Aufruhr in Tibet

Seit am 10. März 2008, dem Jahrestag des Aufstandes von 1959, mit dem Marsch von Mönchen der momentane Aufruhr begann, kam Tibet nicht mehr zur Ruhe. Ab Mitte März häuften sich Berichte von immer umfassenderen Ausschreitungen und begann der Protest auf TibeterInnen in anderen Regionen Chinas überzugreifen. Das harte Durchgreifen der Regierung hat ebenso wenig die Lage wieder beruhigt wie die Anwesenheit von Delegationen internationaler JournalistInnen in der zweiten März-Hälfte, denen von offizieller Seite die "Gewalttätigkeiten" der TibeterInnen gezeigt wurden.

Für die chinesische Regierung kommen die Ausschreitungen zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Mit der Austragung der Olympischen Spiele in Beijing im Sommer 2008 steht die chinesische Führung im Scheinwerferlicht der internationalen Öffentlichkeit und will als seriöser internationaler Partner wahrgenommen werden. Die Spiele werden schon im Vorfeld als Durchbruch am internationalen Parkett zelebriert.

Trotz umfassender Berichterstattung bleiben in den "westlichen" Medien die Hintergründe des Aufruhrs im Dunkeln und machen eine Einschätzung schwierig. Immer und immer wieder werden wir mit denselben Bildern von zerstörten Geschäften in der Innenstadt von Lhasa konfrontiert. Im Wesentlichen werden in den Medien zwei Lesarten angeboten: Ein religiös-nationalistischer Aufstand gegen den "kulturellen Völkermord", getragen von Mönchen, dominiert in der "westlichen" Berichterstattung; "unverantwortliche Ausschreitungen" von "Lumpen"- und "Hooligan"-Elementen sind nach chinesischer Lesart für die Zerstörungen und Plünderungen verantwortlich. Beide Varianten gehen aber am grundsätzlichen Problem vorbei – hinter den Protesten ist die lange aufgestaute Wut gegen die soziale, politische und nationale Unterdrückung zu spüren, denen auch die tibetische Bevölkerung unterworfen ist.

Natürlich sind in Tibet nicht nur die politischen und sozialen Probleme, die China seit Jahren nicht zur Ruhe kommen lassen, allgegenwärtig; Tibet ist auch der Schauplatz von ethnischen Veränderungen, die sich gerade in den letzten Jahren stark beschleunigt und die sozialen Differenzen zugespitzt haben. Die Volksrepublik China hat heute etwa 1,3 Milliarden EinwohnerInnen, davon dürften knapp 92% Han-ChinesInnen sein, der Rest verteilt sich auf 56 nationale Minderheiten, im offiziellen Sprachgebrauch "Nationalitäten" genannt. Im Vergleich zu den 1.140 Millionen Han-ChinesInnen haben diese alle nur vergleichsweise wenige Hunderttausend oder höchstens einige Millionen Angehörige; die größte Nationalität sind die Zhuang, ein Tai-Volk, mit offiziell 16,2 Millionen. TibeterInnen stehen im offiziellen Ranking an 9. Stelle mit 5,4 Millionen – von denen weniger als die Hälfte in der Autonomen Region Tibet leben, die übrigen sind vor allem in den Provinzen Sichuan, Yunnan, Qinghai und Gansu beheimatet. Im Autonomen Gebiet Tibet arbeiten über 60% der Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft, davon viele als HirtInnen (in Gesamtchina arbeiten ca. 45% in der Landwirtschaft). Das tibetische Siedlungsgebiet ist also nicht einheitlich und war auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrfachen administrativen Neueinteilungen unterworfen.

Aber nicht nur in den chinesischen Provinzen, auch in der Autonomen Region Tibet selbst werden zur Zeit die TibeterInnen trotz der höchsten Geburtenrate im Lande zurückgedrängt: Nach der offiziellen Statistik von 1990 machen sie zwar noch 92,8% der Gesamtbevölkerung der Autonomen Region von 2,7 Millionen aus, denen offiziell lediglich 6,1% Han-ChinesInnen gegenüber stehen. Aber gerade in den letzten Jahren hat sich der Zuzug massiv beschleunigt: Sinnfälliger Ausdruck dafür ist die Qinghai-Tibet-Bahn, die seit 1. Juli 2006 in Betrieb ist. Schon 2000 wurden selbst ohne die (hier ausgesparten) Militärangehörigen und WanderarbeiterInnen in der Hauptstadt der Provinz, in Lhasa, 34% Han gezählt, der Prozentsatz hat sich seitdem nicht nur in Lhasa, sondern auch in anderen Städten wie Xigatse stark erhöht.

Es ist nicht das erste Mal, dass es seit der chinesischen Invasion von 1950 und seit dem großen Aufstand von 1959 zu Protesten kam. Die Unterdrückung Tibets durch China hat immer wieder blutig niedergeschlagene Aufstände provoziert. Wir können noch nicht sicher sagen, welche Dimensionen diese neuerliche Welle von Unruhen angenommen hat bzw. noch annehmen wird, sicher aber ist bereits heute, dass sich in den letzten Jahren das Konfliktpotenzial durch die gesellschaftlichen Umwälzungen im Gefolge der Restauration des Kapitalismus in China zweifellos dramatisch zugespitzt hat. Insofern kommt den Aufständen über den reinen Anlass hinaus auch besondere Bedeutung zu. Im folgenden Artikel wollen wir uns daher etwas intensiver mit den Hintergründen der Unruhen in Tibet beschäftigen.

