Streik im venezolanischen Stahlwerk SIDOR

Am 14. März wurde eine Demonstration von tausenden ArbeiterInnen des venezolanischen Stahlwerks SIDOR brutal von der Polizei angegriffen. Die "Bolivarische Nationalgarde" nahm 53 ArbeiterInnen fest, verletzte mehr als ein Dutzend mit Gummigeschossen und zerstörte sogar 51 Autos mit Schlagstöcken. Diese Repression richtete sich gegen den 3-tägigen Streik der SIDOR-ArbeiterInnen; dieser war die letzte Aktion in einem Kampf, der schon die letzten 15 Monate am Laufen ist.

SIDOR, Lateinamerikas größtes Stahlwerk, befindet sich in der Stadt Ciudad Guayana im Bundesstaat Bolívar. Die mehr als 13.000 ArbeiterInnen verlangen einen neuen Kollektivertrag mit höheren Löhnen und Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen. SIDOR wurde 1998 unter der Regierung Rafael Caldera privatisiert. Momentan wird es vom argentinischen multinationalen Konzern Ternium-Sidor kontrolliert, welcher Teil des Zusammenschlusses Technit ist. Ternium besitzt 60% der Fabrik, 20% sind in Besitz des Bundesstaats Bolívar, 20% gehören den 15.000 ArbeiterInnen, die zur Zeit der Privatisierung in der Fabrik gearbeitet haben.

In den neun Jahren seit der Privatisierung haben sich die Arbeitsbebedingungen zunehmend verschlechtert – 19 ArbeiterInnen sind während der Arbeit ums Leben gekommen. Am 25. März ist ein 52-jähriger Arbeiter wegen eines Herzinfarkts gestorben. Seine Station, welche früher von drei ArbeiterInnen bedient wurde, wird aufgrund von "Rationalisierungen" nur mehr von einer/m ArbeiterIn bedient. Dieser Todesfall hatte einen neuen 72-stündigen Streik zur Folge.

Dieser Streik wurde auf einer spontan einberufenen ArbeiterInnenversammlung am selben Abend beschlossen. GewerkschaftsführerInnen waren nicht anwesend – genauso wie bei der spontanen Versammlung vor dem 3-tägigen Streik am 13. März und dem 1-tägigen Streik am 24. März. Der neueste Streik wurde von einer Demonstration durch Ciudad Guyana mit rund 5.000 TeilnehmerInnen unterstützt.

Die ArbeiterInnen und ihre Gewerkschaft SUTISS (Vereinigte Gewerkschaft der StahlarbeiterInnen und ähnlicher Branchen) fordern nicht nur einen Kollektivvertrag, sondern auch die Re-Verstaatlichung des Stahlwerks; da ja auch die venezolanische Regierung während den letzten paar Jahren viel über die Rücknahme von Privatisierungen gesprochen hat. Weniger als ein Drittel der ArbeiterInnen bei SIDOR haben einen fixen Arbeitsplatz, die anderen zwei Drittel verfügen nur über befristete Verträge und bedeutend weniger Rechte (Urlaub, Wohnförderung, Arbeitsplatzsicherheit…). Ein weiteres Ziel des aktuellen Kampfes ist es, unbefristete Verträge für alle ArbeiterInnen durchzusetzen.

Venezuelas Präsident Hugo Chávez schwieg sich über den Konflikt bei SIDOR aus: bis heute, zwei Wochen nach der brutalen Repression, hat er sich nicht von dem Vorgehen der Nationalgarde distanziert oder auf die Forderungen nach Verstaatlichung reagiert. Die Regierung von Chávez will ihre guten Verbindungen zur argentinischen Regierung unter Cristina Kirchner, welche hinter dem Technit-Konzern steht, nicht riskieren.

"Wenn das eine US-amerikanische Firma wäre, hätte sie die Regierung schon längst reverstaatlicht", beschweren sich die ArbeiterInnen-VertreterInnen. José Melendez, vom SUTISS-Vorstand bringt die Notwendigkeit der Verstaatlichung aller multinationalen Konzerne ins Spiel. "In Venezuela sprechen wir über Sozialismus, aber unsere FührerInnen sollten uns sagen, welchen Sozialismus sie meinen, nachdem die KapitalistInnen auf Kosten der ArbeiterInnen so weitermachen können wie sie wollen."

