – meist jiddisch-sprachigen – jüdischen Kultur und der Prozess zur Herausbildung einer eigenen jüdischen Nation in Osteuropa beschleunigte sich. Sein Ausgang war ungewiss, er wurde jedenfalls durch den Holocaust auf unwiederbringliche Weise gestoppt.
2. Während ein Teil der JüdInnen nach Assimilierung strebte und ein zweiter neben staatsbürgerlichen auch national-kulturelle Rechte für sich einzufordern suchte, wandte sich eine dritte, vorerst minoritäre Strömung dem Zionismus zu (auch in der ArbeiterInnenbewegung waren alle drei Strömungen zu finden). Der Zionismus ist eine Spielart des jüdischen Nationalismus, der auf eine Auswanderung und die Schaffung eines jüdischen Staates orientierte. Er stellt eine bürgerliche Ideologie dar, der die Interessen des vom Untergang bedrohten Kleinbürgertums widerspiegelt. Dennoch sind die politischen Grundrichtungen, mit denen der Zionismus verknüpft wurde, weitreichend: Der Bogen spannt sich von ZionistInnen, die sich als MarxistInnen verstanden, bis zu RechtsextremistInnen. War auch die zionistische ArbeiterInnenbewegung nirgendwo in Europa unter den JüdInnen vorherrschend (das waren die sozialistisch orientierte "bundistische" Strömung, die für eine national-kulturelle Autonomie kämpfte, sowie JüdInnen in den verschiedenen nationalstaatlichen sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Parteien), so verfügte sie doch in weiten Teilen Osteuropas über eine proletarische Massenbasis.
3. War der Ort, an dem die ZionistInnen den jüdischen Staat gründen wollten, anfangs umstritten bzw. für viele ZionistInnen auch schlicht irrelevant, setzte sich in Folge die Option Palästina durch, so konnte der ursprünglich säkulare Zionismus hierdurch auch Teile der religiösen Jüdinnen und Juden in sein Projekt einbinden. Eine bekannte Losung des Zionismus war "Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land". Mit der Behauptung, dass Palästina im Wesentlichen unbevölkert sei (und dem Angebot, Palästina für den Westen zu kolonialisieren und zu "kultivieren"), wurde somit bereits die ideologische Basis für die Vertreibung der PalästinenserInnen gelegt.
Die jüdische Einwanderung nach Palästina begann mit der ersten Alijah (wörtlich: Aufstieg) 1882, in den 40 Jahren bis 1933 wanderten circa 180.000 JüdInnen nach Palästina ein, in den fünf Folgenden allein 200.000, meist vom NS-Regime Verfolgte. Hintergrund der Einwanderungswellen waren auch davor vor Allem in Osteuropa (Polen, Russland) die Zunahme des Antisemitismus und wiederkehrende antisemitische Pogrome. Die Mehrheit der JüdInnen flüchtete allerdings vor diesem Antisemitismus nicht nach Palästina, sondern nach Mittel- und Westeuropa sowie nach Übersee. Insgesamt kann festgestellt werden, dass vor allem der Antisemitismus den Zionismus bis weit hinein in die ArbeiterInnenbewegung als attraktive Option erscheinen ließ.
Palästina
4. Die historische Landschaft Palästina an der südöstlichen Küste des Mittelmeeres, seit dem 7.Jahrhundert unter arabischer Herrschaft, wurde Anfang des 16.Jahrhunderts Teil des Osmanischen Reiches. Juden und Christen waren als Dhimmis einer Kopfsteuer unterworfen und durften keine Waffen tragen, waren aber Untertanen des Sultans und durften ihre Religionen frei ausüben. Sie waren zumeist städtische HändlerInnen, während die Großgrundbesitzer und BäuerInnen AraberInnen waren. Mit dem Ersten Weltkrieg nahm die von den imperialistischen Ländern schon länger geplante Zerstückelung des osmanischen Reichs konkrete Formen an: zwischen Großbritannien und Frankreich wurde 1916 das Sykes-Picot-Abkommen geschlossen, mit der Balfour-Deklaration von 1917 versprach Großbritannien den JüdInnen eine "nationale Heimstätte" in Palästina zu errichten. Hiermit sollten einerseits die JüdInnen zur Unterstützung der Alliierten im Ersten Weltkrieg gewonnen werden und andererseits die Kontrolle über den Suezkanal gesichert werden. Die zionistische Perspektive war nur als imperialistisches Projekt durchsetzbar und sollte schließlich auch als solches realisiert werden.