Geschichte Tibets

Gebetsmühlenartig behaupten die chinesischen StalinistInnen und ihre Fans in Westeuropa, dass Tibet immer schon integraler Bestandteil Chinas war. So schrieb etwa Rainer Rupp in der Tageszeitung Junge Welt vom 22.03.08: "Tibet ist mindestens seit 700 Jahren ununterbrochen eine Provinz Chinas gewesen, das belegen Zigtausende von historischen tibetanischen und chinesischen Dokumenten in Peking, Nanking und Lhasa." Abgesehen davon, dass hieraus noch lange kein quasi naturgegebenes Recht des heutigen Chinas auf die tibetische Region resultiert, stimmen die Behauptungen des chinesischen Nationalismus einfach nicht.

In den letzten 1.000 Jahren war Tibet abwechselnd eigenständig oder diversen mongolischen und chinesischen Herrschern tributpflichtig. Im ersten Jahrtausend gab es sogar eine Periode, in der China Tribut an Tibet leisten musste. Auf den mongolischen Einfluss geht übrigens auch der Dalai Lama zurück: 1578 erhielt ein gewisser Sonam Gyatso vom mongolischen Herrscher Altan Khan den Titel "Dalai Lama" ("herrlich verdienstvoller Ozean") verliehen. Von nun an sollte der Dalai Lama der oberste "weltliche" Herrscher Tibet sein.

Im frühen 18. Jahrhundert etablierte die chinesische Qing-Dynastie (die übrigens keine ethnischen Han, sondern Mandschu waren) das Recht, bevollmächtigte Regierungsvertreter, so genannte Amban, in Lhasa zu stationieren. Im Gegenzug sicherte China der tibetischen Elite Schutz vor innerer Rebellion und äußeren Angriffen zu (wie z.B. vor einem nepalesischen Angriff im Jahr 1792). Dies war Ausdruck der Expansionsbestrebungen des Qing-Reichs, welches sich im 18. Jahrhundert im Westen nach Ostturkestan, im Norden in die Mongolei, im Osten nach Korea und im Süden nach Burma und Vietnam ausdehnte. Als das China der Qing-Dynastie im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss interner Rebellionen und imperialistischen Drucks (wie etwa die Opiumkriege von 1840/42 und 1856/60 Englands) langsam zusammenbrach, löste sich Tibet von der chinesischen Kontrolle. Gleichzeitig wurde es – im Rahmen des so genannten "Great Game" – für das britische Empire interessant, vor allem als Pufferzone gegen den russischen Expansionsdrang in Zentralasien. 1904 besiegte eine von Colonel Younghusband geführte britische Armee das schwache tibetische Heer und zwang der Regierung in Lhasa ungleiche Handelsverträge auf. Anders also, als der Dalai-Lama, die tibetische Exilregierung in Dharamsala und VertreterInnen der Free-Tibet-Szene behaupten, war Tibet vor 1950 nicht immer schon "unabhängig".

Religionskriege

Der Dalai-Lama und seine Fans stellen das Tibet vor 1950 als Gesellschaft des Friedens und der Harmonie dar, als Gesellschaft, die keine Kriege und Gewalt kannte. Laut dem Dalai Lama habe dies mit dem "fortwährenden Einfluss des Buddhismus" in der Region zu tun, welcher "inmitten der Weiten einer unberührten Natur eine Gesellschaft schuf, die sich dem Frieden und der Harmonie verschrieb. Wir genossen Frieden und Zufriedenheit" (zit. n. Lopez, Donald: Prisoners of Shangri-La: Tibetan Buddhism and the West, Chicago and London: Chicago University Press 1998, S. 205.) In einer Biographie des Dalai Lamas heißt es über das Tibet vor der maoistischen Invasion: "Die Einwohner von Lhasa, ob arm oder reich, sind alle sehr friedlich. (…) Selbst die Bettler brauchen ihrem Gewerbe nur morgens ein paar Stunden nachzugehen, um sich ihr tägliches Brot zu beschaffen. Am Abend sind alle selig betrunken. Die Leute von Lhasa sind ungezwungen, zufrieden und glücklich. (…) Niemand muss sich allzu sehr ins Zeug legen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das Dasein ergibt sich wie von selbst, und alles läuft wunderbar." (zit. N. Goldner, Colin: Dalai Lama, Fall eines Gottkönigs, Aschaffenburg 1999)