Das bekannteste Transparent des Streiks bringt es auf den Punkt: "Chávez, wilder Kapitalismus ist in SIDOR gegenwärtig." Das "Gewerkschaftsbündnis", eine linke Liste innerhalb von SUTISS (der auch Melendez angehört), wiesen in einem Flugblatt darauf hin, dass es eine Verfügung des Präsidenten war, die den ArbeiterInnen bei PDVSA [Anm.: dem staatlichen Erdölkonzern] unbefristete Verträge gegeben hat. Im Text heißt es weiter: "Wir fordern, dass uns der Präsident ebenso behandelt wie die ArbeiterInnen von PDVSA."

Die Regierung war allerdings überwiegend auf der Seite der Bosse. Arbeitsminister José Ramón Rivero (der sich manchmal selber als "Trotzkist" bezeichnet und in den 70ern Mitglied von Venezuelas "Sozialistischer Arbeiterpartei" war) versuchte zunächst, ein "Schiedsgericht" einzusetzen, einen von ihm persönlich besetzten Ausschuss, der eine Lösung für den Konflikt finden sollte, welche die ArbeiterInnen akzeptierten müssten. Die ArbeiterInnen lehnten diesen Vorschlag gänzlich ab. Danach versuchte der Minister ein "Referendum" zu installieren; eine Abstimmung aller SIDOR-ArbeiterInnen über das letzte Angebot des Werksbesitzers. Diese sollte vom Nationalen Wahlrat organisiert werden.

Arbeitsminister Rivero hat sich den Hass der SIDORistas zugezogen. Melendez meint dazu: "Er sollte nicht Arbeitsminister, sondern eher UnternehmerInnenminister genannt werden." Aber auch Präsident Chávez, der in der venezolanischen ArbeiterInnenklasse sehr beliebt ist, erntet zunehmend Kritik. Bei einer landesweiten Versammlung in Ciudad Guyana am 29. März, bei der es um den Aufbau einer Solidaritätskampagne mit SIDOR ging, war die Stimmung der rund 200 GewerkschaftsführerInnen und ArbeiterInnen aus ganz Venezuela ziemlich feindlich gegenüber der "sozialistischen Regierung".

"Ich kenne SIDOR seit 30 Jahren und habe noch nie diese Art von Repression gesehen; nicht einmal in der Vierten Republik [die venezolanische Republik bis 1998]" sagte José Rodriguez vom SUTISS-Vorstand. Cruz Bello, ebenfalls Mitglied des Vorstands, sprach über die Notwendigkeit einer politischen Partei der ArbeiterInnenklasse um für die Interessen der ArbeiterInnen in Auseinandersetzung wie der gegenwärtigen zu kämpfen. Viele SIDORistas fühlten, dass die Parteinahme der Regierung für die UnternehmerInnen im aktuellen Konflikt die Unterstützung in der Industrieregion rund um Ciudad Guyana, welche bis jetzt eine Hochburg des "Chavismo" war, bedeutend reduzieren wird.

Der Anwalt von SUTISS ging sogar noch weiter: "Am 14. März, genau zum Todestag von Karl Marx, während Präsident Chávez über Marx und das Proletariat sprach, griff die Nationalgarde, welche unter dem Kommando des Präsidenten steht, ArbeiterInnenproteste an. Sogar beim Streik von 1971, den ich als Jura-Student unterstützte, hatte ich nicht solche Repression erlebt… Die Bourgeoisie, auch wenn sie sich das Etikett "Sozialist" aufklebt, muss die ArbeiterInnenklasse unterdrücken."