5. Die jüdische Einwanderung nach Palästina wurde von verschiedenen zionistischen Agenturen betrieben, unterstützt von Teilen der jüdischen Bourgeoise. Das Land wurde den arabischen Großgrundbesitzern (die oft in Beirut, Damaskus oder Kairo saßen), abgekauft, die auf dem Land ansässigen PachtbäuerInnen verjagt. Eine zentrale Rolle spielte der jüdische Gewerkschaftsverband Histadrut: War die Anfangszeit der jüdischen Einwanderung noch von gemeinsamen Widerstand der arabischen und jüdischen ArbeiterInnen geprägt, ja spielten die von sozialistischen Ideen inspirierten jüdischen ArbeiterInnen gegenüber arabischen ArbeiterInnen eine zentrale Funktion in der Propaganda des Klassenkampfes, so setzte die Histadrut auf rein jüdische Organisation und versuchte im Namen der jüdischen Kolonisation sogar eine rein jüdische Beschäftigung durchzusetzen. Darüber hinaus war die Histadrut nicht nur eine Gewerkschaft, sondern ein Konzern, der verschiedenste Unternehmen besaß, mit dem Ziel, die Kolonisation Palästinas voranzubringen.
6. Die arabischen Großgrundbesitzer (die selbst Land an die jüdischen KolonistInnen verkauften) und die schwache arabische Bourgeoisie versuchten, den antikolonialen Widerstand gegen die JüdInnen zu lenken. Der große Volksaufstand, der in Folge eines sechsmonatigen Generalstreiks 1936 ausbrach und zu einem dreijährigen Guerillakrieg führte, richtete sich sowohl gegen den britischen Imperialismus als auch gegen die zionistische Kolonisation, zentrale Forderungen waren ein Stopp der jüdischen Zuwanderung und ein Ende des Verkaufs von Boden an JüdInnen. Während Teile der zionistischen Bewegung Terroranschläge auf AraberInnen durchführten, versuchte die arabische Bourgeoisie antisemitische Tendenzen in den Kampf einzubringen – und verriet ihn letzten Endes an die Kolonialherren.
7. Doch Israel als Projekt für wesentliche Teile der JüdInnen ist nicht denkbar ohne den Holocaust, die Massenvernichtung der JüdInnen (sowie von Roma/Sinti, SlawInnen, Behinderten, Homosexuellen, politischen AktivistInnen, …) durch den NS-Terror. Die Vernichtungslager des NS-Faschismus als konsequenter Ausdruck des vor allem in den 100 Jahren davor massiv zunehmenden Antisemitismus ließen es verständlicherweise für viele der überlebenden JüdInnen als nicht mehr sicher und auch nicht besonders attraktiv erscheinen, weiter in Mittel- und Osteuropa zu leben, eine Masseneinwanderung nach Palästina begann. Dies verstehend und respektierend, gilt es dennoch klar festzuhalten, dass diesbezüglich somit nicht die Verantwortlichen für den NS-Terror, das Großkapital und seine faschistischen Fußtruppen, die Folgen des Holocaust tragen mussten, sondern die arabischen Menschen in Palästina, die massenhaft vertrieben wurden, um Platz für den neuen "jüdischen" Staat in Palästina zu schaffen.
Israel
8. Als Folge des sowohl arabischen als auch zionistischen Kampfes gegen die Briten nach Ende des Zweiten Weltkriegs entschloss sich Großbritannien zum Rückzug. Während die Gebiete östlich des Jordans schon 1946 unter der Haschemitendynastie zum Königreich Transjordanien wurden, legte die UNO einen Teilungsplan für die westlichen Gebiete vor, der den JüdInnen (33% der Bevölkerung) 54% des Landes zusprach.
