Vor 65 Jahren: Aufstand im Warschauer Ghetto

Der Aufstand des Warschauer Ghettos im Frühjahr 1943 war ein ebenso außergewöhnlicher wie heldenhafter Kampf des Proletariats. Der Widerstand von schlecht bewaffneten Juden und Jüdinnen gegen die bewaffnete Macht der SS widerlegt die Legende, dass sich die jüdischen Massen gegenüber dem Nazi-Terror fügsam verhalten hätten.

Tatsächlich gab es in fast jedem Ghetto im von den Nazis besetzten Osteuropa Widerstandsorganisationen. In vielen Ghettos kam es auch zu Aufständen. Zehntausende Juden und Jüdinnen haben bei den Partisanen gekämpft (siehe dazu das sehr informative – wenn auch bürgerliche – Buch von Arno Lustiger "Zum Kampf auf Leben und Tod, Vom Widerstand der Juden 1933-1945", Köln 1994).

In diesem breiten Widerstand war der Aufstand im Warschauer Ghetto wegen seines Ausmaßes, seiner Hartnäckigkeit und seines Heroismus hervorstechend. Am 18. April sind 65 Jahre seit dem Beginn des Aufstandes vergangen sein. Angesichts des erneuten Anstiegs des Antisemitismus in Europa und des Vormarsches rechtsextremer Parteien soll hier nicht nur an die Schrecken des Faschismus erinnert werden, sondern auch an den militanten Widerstand der jüdischen Arbeiter/innen/klasse.

Der vorliegende Beitrag stützt sich in wesentlichen Teilen auf das 1945 von Marek Edelman in Warschau verfasste, ebenso erschütternde wie packende Buch "Das Ghetto kämpft", das seit 1993 auch auf Deutsch erhältlich ist. Edelman war als Mitgliedes des Bundes (einer jüdischen sozialistischen Organisation) einer der Führer des Aufstandes, als einer der wenigen Überlebenden danach im polnischen Widerstand tätig und am Warschauer Aufstand vom Herbst 1944 beteiligt. Nach dem Krieg wurde er Arzt in Lodz und bewahrte sich – auch wenn er nach Jahrzehnten stalinistischer Diskreditierung des Sozialismus insgesamt mittlerweile bürgerliche Positionen angenommen hat – eine kritische Distanz zum Zionismus. In einem Interview in den 70er Jahren brachte Edelman die Situation der Aufständischen so auf den Punkt: "Es ging darum, sich nicht abschlachten zu lassen, wenn sie kamen, uns zu holen. Es ging nur um die Art zu sterben."

Zu Beginn des Jahres 1941 lebten in Warschau über 300.000 Juden, das damit nach New York die zweitgrößte jüdische Gemeinde der Welt war. Bis Ende September 1943 war sie vernichtet. Die große Mehrheit wurde von den Nazi-Schlächtern als Teil von Hitlers "Endlösung der Judenfrage" umgebracht. Es war das Ende einer Gemeinschaft, die in Polen Jahrhunderte lang existiert hatte. Um 1914 machte sie 38 Prozent der Warschauer Bevölkerung aus. Mit der Wirtschaftkrise der 1930er Jahre wurde aber der ökonomische und politische Status der Juden immer tiefer gedrückt. Der Antisemitismus wurde in Teilen der polnischen Bevölkerung – so wie in ganz Europa – immer stärker.

Das führte zu einer rapiden politischen Polarisierung in der jüdischen Gemeinschaft: Poale Zion, der linke Zionismus und Vorläufer des moderneren Labour-Zionismus, wuchs auf Kosten des rechten. Außerdem gab es den Bund, eine nicht-religiöse Organisation jüdischer Sozialist/inn/en, die aus der Tradition der russischen Sozialdemokratie kam. Die Popularität des Bundes wuchs in einem solchen Ausmaß, dass seine Vertreter in die "Kehilla", die Führung der jüdischen Gemeinde, gewählt wurden. Aus diesen zwei Strömungen – dem Linkszionismus und dem Bund – entstanden die Jugendbewegungen, die die Mehrheit des Widerstandes gegen die Nazis bilden sollten.