Es war die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) welche eine gewisse Verteidigung für die Handlungen der Regierung vorbrachte. Der erste Vertreter der PCV, der sprach, erklärte, dass der Kampf bei SIDOR "der Funke sein soll, der Venezuela entfacht" und dass die Polizeirepression daher kommt, weil der "venezolanische Staat tatsächlich ein Staat im Dienste der Bourgeoisie ist. Wir müssen ihn zerschlagen und eine Volksmacht aufbauen!" Aber zugleich sagte er auch, dass der Sieg der SIDORistas und die Zerschlagung des Staats "Seite an Seite mit der bolivarischen Regierung", also der Führung des Staats, der die ArbeiterInnen unterdrückt, stattfinden muss.

Der Generalsekretär der PCV, Oscar Figuera, kam ganz am Ende der Versammlung und versuchte in seiner 45-minütigen Rede die Unzufriedenheit mit Chávez abzumildern. Er erklärte, dass der "Hauptfeind nicht die Regierung sei, sondern die multinationalen Konzerne" und "wir müssen den Hauptfeind ausmachen, um Verbündete gewinnen zu können, wir können die Regierung nicht mit zu viel Kritik vertreiben." An dieser Stelle wurde er allerdings von wütenden ArbeiterInnen unterbrochen, die einwarfen: "Aber die verteidigen den Kapitalismus!"

Die Versammlung für die Unterstützung des Kampfes bei SIDOR war nur ein Ausdruck der steigenden Entfremdung zwischen der Regierung Chávez und den venezolanischen ArbeiterInnen. Nach neun Jahren an der Macht hat Chávez` "Bolivarische Revolution" keine fundamentalen Veränderungen der Ökonomie gebracht. Das tägliche Leben der venezolanischen ArbeiterInnen ist noch immer "wilder Kapitalismus". Viele der AktivistInnen sehen den Kampf bei SIDOR als einen möglichen Wendepunkt – wenn die ArbeiterInnenklasse eine unabhängige Rolle in der venezolanischen Politik einnimmt.

Orlando Chirino, ein landesweiter Koordinator der UNT [Anm.: und sehr bekannter Gewerkschafter, der sich in trotzkistischer Tradition sieht], meinte "wenn die SIDOR-ArbeiterInnen gewinnen, wird der arbeiterInnenfeindliche Arbeitsminister in wenigen Minuten stürzen. Wenn die SIDOR-ArbeiterInnen gewinnen, werden die ArbeiterInnen im Staatssektor ihren Kampf gewinnen. Wenn die SIDOR-ArbeiterInnen gewinnen, werden wir der Kampf für Gewerkschaftsunabhängigkeit gewinnen." In diesem Geist verabschiedete die Versammlung eine Resolution, in der die Gründung eines Solidaritätskomitees beschlossen und der Präsident zu einer Stellungnahme zur Repression vom 14. März aufgefordert wurde.

Am Abend davor fand ein großes Solidaritäts-Festival in einem Park am Orinoco Fluss statt. Bis zu eintausend ArbeiterInnen und ihre Familien kamen, um Musik und Reden zu hören, um Kraft für den künftigen Kampf zu tanken. Solidaritätsbotschaften kamen aus ganz Venezuela und Lateinamerika, darunter eine Erklärung von Argentinischen EisenbahnarbeiterInnen, in der auf ihre Kämpfe gegen Technit und die Notwendigkeit für einen gemeinsamen Kampf aller ArbeiterInnen gegen multinationale Konzerne eingegangen wird.

Das Festival wurde hauptsächlich von der Kommunistischen Jugend von Venezuela (JCV) organisiert, die weiterhin die Chávez Regierung unterstützt. Aber sogar sie waren davon überzeugt, dass der Kampf bei SIDOR einen Wendepunkt im Klassenkampf in Venezuela bedeuten könnte, und dass er lokale, landesweite und internationale Unterstützung braucht. RevolutionärInnen der ganzen Welt müssen ihre Solidarität mit dem Kampf der SIDORistas für einen Kollektivvertrag und Re-Verstaatlichung der Fabrik unter ArbeiterInnenkontrolle kämpfen!

Übersetzung aus dem Englischen:  Johannes Wolf (RSO Wien Uni)