In Wirklichkeit aber war Tibet Jahrhunderte lang durchzogen von blutigen Religionskriegen rivalisierender buddhistischer Sekten. Dabei war gerade die Richtung, welcher auch der aktuelle Dalai Lama angehört, die Gelugpa-Schule (auch "Gelbmützen" genannt) nicht zimperlich. Seit dem 16. Jahrhundert machte sie sich daran, Tibet ihrer Herrschaft zu unterwerfen, und vermischte dabei ihre Version des ursprünglich importierten Buddhismus mit verschiedenen, regional unterschiedlichen polytheistischen Urreligionen. Ende des 18. Jahrhunderts etwa konfiszierte die Gelbmützen-Sekte viele Klöster und zwang deren Mönche, zu ihrer Strömung zu konvertieren. Diese Konflikte haben sich bis heute gehalten und werden sogar innerhalb der tibetischen Exilgemeinde in Nordindien ausgetragen. Ein Beispiel ist der skurrile Streit um die Reinkarnation des Karmapa Lama, Oberhaupt der Karma-Kagyu-Sekte und Rang drei in der Lama-Hierarchie in den 1990er Jahren. Indische Gerichtshöfe mussten sich sechs Jahre lang damit beschäftigten, wer denn nun der "echte wiedergeborene" Karmapa Lama sei. Eine rivalisierende Gruppe versuchte 1998 und 1999 sogar zweimal (erfolglos), dass Rumtek-Kloster der Kagyu-Sekte im nordindischen Sikkim zu stürmen. Wie in vergangenen Zeiten geht es dabei weniger um religiöse Spitzfindigkeiten, sondern um höchst "irdische" Dinge; in diesem Fall um das beträchtliche Vermögen, welches die Führer der tibetischen Exilgemeinde durch die Ausnützung des naiven "westlichen" Interesses am tibetischen Buddhismus (etwa über Spenden) anhäufen konnten.

Das tibetische Feudalsystem

Was viele Dalai Lama-Fans häufig unter den Tisch kehren oder im schlimmsten Fall sogar verherrlichen, lassen wir am besten von Mary Craig beschreiben, die in ihrem Buch "Tears of Blood – A Cry for Tibet" (das mit einem Vorwort des Dalai Lama versehen ist!) die tibetische Gesellschaft folgendermaßen skizziert: "Es war eine mittelalterliche Feudalgesellschaft. Der tibetanische Bauer war ohne Zweifel Eigentum seines Herrn, egal, ob er Staatseigentum, klösterliche Anwesen oder den Boden einer der etwa zweihundert großen aristokratischen Familien bebaute. Als Gegenleistung für ein kleines Stück eigenes Land musste er ein gewisses Pensum abarbeiten. Den größten Teil seines Ertrags musste er seinem Herrn abliefern, für sich und seine Familie konnte er kaum das Nötigste behalten. Der Grundbesitzer durfte nicht nur die Höhe der Pacht nach Belieben festlegen, sondern auch drakonische Strafen verhängen, sollte der Bauer seinen Forderungen nicht nachkommen."

Heinrich Harrer, Freund des 14. Dalai Lama und ehemaliger NSDAP- und SS-Mann, verglich die Herrschaft der Mönche in Tibet mit einer strengen Diktatur. Harrer beschreibt einen bestimmten Fall. Ein Mann hatte in einem Tempel eine Butterlampe gestohlen. Ihm wurden "öffentlich die Hände abgehackt und sein verstümmelter Körper in eine nasse Jakhaut eingenäht. Dann ließ man die Haut trocknen und warf ihn in die tiefste Schlucht." (zit. n. Colin Goldner: Dalai Lama. Der Fall eines Gottkönigs, Aschaffenburg 2005) Noch aus den 1950er und 1960er Jahren gibt es zahlreiche Photos, die ehemalige tibetische SklavInnen und Leibeigene mit abgehackten Gliedmaßen oder ausgestochenen Augen zeigen. In den fünfziger Jahren berichteten US-amerikanische Journalisten, dass erst auf ihre Intervention eine Gruppe von Gefangenen, denen öffentlich Nasen und Ohren abgeschnitten werden sollen, zu 250 Peitschenhieben "begnadigt" wurden. Der Autor Colin Goldner erklärt den religiösen Hintergrund dieser Bestrafungsformen: "Da Buddhisten die Tötung eines Lebewesens prinzipiell untersagt ist, wurden Delinquenten oftmals bis nahe an den Tod herangeführt und dann ihrem Schicksal überlassen. Starben sie nun an den Folgen der Tortur, war dies durch ihr eigenes Karma bedingt."

Die zahlreichen buddhistischen Klöster waren in der Regel selbst große Grundeigentümer und besaßen etwa 40% der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Das mächtige Drepungkloster der Gelbmützensekte war mit seinen 20.000 bis 25.000 Leibeigenen, seinen 300 großen Weidegebieten und seinen 16.000 ViehtreiberInnen einer der größten Landbesitzer der Welt: Der Dalai Lama selbst lebte im Potala-Palast mit seinen 1.000 Zimmern auf 14 Etagen. Die Mehrheit der gewöhnlichen Mönche hingegen lebte in sehr bescheidenen Verhältnissen, wenn auch besser als die SkavInnen und Leibeigenen.

Die religiösen Anordnungen der Theokratie waren dabei der Eckpfeiler ihrer Klassenherrschaft. Der heute in "westlichen" Alternativ-Kreisen so beliebte Buddhismus eignete sich hierfür besonders gut: Arme Menschen wären an ihrem Schicksal selber schuld, da sie Verfehlungen im vorangegangenen Leben begangen hätten. Grundlage dieser Ansicht ist die Karma-Lehre, wonach sich Taten nicht nur im Hier und Jetzt, sondern auch im "nächsten Leben" auswirken.