Als der deutsche Imperialismus am 1. September 1939 den Überfall auf Polen begann, konnten diese Organisationen freilich nur hilflos zusehen. Innerhalbweniger Tage marschierte die siegreiche Wehrmacht durch die Straßen von Warschau. "Nach der Eroberung Warschaus im Jahre 1939 finden die deutschen Besatzer die jüdische Gemeinschaft in einem Zustand des absoluten Chaos und der Auflösung vor. Fast die gesamte führende Schicht der Gesellschaft hatte Warschau schon am 7. September verlassen. Politische Führer, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Intelligenzija überließen die Hauptstadt ihrem eigenen Schicksal." (Marek Edelman, "Das Ghetto kämpft", Berlin 1993, S. 27)

Zurück blieben ein kleiner Teil der Oberschicht, Teile des Kleinbürgertums und die Arbeiter/innen/klasse. Allein diese Entwicklung bestimmte den späteren Aufstand als einen des Proletariats und seiner Organisationen, wobei aus der Führung des Bundes einzig Abrasza Blum freiwillig in Warschau blieb.

Im November 1939 wurden bereits die ersten Dekrete erlassen, um Hitlers Ankündigung vom Januar 1939 einzuleiten: "Ich möchte noch einmal eine Prophezeiung abgeben: Wenn das internationale Geldjudentum innerhalb und außerhalb Europas wieder erfolgreich die Menschen in einen Weltkrieg treibt, dann wird das Resultat nicht die Bolschewisierung der Welt und ein Sieg für das Judentum sein, sondern die restlose Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa."

Auch vor der Abriegelung des Ghettos im November 1940 wurden unzählige repressive Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung durchgeführt. Jüdische Vermögenswerte über 2.000 Zloty wurden beschlagnahmt, keinem Juden und keiner Jüdin wurde erlaubt, mehr als 500 Zloty pro Monat zu verdienen, und keinem Juden / keiner Jüdin war das Backen von Brot gestattet. Das Ziel war, den Willen der jüdischen Bevölkerung zu brechen. Oft wurden kollektive Strafen für die Nichtbefolgung der Terror-Gesetze verhängt. In den ersten Tagen des November1939 wurden z.B. 53 Männer aus einem Wohnblock erschossen, weil ein Mieter des Hauses einen polnischen Polizisten verprügelt hatte.

Um diese Maßnahmen zu unterstützen, ordneten die Nazis zynisch die Etablierung eines jüdischen Altenrates (bekannt als "Judenrat") und einerjüdischen Polizei an, damit ihre Anordnungen und Wünsche ausgeführt würden. Die Ablehnung gegen den Judenrat und andere Handlanger der Nazis stieg ständig.

Im März 1940 fanden brutale antisemitische Pogrome statt, die von etwa tausend polnischen Jugendlichen verübt wurden, die vom deutschen Luftwaffenkorps vier Zloty pro Tag für die Verprügelung von Juden bezahlt bekamen. Drei Tage lang wüteten sie ungehindert, aber am vierten Tag führte die Miliz des Bundes Gegenaktionen durch, die in vier offenen Straßenschlachten mündeten. Diese Aktionen waren gut organisiert. Aber die anderen größeren jüdischen Gruppen beteiligten sich nicht – mit dem Argument, das würde nur einen Gegenschlag seitens der Besatzungstruppen provozieren. Das spiegelte die Ablehnung eines Kampfes seitens vieler bürgerlicher und kleinbürgerlicher Gruppen wider.

Im November 1940 hatten die Nazis das Ghetto mit Mauern und Stacheldraht abgeriegelt. Die Bedingungen verschlechterten sich schnell. Die Anzahl der Leute, die pro Raum konzentriert war, erreichte einen Durchschnitt von 9,2. Der Hunger forderte einen schrecklichen Tribut. Typhus und Gelbfieberverbreiteten sich in der unterernährten Bevölkerung. Die monatliche Sterberate erreichte 6.000. Die Spitäler waren überfordert – die Nazis hielten Lebensmittelversorgung und Medikamente zurück. Bald waren die Straßen von Leichen übersät.