1948 kam es zu Vertreibungen von AraberInnen (die noch immer die Bevölkerungsmehrheit im jüdischen Teil stellten) und einem Angriff von arabischen Armeen, der von Israel (mit Unterstützung der USA, der Sowjetunion und tschechischen Waffenlieferungen) zurückgeschlagen wurde. Israel besetzte 73% des Landes, den Rest teilten sich Ägypten, Syrien und Transjordanien unter sich auf. 750.000 palästinensische AraberInnen wurden vertrieben. Die zionistischen paramilitärischen Verbände der Hagana (der sozialdemokratischen Parteimiliz, die später den Kern der Israeli Defence Forces, IDF, bildete) und der rechten Irgun verbreiteten einen gezielten und mörderischen Terror, um die arabische Zivilbevölkerung zu Panik und Flucht zu veranlassen. Ein großer Teil der arabischen Dörfer, ihre Infrastruktur und ihre landwirtschaftlichen Existenzgrundlagen wurden systematisch vernichtet, um eine Rückkehr auszuschließen und so die ethnischen Säuberungen unumkehrbar zu machen. Die arabischen PalästinenserInnen kamen größtenteils in elenden Flüchtlingslagern in den arabischen Ländern unter (wo sie teilweise bis heute hausen müssen. Die Schuld daran trifft aber auch die arabischen Regierungen, die die PalästinenserInnen teils aus politischen Gründen bewusst nicht integrieren).
9. Der Suezkrieg 1956, als Großbritannien und Frankreich Israel zu einem Krieg gegen Nassers Ägypten anstachelten, das den Suezkanal verstaatlicht hatte, stellte für die internationale Ausrichtung Israels eine deutliche Wende dar. Seit diesem Zeitpunkt sind die USA die klare Schutzmacht Israels, Israel war und ist als untergeordneter Bündnispartner für den US-Imperialismus zur Beherrschung dieser – an Bodenschätzen reichen – Region von überragender Bedeutung, auch als Gegengewicht gegenüber dem of unbotmäßigen arabischen Nationalismus. Der Sechstagekrieg von 1967 (gegen Ägypten, Jordanien und Syrien) diente einerseits der Ausschaltung des palästinensischen Widerstandes und war andererseits ein Schlag gegen den arabischen Nationalismus unter Nasser. Israel besetzte den Golan, die Westbank, den Gazastreifen und die Halbinsel Sinai (die mit dem Frieden von Camp David 1979 an Ägypten zurückgegeben wurde), was zur Flucht und weiteren Vertreibungen von PalästinenserInnen führte. Nachdem Israel im Jom-Kippur-Krieg von 1973 am Rande einer Niederlage stand, kam es auch im zionistischen Establishment zu Diskussionen über die Zukunft des Staates Israel und die weiteren Ziele; während weiterhin einerseits ein Israel in den "historischen" Grenzen inklusive "Judäa und Samaria" (dem Westjordanland) gefordert wurde, setzte ein anderer Flügel vermehrt auf eine indirekte Dominanz über einen halbkolonialen Hinterhof.
10. Die israelische Ökonomie war in den Anfangsjahren stark von den deutschen "Entschädigungs"zahlungen abhängig, die meist direkt an Unternehmen zur Unterstützung des "nationalen Projekts" weitergegeben wurden. Durch die Eroberungen des Sechstagekrieges und die damit zur Verfügung stehende billige palästinensische Arbeitskraft erlebte die israelische Wirtschaft in den Folgejahren den so genannten "Palästinenser-Boom". In den späten 60er Jahren wurden noch vier der fünf großen Industriekonzerne vom Staat, der Gewerkschaft Histadrut und dem Labour-Zionismus kontrolliert, nur einer war privat. Diese Konzerne profitierten massiv von den vermehrten Militärausgaben in Folge von Sechstage- und Jom-Kippur-Krieg, die Militärproduktion wurde zum Schwerpunkt der israelischen Ökonomie.