Das weitgehende Fehlen von (dokumentierten) großen Klassenkämpfen in der tibetischen Gesellschaft hat weniger mit der glückseligen Religiosität der tibetischen Bevölkerung zu tun. Es resultiert vielmehr aus der Jahrhunderte langen brutalen Feudalherrschaft, die sich aufgrund der spezifischen geographischen Bedingungen des tibetischen Hochlandes so lange, so unverändert halten konnte (Abgeschiedenheit von der Außenwelt, wenig Impulse von außen, begrenzte Emigrationsmöglichkeiten von Unterdrückten etc.). Allerdings waren nicht alle tibetischen Unterdrückten passiv, einige flohen, andere rebellierten. Ende der 1940er Jahre wird auch von kleineren antikolonialen und antifeudalen Aufständen und Guerilla-Aktivitäten berichtet, getragen von tibetischen Kleinbauern und nationalistisch gesinnten buddhistischen Mönchen und organisiert und geleitet durch tibetische KommunistInnen.

Schließlich – und das wird von vielen Dalai Lama-GegnerInnen oft unterschlagen – gab es in den 1920er und 1930er Jahren auch in Tibet einen Hauch von Modernisierung. Paradoxerweise wurde diese vom Vorgänger des heutigen Dalai Lama, dem 13. dieser Art, eingeleitet. Beeinflusst vom britischen Empire ließ er die Armee reformieren, schickte Studenten zum Studieren ins Ausland, brachten Banken und Post nach Tibet, ließ Minen errichten und in den 1930er Jahren die ersten zwei (!) Autos nach Tibet einführen. (Diese mussten allerdings, in Einzelteile zerlegt, auf Lasttieren durch die unwirtliche Berglandschaft transportiert werden, Straßen gab es ja keine). Doch der Preis der Reformen war hoch, und die feudale Elite wollte ihn nicht zahlen. "Während der Dalai Lama die Wichtigkeit der Armee zum Schutz seiner politischen Macht und vor einer chinesischen Bedrohung verstand, konnte er keine direkte Herausforderung seiner Autorität tolerieren. Als die Führung des Militärs damit begann, seine eigene Position zu attackieren (…), wandte er sich gegen sie und stoppte Tibets Modernisierung." (Wang Lixiong: Reflections on Tibet, in: New Left Review Nr. 14, 2002)

Anders als viele andere vorkapitalistische außereuropäische Gesellschaften, denen dieser Mantel oft viel zu leichtfertig umgehängt wird, ähnelte Tibet damals dem Feudalismus des europäischen Mittelalters tatsächlich sehr stark. Es wäre aber ebenso falsch, das Tibet vor der chinesischen Besatzung komplett mit einer mittelalterlichen Feudalgesellschaft gleichzusetzen, so als würden sich Gesellschaften noch im Zeitalter des Imperialismus (also ab Ende des 19. Jahrhunderts) linear zu ihren früheren Pendants entwickeln. Diese bei StalinistInnen anzutreffende Sichtweise negiert die ungleiche und kombinierte Entwicklung im kapitalistischen Weltsystem. So war es beispielsweise im Frankreich des 12. Jahrhunderts weder möglich, Autos zu importieren noch Studenten in ein hoch entwickeltes Land zu schicken, wo sie mit modernen Weltanschauungen in Berührung kommen. Doch im damaligen Tibet war dies möglich. Und so konnte sich unter anderem auch eine, wenn auch winzige, Kommunistische Partei Tibets herausbilden – gegründet von Phüntso Wangye, der in den 1930er Jahren in Nanjing studiert hatte. (Die KP Tibets wurde übrigens 1948 zu einem Eintritt in die KPCh gedrängt, Phüntso Wangye saß ab 1958 18 Jahre im Gefängnis, da ihm Maos Clique "lokalen Nationalismus" vorgeworfen hatte.)

Die chinesische Invasion

Die chinesische Revolution von 1949 wurde zum Wendpunkt – nicht nur der Weltpolitik, sondern auch Tibets. Anfänglich noch recht zögerlich, sah sich die an die Macht gekommene Kommunistische Partei Chinas (KPCh) unter Mao Zedong als Antwort auf den Druck von Imperialismus und nationaler Bourgeoisie gezwungen, Grundbesitz und Kapital zu enteignen. Doch anders als die Bolschewiki 1917 in Russland stützte sich die KPCh nicht auf eine revolutionäre Rätebewegung, sondern auf eine nach bürgerlichem Muster aufgebaute Bauernarmee. Und so wurde die Beseitigung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse von oben, auf bürokratische Art und Weise, vollzogen. Die politische Macht lag in der Hand einer bürokratischen Kaste, die sich wie in der UdSSR unter Stalin immer mehr von der ArbeiterInnenklasse und den Bauern/Bäuerinnen absonderte. TrotzkistInnen bezeichnen den entstandenen Staat daher als "degenerierten ArbeiterInnenstaat".

Und anders als die Bolschewiki zu Zeiten Lenins und Trotzkis ließ sich die chinesische KP in der nationalen Frage nicht vom revolutionären Internationalismus leiten, sondern – wie bei stalinistischen Parteien üblich – von Chauvinismus und ihren eigenen ökonomischen und geostrategischen Interessen. Eines der ersten Dekrete, welche die revolutionäre Sowjetregierung 1917 veröffentlichte, war die "Deklaration der Rechte der Völker Russlands". Sie beinhaltete unter anderem "das Recht der Völker Russlands auf freie Selbstbestimmung bis zur Lostrennung und Bildung eines selbstständigen Staates". Finnland – strategisch nicht unwichtig vor den Toren des revolutionären Petrograd gelegen – nahm dieses Recht auch in Anspruch. Anders die Regierung Mao Zedongs: Sie betrachtete Regionen wie das erdölreiche und mehrheitlich von Muslimen wie dem Turkvolk der UigurInnen bevölkerte Xinjiang oder eben Tibet automatisch als Teil der Volksrepublik China.