Trotz dieser miserablen Bedingungen bewies die Gemeinde ihre Geschicklichkeit und ihren Willen zum Überleben. Eine Armee von Schmugglern riskierte jede Nacht ihr Leben, indem sie die Einzäunung überquerte, um Nahrungsmittel hineinzuschaffen. Frauen spielten dabei, da sie im Gegensatz zu den meist beschnittenen Männern nicht so leicht als Jüdinnen zu erkennen waren, eine besonders wichtige Rolle. Schulen wurden gegründet, Theatergruppen aufgebaut, Mieterräte reparierten und erhielten Gebäude. Um Hungernde zu ernähren, wurden Suppenküchen eingerichtet. An Widerstand dachte aber weiter nur eine Minderheit. Die Mehrheit konzentrierte sich – auch unter immer katastrophaleren Bedingungen – auf das eigene Überleben.

"Dieses 'Leben' wird von jedem auf seine Art, je nach seinen Umständen und seinen Möglichkeiten aufgefasst. Es bedeutet Wohlstand für diejenigen, die schon vor dem Krieg reich waren, Ausschweifung und Überfluss für verschiedene degenerierte Gestapo-Agenten und demoralisierte Schmuggler; für die große Masse der Arbeiter und Arbeitslosen ist es hungerndes Dahinvegetieren mit der Suppe aus der Volksküche und dem rationierten Brot."(Edelman, ebd., S.31)

Im Jahre 1941 kam die Neuigkeit, dass 40.000 Juden aus Lodz (dem damaligen Litzmannstadt), 40.000 aus Pommern und mehrere hundert "Zigeuner" aus Bessarabien vergast worden seien. Im folgenden Jahr ging das Gerücht um, das ganze jüdische Ghetto in Lublin sei liquidiert worden. Gerade als diese Nachrichten ankamen, begingen die Nazis im April 1942 ein Massaker an polnischen Aktivistinnen und Aktivisten. Die Aufrufe des Bundes und anderer linken Gruppen zum Widerstand blieben unter der Masse aber weiter ungehört.

Im Juli 1942 wurde dem Judenrat mitgeteilt, dass alle "unproduktiven" Juden, also all jene, die nicht fähig waren, extrem langes und schweres Arbeiten durchzustehen, anzuweisen seien, sich auf den Umschlagplatz zu begeben – zu der Zugstation, die das Tor zum Vernichtungslager Treblinka war. Wir können nur eine dunkle Ahnung vom Horror der Ereignisse der nächsten zwei Tage haben. Marek Edelman beschreibt, wie ukrainische Hilfstruppen der SS mit ihren Gewehrkolben die Menschen in Eisenbahnwaggons prügelten und ungezielt in die Menge schossen, um sie dazu zu bringen, sich in die Wagen zu begeben.

Innerhalb von zwei Tagen wurden 60.000 Leute nach Treblinka deportiert. Bis September 1942 verblieben nach zahlreichen weiteren Deportationen lediglich 60.000 Juden und Jüdinnen – junge, arbeits- aber auch kampffähige Menschen – im Warschauer Ghetto. Die Bedingungen waren nun quälend unterdrückerisch. Im Oktober 1942 wurde nun endlich die Zydowska Organizacja Bojawa (ZOB -Jüdische Kampforganisation) gebildet. Ihr Kommandant war Mordechaj Anielewicz von der linkszionistischen Jugendorganisation Haschomer Hazair, sein Stellvertreter Marek Edelman vom Bund. Sie umfasste Kampfeinheiten von allen Jugendbewegungen: des Bundes, der Stalinist/inn/en, der Links- und Zentrums-Zionist/inn/en. Auch eine trotzkistische Organisation, die bis zu den letzten Tagen des Aufstandes ihre Untergrundzeitung Czworwony Sztandar veröffentlichte, war aktiv am Widerstand beteiligt. Nur die rechten Zionist/inn/en lehnten die Teilnahme am Kampf der ZOB ab. Aber immerhin bildeten in Warschau – anders als meistens in den anderen Ghettos Polens, wo der jüdische Widerstand nur von der Arbeiter/innen/bewegung getragen wurden – später auch die bürgerlichen jüdischen Organisationen eine Kampfgruppe, den ZZW, den "Jüdischen Militärbund".