Die 80er Jahre brachten eine Öffnung zum Weltmarkt mit sich, aus ausländischen Direktinvestoren (oft mit der zionistischen Bewegung verbunden), israelischen Kleinkapital und Teilen der Staatsbürokratie entstand eine neue Klasse von GroßkapitalistInnen. Dies war verbunden mit vermehrten Angriffen auf die ArbeiterInnen und einer Erhöhung des Ausbeutungsgrades. Die verstärkten Angriffe auf den Lebensstandard der israelischen ArbeiterInnen führten in den letzten Jahren zu wachsenden Widerstand gegen die neoliberale Politik und einigen Generalstreiks.
11. Eine ausdifferenzierte moderne Klassengesellschaft begann sich ab den 20er und 30er Jahren langsam zu bilden. Staatsapparat und halbstaatliche zionistische Organisationen (z.B. Histadrut) sollten noch bis in die 70er Jahre die israelische Gesellschaft auch in ökonomischer Sicht dominieren. In der israelischen Klassengesellschaft bilden die europäischen EinwandererInnen vor Allem die ArbeiterInnenaristokratie und spielten die zentrale Rolle im Labour-Zionismus, der Histadrut und im Staatsapparat. In den ersten drei Jahren nach der Unabhängigkeit wanderten 690.000 JüdInnen nach Israel ein, großteils aus arabischen Ländern, sie stellen das Gros des Proletariats dar; eine Schicht tiefer stehen die PalästinenserInnen mit israelischem Pass, die mittlerweile 20% der Bevölkerung ausmachen. Die palästinensischen ArbeiterInnen aus den besetzten Gebieten, die ab den 60er Jahren bis zur ersten Intifada die unterste Schicht der ArbeiterInnenklasse stellten, wurden ab den frühen 1990er Jahren durch GastarbeiterInnen aus Osteuropa und Südasien ersetzt, um sich von ihrem Einfluss auf das reibungslose Funktionieren der israelischen Ökonomie unabhängig zu machen. Und auch die Zuwanderung von JüdInnen aus Russland nach dem Zusammenbruch des Stalinismus vergrößerte das Arbeitskräftereservoir noch einmal bedeutend.
12. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung verstand sich der Staat Israel (in klassisch zionistischer Tradition) als Gegenpol zur jüdischen Diaspora. Im Gegensatz zu den "schwächelnden Diaspora-Juden", die – so die durchaus antisemitische Klischees reproduzierende zionistische Argumentation – angeblich die antisemitischen Pogrome erduldeten und sich im Holocaust "wie Schafe zur Schlachtbank" treiben ließen, sollte mit Israel auch ein neuer jüdischer Mensch geschaffen werden, der stark und selbstbewusst war. Erst in den 60er Jahren, mit Eichmann-Prozess und Sechstagekrieg, verschob sich das nationale Selbstverständnis dahin, dass Israel das aus dem Holocaust entstandene Bollwerk aller Jüdinnen und Juden gegen Antisemitismus sei. Ab dieser Phase kann von einem Abschluss des israelischen Nationsbildungsprozesses (der die in Israel leben JüdInnen umfasst), der in den 20er und 30er Jahren seinen Ausgang nahm, gesprochen werden.