Im Oktober 1950, drei Monate nach Beginn des Korea-Kriegs, der ersten großen Zuspitzung des "Kalten Kriegs", marschierten 40.000 chinesischen Soldaten in Tibet ein, indem sie die schwache tibetische Armee besiegten und die ostibetische Stadt Chamdo einnahmen – wohlwissend, dass weder der in Korea beschäftigte US-Imperialismus noch sein geschwächtes britisches Pendant eingreifen würden. Ob das eine "friedliche Befreiung" war, wie die offizielle chinesische Geschichtsschreibung heute behauptet, sei dahingestellt. Jedenfalls muss bemerkt werden, dass es zunächst einmal keinen Widerstand der TibeterInnen gab.

1951 schloss die stalinistische Führung mit dem erst 16-jährigen Dalai Lama einen 17-Punkte-Vertrag ab. Punkt 13 des Abkommens lautete: "Die in Tibet einrückende Volksbefreiungsarmee wird die oben aufgeführten politischen Richtlinien beachten, wird sich bei allen Käufen und Verkäufen anständig verhalten und der Bevölkerung nicht das Geringste, weder Nadel noch Faden, gewaltsam nehmen." (http://de.wikipedia.org/wiki/17-Punkte-Abkommen). Nun, unter "Bevölkerung" verstanden Chinas StalinistInnen offenbar die alten Feudalherren und unter "Nadel und Faden" ihre beträchtlichen Vermögen. Soll heißen: Kein Kloster wurde angetastet, kein Land wurde enteignet, kein Führer wurde entmachtet. Im Gegenteil, die KPCh machten den Dalai Lama sogar zum Vizevorsitzenden des ständigen Komitees des Nationalen Volkskongresses (des stalinistischen Rumpf-Parlaments), wenn auch sein Antrag auf Aufnahme in die KPCh (!) abgewiesen wurde. All das wurde der Bevölkerung von Mao als "Einheitsfront mit dem tibetischen Volk" verkauft (Mao Zedong: Über die Richtlinien für die Arbeit in Tibet, in: Ausgewählte Werke Band V, Beijing 1978, S.353-388).

Eine wirkliche revolutionär-sozialistische Regierung hätte vollkommen anders gehandelt. Anstatt, wie die StalinistInnen, ihre eigenen bornierten Interessen durch eine Packelei mit den alten Herrschenden abzusichern, hätte sie versucht, Einfluss unter den Bauern/Bäuerinnen, HirtInnen, einfachen Soldaten und der – zugegebenermaßen – winzigen Schicht an städtischen ArbeiterInnen zu gewinnen, um gemeinsam mit ihnen soziale und politische Reformen durchzuführen.

Doch die alte Feudalaristokratie war auch mit der Teilung der Macht mit der Bürokratie nicht einverstanden. Denn im Rest des Landes kam es überall zu Enteignungen, und die tibetischen Herrschenden fürchteten, dass es auch ihnen früher oder später an den Kragen gehen würde. Und so wurde in den folgenden Jahren mit Unterstützung der CIA ein Programm zur "Konterrevolution" gestartet. Vom Nachbarland Nepal aus wurden Guerillas nach Tibet geschleust, die in eigens errichteten Trainingscamps ausgebildet worden waren. Inmitten der Aktivitäten: Die beiden älteren Brüder des Dalai Lama, Thubtan Norbu und Gyalo Thondup. Die Erfolge dieser Guerilla-Aktivitäten waren überaus bescheiden, was einerseits an der nicht allzu überschwänglichen Unterstützung der US-Regierung liegen mag, andererseits aber sicher auch mit der geringen Unterstützung des Widerstands unter der einfachen Bevölkerung zu tun hat. Selbst Heinrich Harrer muss zugeben, dass jene, die gegen die ChinesInnen opponierten "vorwiegend Adelige, Halb-Adelige und Lamas waren" (Heinrich Harrer: Return to Tibet, New York 1985, S. 54). Mittlerweile gibt die Organisation des Dalai Lama selbst zu, dass man in den 1960er Jahren Millionen Dollar von der CIA erhalten habe. Der Dalai Lama selbst bekam die stolze Summe von 186.000 Dollar pro Jahr überwiesen. (Jim Mann: CIA Gave Aid to Tibetan Exiles in '60s, in: Los Angeles Times, 15.09.1998). Allerdings bestreitet er, direkt in die Guerilla-Organisation verwickelt gewesen zu sein, offensichtlich um sein fragwürdiges Image als "Friedensengel" nicht zu gefährden.

Als es dann in Gesamtchina ab 1956 zu groß angelegten Kollektivierungen in der Landwirtschaft kam, betraf das natürlich auch die von vielen TibeterInnen bewohnten angrenzenden Provinzen des heutigen Tibets. Unter dem Deckmantel von Religion und nationaler Befreiung versuchte die tibetische Oberschicht nun, die Massen gegen das KP-Regime zu mobilisieren. In den tibetisch bewohnten Provinzen kam es zu zahlreichen Rebellionen, bei deren Niederschlagung über 10.000 TibeterInnen getötet wurden. In Tibet wurde dies unterdessen von vielen als "Genozid am tibetischen Volk" wahrgenommen.