Das Ghetto wurde von der ZOB jedenfalls in drei Schlüsselbereiche des Kommandos geteilt. Zuerst hatten sie unglaublicherweise nur ein einziges Gewehr. Die ZOB führte nun neben politischer Arbeit auch Hinrichtungen von jüdischen Kollaborateuren durch. Diese Aktionen wurden oft durch die Infiltration der jüdischen Polizei ausgeführt. Sie lüfteten das Klima im Ghetto enorm.

Bis zum Ende des Dezember 1942 erhielt die ZOB den ersten Waffentransport vom polnischen Widerstand – laut Edelman ganze zehn Pistolen, nach der "Enzyklopädie des Holocaust" fünf Pistolen und acht Handgranaten. Angesichts des Streites zwischen polnischen und jüdischen Nationalist/inn/en anlässlich der 50-Jahre-Gedenkfeiern zur Befreiung des KZs Auschwitz betonte der damals 72-jährige Edelman bei einer Veranstaltung im jüdischen Museum in Wien die Bedeutung der Verbundenheit von jüdischem und polnischem Widerstand. Die Kämpfer/innen im Warschauer Ghetto hätten die ersten Waffen vom polnischen Widerstand erhalten, dieser wiederum sei vom Kampf des Ghettos angefacht worden. Dabei muss aber auch gesagt werden, dass die Versuche, Waffen vom polnischen Untergrund zu erhalten, nicht wirklich erfolgreich gewesen waren – nicht nur wegen der schweren Erreichbarkeit von Waffen auch außerhalb des Ghettos, sondern auch weil sich der polnisch-nationalistische Widerstand der Armia Kraiowa (deren politische Träger teilweise aus antisemitischen Traditionen kamen) als nicht sehr hilfswillig erwies. Und auch die Waffen, die dem Ghetto dann doch übergeben wurden, waren oft in miserablem Zustand oder trafen in geringerer Zahl ein als vereinbart gewesen war. Oft wurden sie nur gegen Geld an die Kämpfer/innen des Ghettos übergeben. Am ehesten Unterstützung kam noch von der – nicht sehr starken – polnischen Kommunistischen Partei, die auch diese erste Lieferung organisiert hatte.

Diese ersten Pistolen ermöglichten es der ZOB aber bereits, ihre erste große Aktion für den 22. Januar 1943 vorzubereiten. Aber bevor sie handeln konnte, wurde das Ghetto am 12. Januar wieder umstellt. Die zweite Liquidierungswelle hatte begonnen. Aber dieses Mal konnten die Nazis nicht so handeln, wie sie wollten. Vier Kommandos der ZOB gruben sich in Bunkern an der Kreuzung Mila-Straße/Zamenhof-Straße ein und schossen auf die einrückenden Truppen. Nach einem harten Kampf war der beste Teil der ZOB-Einheiten verloren, obwohl ihr Kommandeur, Mordechai Anielewicz, überlebte. Sie begriffen nach dieser Niederlage, dass sie verstärkt Partisan/inn/entechniken anwenden mussten.

Eine der Kampftruppen wurde gefangen und zur Station gebracht, um deportiert zu werden. Ein Mann namens Pelc wandte sich an die Gruppe, und seine Worte waren so wirksam, dass sich nicht eine der 60 Personen zum Wagen bewegte. Van Oeppen, der Chef des Konzentrationslagers Treblinka, ließ alle auf der Stelle erschießen.

Im Laufe der Ereignisse des Januar 1943 gingen 80 Prozent des ZOB-Kommandos verloren. Aber das Ghetto war elektrisiert durch diesen Widerstand. Die Menschen rissen sich um die Teilnahme an der ZOB. Die ZOB kommandierte bald das Ghetto. Sie übernahm die Finanzen des Judenrates und besteuerte die reicheren Bewohner/innen, um Geld für den Ankauf von Waffen aufzubringen.