Aktuelle Lage und Einschätzung
13. Der palästinensische Kampf für die nationale Selbstbestimmung wurde Anfangs hauptsächlich von den in der 1964 gegründeten PLO zusammengeschlossenen Organisationen getragen. Unter dem Einfluss ihrer Mehrheitsströmung, der Al-Fatah unter ihrem Langzeitvorsitzenden Jassir Arafat, vertrat die PLO ein bürgerlich-nationalistisches Programm (für ein säkulares, arabisches Palästina) und setzte auf eine Guerillastrategie. Zu einer Einbindung weiterer Teile der palästinensischen Bevölkerung in den Widerstand kam es erst mit der ersten Intifada von 1987. Dieser palästinensische Volksaufstand wurde von der israelischen Besatzungsmacht mit brutaler Repression bekämpft, was zu vielen Toten in der Zivilbevölkerung und zur unzähligen Hauszerstörungen führte. Nach sechs Jahren endete der Konflikt vorerst im Oslo-Abkommen von 1993, das ein Ergebnis der Schwächung der PalästinenserInnen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Golfkrieg 1991 und Ausdruck des Wunsches der reichen arabischen Ölmonarchien nach einem Deal mit dem Imperialismus war. Die PLO-Führung hat die Grenzen Israels und damit die zionistischen Vertreibungen von 1947/48 anerkannt. Den 3,5 Millionen palästinensischen Flüchtlingen wurde damit jede Rückkehrperspektive geraubt. Das Abkommen brachte lediglich die Autonomie des Gazastreifens und von Teilen des Westjordanlandes. Dies entsprach den Zielen (von der Arbeiterpartei vertretenen) Teilen der israelischen Bourgeoise, die die Schaffung eines halbkolonialen Hinterhofes gegenüber der direkten militärischen Kontrolle favorisierte.
14. Für die PalästinenserInnen verschlechterte sich die Situation weiter. Von 1992 bis 2004 verdoppelte sich die Zahl der jüdischen SiedlerInnen in den 1967 besetzten Gebieten, basierend auf Landdiebstahl und Hauszerstörungen, auf 450.000, die die besten Ressourcen (u.a. die wichtigsten Wasserquellen) und Infrastruktur beanspruchten. Hatten 1993 noch 130.000 PalästinenserInnen aus dem Westjordanland und aus Gaza eine dauerhafte Arbeitserlaubnis in Israel, so waren es 2005 nur noch 15.000. Die wirtschaftliche und soziale Situation verschlechterte sich immer mehr, der Lebensstandard ist zwischen 1993 und 2001 um 40% gesunken. Die israelische Militärrepression war nur partiell zurückgezogen, aber weiter allgegenwärtig. Die von der PLO um Jassir Arafat dominierte Autonomiebehörde entwickelte sich schnell zu einer korrupten Institution der palästinensischen Bourgeoisie.
15. Mit der ersten Intifada betrat auch ein neuer politischer Faktor die Bühne, die Hamas. Sie entstand als militärischer Arm des Gaza-Zweigs der islamistischen Moslembruderschaft, die zuvor mit sozialer Wohltätigkeit, aber auch israelischer Unterstützung (zwecks Brechung der PLO-Hegemonie), vor Allem im Gazastreifen unter den PalästinenserInnen Masseneinfluss gewinnen konnte. Der Aufstieg der Hamas zu einem bedeutenden Faktor ging mit der zweiten Intifada ab 2000 einher, bei der der Massenkampf begleitet war durch terroristische (Selbstmord-) Attentate – Kampfformen, die Ausdruck militärischer Schwäche gegenüber dem israelischen Militärapparat sind. Die Rolle der Hamas ist eine zweischneidige: Einerseits ist sie als islamistische Organisation der geschworene Todfeind der organisierten ArbeiterInnenbewegung, andererseits erscheint sie vielen PalästinenserInnen als die konsequenteste Kämpferin gegen das Besatzungsregime.
16. Der zuvor in der islamischen Welt weitgehend unbekannte Antisemitismus fand Anfang des 20.Jahrunderts bei Teilen der Bourgeoisie (durch Rezeption des europäischen Antisemitismus) Niederschlag. Masseneinfluss gewann der Antisemitismus in den islamischen Ländern des Nahen Ostens und der Mittelmeerländer erst ab den 60er Jahren: Getragen von einer Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf erschien diese von insbesondere islamistischen Kräften (wie der Hamas) getragene und sich auf den klassischen europäischen Antisemitismus stützende Ideologie (die z.B. mit der Verbreitung der "Protokolle der Weisen von Zion" einherging, einem vom zaristischen Geheimdienst produzierten antisemitischen Pamphlet, welches eine jüdische Weltverschwörung imaginiert und bis heute vielen AntisemitInnen als "Beweis" für diese gilt) als einfaches (und auch für die herrschenden harmloses, da klassenunspezifisches) Erklärungsmuster. Dennoch ist der arabische Antisemitismus nicht linear mit dem europäischen zu vergleichen. Waren JüdInnen in den letzten Jahrhunderten in Europa eine zumeist verfolgte Minderheit, erlebten Menschen im arabischen Raum den "jüdischen Staat" und die israelische Armee vor allem ab 1948 als AggressorInnen und kolonialistische UnterdrückerInnen.