Ende 1958 erfolgte ein massiver militärischer Einmarsch in Lhasa, um Flüchtlinge der Revolten aus den angrenzenden Provinzen zu verhaften. Als versucht wurde, den Dalai Lama festzunehmen, kam es zu einem Aufstand. Die Revolte im März 1959 wurde äußerst brutal niedergeschlagen, der Dalai Lama und etwa 70.000 bis 80.000 Gefolgsleute, großteils aus der Oberschicht, mussten nach Indien fliehen. Sicher, der Aufstand mag eine reaktionäre, feudale Bewegung mit wenig Beteilung der armen Bevölkerung gewesen sein, wie der stalinophile US-amerikanische Politologe Michael Parenti schreibt (siehe http://www.michaelparenti.org/Tibet.html), doch Faktum ist, dass es die KPCh unterlassen hatte, die tibetischen Massen für den Sozialismus zu gewinnen und durch ihre bürokratischen Manöver etwaige Sympathien in der Bevölkerung stets wieder verspielte.

Dass in den Monaten nach dem Aufstand zehntausende TibeterInnen getötet wurden, hängt jedenfalls nicht in erster Linie mit der Han-Unterdrückung gegen Tibet zusammen, sondern vor allem auch mit den Entwicklungen in Gesamtchina. Nach den verheerenden Resultate des "großen Sprungs nach vorn" kam es im ganzen Land zu scharfer Repression gegen KritikerInnen an Maos Kurs – nachdem dieser einige Zeit zuvor noch die Parole "Lasst tausend Blumen blühen und hundert Gedankenschulen miteinander wetteifern" ausgegeben hatte. Wenn hingegen heute noch immer jemand behauptet, China hätte seit den 1950er Jahren über 1,2 Millionen TibeterInnen ermordet (!), so wie das die "Free Tibet"-Kampagne auf ihrer Website tut, ist das als billige antichinesische Gräuelpropaganda zu bewerten.

Zerstörung des Feudalsystems

In den auf 1959 folgenden Jahren machte der chinesische Stalinismus eine seiner typischen 180-Grad-Wendungen, diesmal in seiner Tibet-Politik. Nachdem der Feudalismus zuerst geduldet wurde, machte sich die KP-Regierung nun daran, ihn komplett zu zerstören – wie immer natürlich von oben und mit bürokratischen Mitteln. Zu den größten Errungenschaften dieser Zeit gehört zweifelsohne die Aufhebung der Zwangsarbeit und der Sklaverei, die Schaffungen von Arbeitsplätzen, die Errichtung staatlicher Schulen oder die Einrichtung fließenden Wassers und elektrischen Stroms in Lhasa. Viele Mönche, die bereits als Kinder für das Klosterleben ausgewählt wurden, ließen dieses nun ein für alle Mal hinter sich. Auch die Situation der Frauen verbesserte sich massiv. Im alten Tibet wurden Frauen noch genauso schlimm behandelt wie in Europa vor Hunderten von Jahren, was sich sowohl in lokalen Gesetzen, wie etwa, dass eine Frau bei Ehebruch von ihrem Mann straflos getötet werden durfte, bis hin zu häufig verwendeten Bezeichnungen für Frauen wie Kyemen ("mindere Geburt") oder Tsandenma ("die mit Beschränkungen Behaftete") ausdrückte. Heute haben laut offiziellen Angaben in Tibet mehr Frauen einen Oberstufenabschluss als Männer und Frauen stellen 43% der höher qualifizierten Arbeitskräfte.

Mit all diesen Maßnahmen schuf sich die KP natürlich eine gewisse materielle Basis für die Unterstützung ihres Regimes in Tibet unter den tibetischen Massen. Diese wurden aber mit Einsetzen der Kulturrevolution im Jahr 1966 wieder verspielt. Die zwei einschneidendsten Entwicklungen dieser Zeit waren wohl die antireligösen Angriffe und die Einrichtung von Volkskommunen. Ersteres betraf vor allem die massive Zerstörung von Klöstern und radikale Versuche zur "Umerziehung" von Mönchen, begleitet von öffentlichen antireligiösen Schmähungen bis hin zur Verarbeitung von "heiligen" Schriften zu Düngemittel. Die Zerstörungen waren tatsächlich enorm. Von den 1959 in Tibet existierenden 2.463 Klöstern waren 1976 nur mehr ganze zehn heil übrig geblieben.

Was "Free Tibet" und Co. heute aber – wohl bewusst – unterschlagen, ist die Tatsache, dass viele religiöse Stätten von TibeterInnen selbst zerstört wurden und nicht von "bösen Han-ChinesInnen". Der chinesische Autor Wang Lixiong weist darauf hin, dass die größten Zerstörungen in abgelegenen Gebieten des Landes erfolgten und nicht in den größeren Städten, wo die chinesische Autorität ein gewisses Ausmaß an Kontrolle gewährleisten konnte.

"Die Wahrheit ist, dass aufgrund der schlechten Transportwege und der großen Distanzen nur eine begrenzte Anzahl an Han-chinesischen Roten Garden Tibet erreichte. Auch wenn manche von ihnen bei der Zerstörung der Tempel mitmachten, konnten ihre Aktionen höchstens symbolisch sein. Hunderte Schreine in Dörfern, auf Weiden und an felsigen Berghängen wurden zerstört: Niemand wäre zu deren Zerstörung fähig gewesen ohne die Teilhabe der lokalen Bevölkerung. Außerdem waren die meisten der RotgardistInnen, welche die Tibetische Autonome Region erreichten tibetische StudentInnen, die von irgendwelchen Universitäten zurückkamen." (Wang Lixiong: Reflections on Tibet). Klar ist aber auch, dass diese StudentInnen von Mao, seiner Clique und deren sektiererisch- antireligiöser Politik beeinflusst waren.