Ihre Handlungen inspirierten jetzt auch den polnischen Untergrund, der die ZOB nun relativ rasch mit 50 großen Pistolen und 55 Handgranaten versorgte. Die ZOB führte Sabotageaktionen durch und verjagte jüdische Vorarbeiter, die angestellt waren, um Juden und Jüdinnen die Annahme von "guten" Arbeitsbedingungen in Arbeitslagern schmackhaft zu machen. Die Nazis erkannten schnell, dass der einzige Weg, mit den verbliebenen Juden fertig zu werden, der der Gewalt sein würde. Die letzte Aktion gegen das Ghetto begann am 18. April 1943. Das Vorhaben war, Warschau für den 20.April (Hitlers Geburtstag) "judenfrei" zu präsentieren. In der Nacht vom 18. auf den 19. April umstellten die Faschisten das Ghetto mit Maschinengewehren und einer Kette polnischer Polizei. Gegen ein paarhundert mit Pistolen, Handgranaten und Molotowcocktails, ein paar Gewehren und einem einzigen Maschinengewehr bewaffnete jüdische Widerstandskämpfer/innen und eine mit Äxten, Messern und ihren bloßen Fäusten ausgerüstete Bevölkerung traten ein Bataillon der Panzergrenadiere und eine Kavallerieabteilung der Waffen-SS, zwei Artillerieabteilungen und eine Pionierabteilung der Wehrmacht, eine Gruppe der Sicherheitspolizei, ein Bataillon der SS-Schule in Trawniki und ukrainische und lettische Hilfstruppen an.

Aber obwohl die "glorreiche" SS Panzer schickte, hatte sie den Widerstand der ZOB unterschätzt. Im folgenden Kampf wurden in einem gewaltigen Sieg 200 SS-Soldaten getötet. Um zwei Uhr nachmittags an diesem Tag gab die SS vorerst auf. Die jüdischen Kämpfer/innen jubelten. Ihre schlecht bewaffneten Kräfte hatten den "Stoßtruppen" der deutschen Armee eine Niederlage beigebracht. Als die Nazis erkannten, dass sie das Ghetto nicht durch Kugeln und Panzer einnehmen konnten, entschied sich die SS dafür, das Ghetto anzuzünden. Tausende gingen in den Flammen zugrunde, aber die ZOB führte den Kampfweiter – mit dem Ziel, in Würde zu sterben.

Emanuel Ringelblum, der Archivar des Ghetto, beschrieb die Stimmung der verbliebenen jüdischen Bevölkerung: "Wir werden untergehen, aber die grausamen Eindringlinge werden mit ihrem Blut für unseren Tod bezahlen. Wir brauchen uns keine Gedanken um unser Überleben zu machen, denn jeder von uns trägt sein Todesurteil bereits in der Tasche. Wir sollten besser daran denken, mit Würde zu sterben, im Kampf zu sterben." Und Marek Edelman fügte im April 1993 in einem Interview (Titel: "Dass ich lebe, ist Zufall") mit dem österreichischen Nachrichtenmagazin "profil" hinzu: "Wir wollten der Welt zeigen, dass sich Juden verhalten wie alle Menschen: Wenn sie überfallen werden, verteidigen sie sich. Damals war es eine Ehre zutöten. Wer nicht tötete, war ehrlos."

Und tatsächlich fachte der Kampf des Ghettos den Widerstand über Polen hinaus an. Die französische und belgische jüdisch-kommunistische Untergrundpresse reagierte auf die Nachrichten aus Warschau (die das imperialistische Radio London erst mit mehrwöchiger Verspätung bekannt gab) mit Aufrufen zur Verstärkung des eigenen Kampfes. Sie forderte die jüdische Jugend, die jüdischen Arbeiter/innen auf, dem Beispiel von Warschau zufolgen: "Die Lektion von Warschau darf nicht ignoriert werden! Eure Brüder und Schwestern, die heldenhaft gefallen sind, würden Euch niemals verzeihen, wenn ihr Euch wie Sklaven verhaltet vor ihren Mördern, die auch die Euren sind. (…) Wo immer Ihr auch seid, bildet Kampfgruppen!" (so ein Aufruf der "Jüdischen Abteilung" innerhalb der französischen Gewerkschaft CGT im Untergrund).

Und Adam Rayski, Leiter der "Jüdischen Sektion" der MOI, der Einwandererorganisation der Kommunistischen Partei Frankreichs, berichtete: "Das Beispiel der Juden von Warschau führte zu einer intensiven Rekrutierung neuer Kombattanten. Im Juni und Juli 1943 hat sich die Anzahl der Aktiven in den bewaffneten Gruppen (der MOI) fast verdoppelt, aber die ganze veränderte Geisteshaltung lässt sich nicht nur quantitativ messen."