17. Während ein Teil der europäischen (konservativen) Rechten nach 1945 eine Bewunderung für den "starken Staat" Israel entwickelte, blieb doch der Antisemitismus trotz (oder auch wegen) des Holocaust in Teilen der Rechten und an zahlreichen Stammtischen ein nicht unwichtiger politischer Faktor. Gerade der Versuch, mit dem Hinweis auf die israelische Politik den Holocaust zu relativieren, da ja "die Juden auch nicht besser sein" spielt – gemeinsam mit Versuchen, die US -Unterstützung für Israel mit der "Macht der Ostküste" zu begründen – eine zentrale Rolle.
18. Die neue Intifada war Ausdruck der Enttäuschung über das Oslo-Abkommen und der hoffnungslosen Situation im Westjordanland und im Gaza-Streifen. Sie war von Ariel Sharon aber auch gezielt provoziert worden. Das Ziel der pragmatischen Teile der israelischen Rechten war es, den Oslo-Vertrag aufzukündigen, um in Kooperation mit dem US-Imperialismus eine neue "Lösung" durchzusetzen. Ausgangspunkt für Sharon und seine Hintermänner in der Bush-Administration war die Tatsache, dass im gesamten Gebiet von Israel, Jerusalem, Gaza, Westjordanland und Golan 2005 erstmals seit 1967 keine jüdische Mehrheit mehr bestand, dass trotz der Zuwanderung von osteuropäischen JüdInnen die arabische Bevölkerung schneller wuchs. Da neue Massenvertreibungen dem einigermaßen stabilisierten Verhältnis zu den arabischen Nachbarstaaten abträglich gewesen wären, musste der "jüdische Charakter" Israels, der sich auch auf einen systematischen anti-arabischen Rassismus stützt, anders gesichert werden.
Die Lösung des "demographischen Problems", die Sharon im Bündnis mit der Labour-Party durchzusetzen begonnen hat, heißt Abschottung und einseitig diktierte Teilung nach dem Motto "Unwesentliches preisgeben, um Wesentliches zu behalten". Das bedeutet, den, teils auch unter Druck des palästinensischen Widerstands zu Stande gekommenen, Rückzug aus einigen dicht besiedelten und strategisch weniger wichtigen Gebieten wie dem Gaza-Streifen bei gleichzeitiger dauerhafter Okkupation anderer Gebiete: die Verbreiterung Israels in die Westbank durch die Grenzmauer, Integration der kompakten Siedlungsblöcke in den israelischen Staat (vor allem um Jerusalem, wo allein 200.000 SiedlerInnen leben), Zerschneidung des Westjordanlandes bei Jerusalem und vermutlich das Beibehalten der militärischen Kontrolle über den Golan und das Jordantal. Diese Perspektive bedeutet für die PalästinenserInnen das Leben in wirtschaftlich und militärisch dem israelischen Staat ausgelieferten Ghettos. Sie hat mit einem "Friedensplan", der Sharon neuerdings angedichtet wurde, nichts zu tun und muss als reaktionäres, imperialistisches Befriedungsprojekt abgelehnt werden.