Wieder einmal hätte eine wahrhaft revolutionär-sozialistische Herangehensweise völlig anders aussehen müssen. Wenn Religion das Opium des Volks ist, wie Karl Marx geschrieben hat, dann müssen MarxistInnen gläubigen Menschen eine bessere Alternative anbieten, anstatt ihnen das Opium einfach mit Gewalt wegzunehmen. Doch statt der Religion die materielle Grundlage zu entziehen und damit dem geduldigen Kampf gegen den religiösen Aberglauben eine feste Basis zu geben, blieb die bürokratische Kommandowirtschaft des chinesischen Stalinismus bei einfachen Gewaltmaßnahmen und der Installierung eines Mao-Kultes quasi als Ersatzreligion. Gebetssteine an Wegen und Bergpässen wurden zerstört und durch Tafeln mit Mao-Zitaten ersetzt…

Auch für die Einrichtung von Volkskommunen in Tibet ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre, also zehn Jahre später als im Rest des Landes, fehlte jedwede materielle Grundlage. Wir MarxistInnen sind im Prinzip für Kollektivierungen in der Landwirtschaft, doch sie müssen zu großen Teilen ohne Zwangsmaßnahmen, auf freiwilliger Basis erfolgen. Dies wird aber nur dann passieren, wenn der Lebensstandard durch die kollektive Produktion gehoben werden kann. In China, wo 1957 der erste Traktor vom Band gelaufen ist, war die technische Ausstattung dafür aber gar nicht vorhanden, die riesigen Produktionseinheiten mussten weiterhin mühsam mit der Hand bewirtschaftet werden. Die tibetischen Bauern/Bäuerinnen betrachteten die Einrichtung der Volkskommunen jedenfalls als Rückgängigmachung ihres durch die Enteignung der Großgrundbesitzer in den letzten Jahren erreichten Lebensstandards. Wieder kam es zu kleineren Revolten gegen die Einrichtung der Kommunen.

Der nächste große Schwenk in der chinesischen Tibet-Politik erfolgte eingebettet in den größeren Rahmen der Marktreformen ab 1978, die häufig mit dem Namen des damaligen Parteivorsitzenden Deng Xiaoping assoziiert werden. Die Reformen der folgenden Jahre müssen analysiert werden als Versuch der Bürokratie, mittels Verurteilung der "schlimmen Auswüchse der Kulturrevolution" (welche ja nicht nur Tibet, sondern ganz China betrafen!) ihre eigene privilegierte Position zu halten und zu sichern. Mehrere Tibet-Arbeitsforen sollte Strategien ausarbeiten, um die TibeterInnen durch größere Autonomie, Wiederzulassung religiöser Praktiken und Entwicklung der Wirtschaft vermehrt zu integrieren und damit das Autonome Gebiet Tibet besser unter Kontrolle zu halten. Über 300 tibetische Häftlinge wurden freigelassen, es kam zu einer "Tibetisierung" der regionalen Bürokratie, und zahlreiche Klöster wurden, zum Teil mit staatlicher Unterstützung, wieder aufgebaut (natürlich aber auch mit dem Hintergedanken, um über den Tourismus die tibetische Wirtschaft anzukurbeln. 1984 wurde die Öffnung Tibets für TouristInnen und Exil-TibeterInnen beschlossen, andererseits sollten vermehrt chinesische Unternehmen in die Region kommen. Und mit Wu Jinghua von der Volksgruppe der Yi wurde erstmals ein Nicht-Han-Chinese Parteisekretär der tibetischen Sektion. 1986 feierten viele TibeterInnen zum ersten Mal seit 1967 wieder das Monlam-Fest, das größte religiöse Fest im Land. Alles sah nach einem gewissen "Tauwetter" seitens der chinesischen Regierung aus.

Doch Ende 1987, Anfang 1988 kam es erneut zu Protesten in Tibet. Obwohl diese zum Teil wieder einmal (auch) unter dem Banner von nationaler Befreiung und/oder Religion geführt wurden, so sind sie doch im Kontext der Auswirkungen der kapitalistischen Reformen in Gesamtchina zu betrachten, die sich damals auch in Tibet zeigten. Schließlich kam es Ende der 1980er Jahre überall in China zu Protesten gegen die Resultate der Marktreformen, wie z.B. ausufernde Korruption oder galoppierende Inflation – Proteste, die schließlich 1989 im Massaker am und um den Platz des Himmlischen Friedens (Tian'amen) in Beijing mündeten.

Der als liberal geltende Bürokrat Wu Jinghua wurde für die Proteste verantwortlich gemacht und durch einen anderen Bürokraten ersetzt, der in Tibet das Kriegsrecht verhängte: Es war kein geringerer als Hu Jintao, der heutige Staatspräsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas. Die brutale Niederschlagung der Proteste kann durchaus als Vorbote des Tian'amen-Massakers gelten, auch wenn ein Zusammenhang vielleicht nicht unmittelbar herstellbar ist. Jedenfalls zeigt sich, wie Tibet von der stalinistischen Bürokratie immer noch als so etwas wie eine "innere Kolonie" betrachtet wurde (und heute noch wird), in der sich aufstrebende BürokratInnen als "hart durchgreifende Sheriffs" beweisen können um später einmal in Beijing zu höheren Ehren aufzusteigen.