Selbst zu dieser Zeit sicherte der Geist des Bundes und der ZOB, dass die Kämpfer/innen ihre politischen Ziele nicht aus den Augen verloren, obwohl sie selbst eine sozialistische Gesellschaft nicht mehr erleben würden. Die ZOB gab ein "Manifest an die Polen" heraus, das Solidarität und Internationalismus ausdrückte. In einem Teil hieß es: "Durch den Rauch des Ghettos, das in Brand gesteckt wurde, und das Blut seiner gnadenlos getöteten Verteidiger, entbieten wir, die Sklaven des Ghettos, Euch unsere herzlichsten Grüße" Die Proklamation endet mit den Worten: "Lang lebe die Freiheit! Tod den Henkern und Mördern! Wir müssen unseren gemeinsamen Kampf gegen den Besatzer bis zum Ende fortsetzen!"

Für den 1. Mai wurde eine "Feiertags"-Aktion beschlossen: Einige Kampfgruppen gingen hinaus, um so viele Faschisten wie möglich zu töten. "Am Abend findet der 1. Mai-Appell statt. Eine kurze Rede und die 'Internationale'. In aller Welt wird heute gefeiert. In aller Welt fallen im gleichen Augenblick die kurzen bedeutenden Worte. Aber noch niemals wurde die 'Internationale' unter solch veränderten, solch tragischen Umständen gesungen, an einem Ort, an dem ein Volk untergeht. Diese Worte und dieser Gesang hallen von den ausgebrannten Ruinen wider und bezeugen dieses Mal, dass im Ghetto die sozialistische Jugend kämpft, die dies nicht vergisst, nicht einmal angesichts des Todes." (Edelman, ebd., S. 74)

Im Mai kam das Ende für den Widerstand im Warschauer Ghetto – aber es war ein heroisches Ende. Das Hauptquartier der ZOB in der Mila-Straße 18 wurde am 8. Mai 1943, zwei Jahre vor der Kapitulation Nazi-Deutschlands, von deutschen und ukrainischen Einheiten umzingelt. Von der ZOB waren kaum mehr als die 120 Kämpfer im Bunker übriggeblieben. Nach zweistündigem Beschuss waren die Faschisten noch immer unfähig, die Stellung einzunehmen. Dann warfen sie eine Gasbombe in den Bunker. Diejenigen, die nicht durch die Kugeln oder das Gas starben, begingen Selbstmord. Niemand wollte sich lebend ergeben. Eine Handvoll, darunter Marek Edelman, schaffte es durch die Abwasserkanäle aus dem Ghetto zu entkommen.

Die heroischen Kämpfer/innen der ZOB zeigten, dass es selbst unter den schlimmsten Bedingungen, selbst im Angesicht des Todes besser ist, sich zu vereinigen und zu kämpfen, in Würde zu sterben, als sich widerstandslos abschlachten zu lassen. Dieser Kampf entlarvt die antisemitische Legende, dass die Juden wie "Schafe zur Schlachtbank" in die Gaskammern gegangen wären. Aber die Geschichte des Warschauer Ghettos zeigt auch, warum der Faschismus von Anfang an rücksichtslos zerschlagen werden muss, soll die grenzenlose Barbarei, die seinem Sieg folgt, verhindert werden.

Das letzte Wort gehört Edelman: "Am 10. Mai 1943 ist das erste Kapitel der blutigen Geschichte der Warschauer Juden, das erste Kapitel unserer Geschichte abgeschlossen. Das Gebiet, auf dem sich früher das Ghetto befand, wird zu einem Trümmerberg, der zwei Stockwerke hoch ist. Diejenigen, die gefallen sind, haben ihre Aufgabe bis zum Ende, bis zum letzten Tropfen Blut erfüllt, das im Pflaster des Warschauer Ghettos versickert ist. Wir, die überlebt haben, überlassen es Euch, dass die Erinnerung an sie nicht verloren geht."

Eine erste Fassung dieses Artikels hat die Arbeitsgruppe Marxismus (AGM), eine der beiden Vorläuferorganisationen der RSO, bereits 1994 in dem Buch "Der Zweite Weltkrieg – Demokratie gegen Faschismus?" veröffentlicht. Der Text wurde 2002 von Julia Masetovic und Stefan Neumayer überarbeitet und neu publiziert.