Ziele
19. Eine Lösung des Nahostkonfliktes, die nicht nur einen brüchigen "Frieden" unter imperialistischer Dominanz bedeutet, sehen wir als MarxistInnen nur in einem sozialistischen Palästina/Israel im Rahmen einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens, das sowohl die (jüdischen) Israeli als auch die (arabischen) PalästinenserInnen (egal ob mit oder ohne israelischen Pass) als staatsbildende Nationen einschließt. Grundvoraussetzung hierfür ist das uneingeschränkte Recht der palästinensischen Flüchtlinge zur Rückkehr nach Palästina/Israel; möchten sie lieber in ihren "Gastländern" bleiben, treten wir nicht nur für ihre völlige Gleichstellung als StaatsbürgerInnen, sondern auch für ihre nationalen Minderheitenrechte ein.
20. Ein solcher binationaler sozialistischer Staat kann nur durch den gemeinsamen Klassenkampf der israelischen und palästinensischen ArbeiterInnen (wie der Unterstützung der weltweiten ArbeiterInnenbewegung) erreicht werden, auch wenn die Ausgangslage hierfür nicht einfach ist: Profitiert einerseits die israelische ArbeiterInnenklasse indirekt von der Unterdrückung der PalästinenserInnen, so ist andererseits die soziale Zusammensetzung der PalästinenserInnen – hohe Arbeitslosigkeit, ein Gutteil der Lohnabhängigen ist beim Staatsapparat der Autonomiebehörde beschäftigt – keine ideale Voraussetzung für die Methoden des proletarischen Klassenkampfes.
Zwischen unterdrückender und unterdrückter Nation kann es für MarxistInnen keine Neutralität geben. Zentraler Punkt muss deshalb die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechtes der PalästinenserInnen und die Unterstützung ihres Kampfes sein. Hier halten wir – unabhängig von der konkreten politischen Beurteilung – auch Angriffe auf den zionistischen Apparat (Repressionsstrukturen – Militär, Polizei, Justiz und Bürokratie – des israelischen Staates und der SiedlerInnen) für grundsätzlich gerechtfertigt und eine teilweise sinnvolle Ergänzung von Massenaktivitäten im Rahmen des palästinensischen Befreiungskampfes. Hingegen lehnen wir (Selbstmord-)attentate – wiewohl als Verzweiflungstat sehr wohl nachvollziehbar – auf israelische ZivilistInnen grundsätzlich ab, da sie nur nationale Spaltungslinien öffnen und den gemeinsamen Klassenkampf behindern.
Es liegt primär in der Verantwortung der israelischen ArbeiterInnenklasse als Teil der unterdrückenden Nation, die sich zentral durch die Vertreibung und Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung erst konstituieren konnte, durch bedingungslosen Klassenkampf gegen die eigene Bourgeoisie den palästinensischen ArbeiterInnen und Unterdrückten die Perspektive eines gemeinsamen Kampfes zu eröffnen. Ist es eine unabdingbare Voraussetzung für eine israelische Linke, die diesen Namen verdient, dass sie für das Selbstbestimmungsrecht der PalästinenserInnen (inklusive dem Rückkehrrecht für Flüchtlinge) und gegen den anti-arabischen Rassismus in Israel kämpft, so ist es eine zentrale Rolle jeglicher palästinensischen Linken, vehement gegen antisemitische Tendenzen aufzutreten.
21. Die Aufgabe von RevolutionärInnen in Europa besteht darin, Propaganda für die skizzierte Perspektive zu betreiben und sich mit dieser Ausrichtung an Solidaritätsmobilisierungen für den palästinensischen Widerstand zu beteiligen. Das muss (gerade im deutschsprachigen Raum) mit einem konsequenten Kampf gegen Antisemitismus in allen Formen verbunden werden. Es muss immer wieder betont werden, dass die Politik des israelischen Staates nicht die Politik "der Israelis" ist, und schon gar nicht die "der Juden". Ebenfalls verbunden werden muss diese Orientierung mit einem Kampf für das Recht auf freie Migration und mit einem vehementen Widerstand gegen den in den imperialistischen Ländern deutlich verschärften anti-islamischen Rassismus.
Beschlossen auf einer gemeinsamen Konferenz von AGM und AL, nach einem Entwurf von Stefan Neumayer, 2008