Heutige Situation

Heute stehen sich bezüglich Tibet wie eh und je zwei Haupt-Fronten gegenüber. Auf der einen Seite der Dalai Lama, die tibetische "Exilregierung" und die zahlreichen Initiativen der "Free Tibet"-Szene. Auf der anderen Seite die chinesische Regierung und ihre letzten verbliebenen Fans im Ausland. Erstere Seite betont stets die Zerstörung der tibetischen Kultur, die nicht vorhandene Religionsfreiheit und das Verhalten der chinesischen Regierung als "Kolonialmacht". Die andere Seite hingegen wird nicht müde zu betonen, dass die KPCh das Feudalsystem beseitigt und moderne Technologie nach Tibet gebracht hat. Wir hingegen behaupten, dass das eine das andere nicht unbedingt ausschließen muss. Bislang führte die Aufpfropfung des "Fortschritts" von außen durch den chinesischen Staat jedenfalls nur dazu, dass von großen Teilen der tibetischen Bevölkerung dies als Fremdbestimmung wahrgenommen wurde. Die tibetischen Eliten – und hier ist die "Free Tibet"-Kampagne ein williges Werkzeug – versuchen natürlich, diese Stimmungen für ihre Interessen zu instrumentalisieren.

Ja, die VR China hat in Tibet feudale Strukturen zerstört und technischen Fortschritt gebracht. Doch sie hat dies in Form einer Kolonialmacht getan, so wie auch das britische Empire technischen Fortschritt nach Indien gebracht. Auch die britische Regierung ließ in Indien Eisenbahnen bauen, so wie die chinesische Regierung vor einigen Jahren die Qinghai-Tibet-Bahn bauen ließ. Doch auch eine überzogene Kritik in die andere Richtung wäre falsch. Natürlich stimmt es, dass diese Bahn auf die Bedürfnisse von Beijing und nicht von Lhasa zugeschnitten ist, dass hauptsächlich nicht-tibetisches Zugspersonal beschäftigt wird und dass sie zum Abtransport tibetischer Bodenschätze dienen wird. Trotzdem würden wir uns als MarxistInnen nicht offensiv gegen den Bau von Eisenbahnen stellen, denn eine Abschottung von der restlichen Welt kann wohl keine Lösung sein – schon gar nicht in Hinblick auf unsere Perspektive eines gemeinsamen Kampfes der Unterdrückten sämtlicher Volksgruppen Chinas und darüber hinaus.

Ähnliches gilt für die Vorwürfe der Han-Sinisierung Tibets, da in den letzten Jahren immer mehr Han in die größeren tibetischen Städte strömen. Wenn kritisiert wird, dass die zuwandernden Han ökonomisch und politisch bevorzugt werden, dann unterstützen wir diese Kritik. Wenn allerdings bloß von "Überschwemmung" die Rede ist, welche die gewachsene ethnische Struktur Tibets zerstören würde, dann weisen wir das als reaktionär zurück. Denn hier wird nicht unterschieden zwischen den einfachen ChinesInnen, die auf der Suche nach besseren Lebensverhältnissen nach Tibet einströmen, und einer chinesischen Staats- und Partei-Bürokratie, die diese Migrationsbewegungen bewusst fördert und Ziel gerichtet steuert, um über kurz oder lang eine chinesische Mehrheit im strategisch bedeutsamen Tibet zu schaffen.

MarxistInnen befürworten zwar im Allgemeinen die ethnische Durchmischung, insbesondere der ArbeiterInnenklasse, und sind gegen eine Welt, in der sich jede Nation, jede Sprachgruppe so weit wie möglich abschottet und ethnisch "rein" bleibt. Aber das heißt nicht, dass wir in der konkreten Situation uns auf das Argument der Unabänderlichkeit von Bevölkerungsbewegungen zurückziehen. Im konkreten Fall, in dem eine übermächtige Bürokratie bewusst Migrationsströme lenkt, um den Bedürfnissen nach nationaler Selbstbestimmung von Minoritäten längerfristig der Boden entziehen zu können, werden MarxistInnen nicht neutral bleiben und diese Bevölkerungspolitik als bürokratisches Manöver, das entschlossen zu unterstützenden Widerstand erfordert, zu bezeichnen haben. Denn die Bürokratie ist unfähig, Millionen von Menschen in ihren Herkunftsregionen erträgliche Lebensbedingungen zu geben, und bietet die Auswanderung in entfernte Provinzen als einfache Möglichkeit an, um sowohl in den Zentralräumen das soziale Konfliktpotenzial zu verkleinern als auch das nationale Antlitz ganzer Regionen grundlegend zu verändern. Nur mit einer Argumentation, die die politischen Ursachen der von der Bürokratie gesteuerten Migrationsströme bloßlegt, könnte eine Brücke zwischen TibeterInnen und jenen einfachen Han-ChinesInnen geschlagen werden, die von der Bürokratie als billige Manövriermasse missbraucht werden.

Wenn die "Free Tibet"-Bewegung die Zerstörung der Kultur kritisiert, so müssen wir uns erst einmal fragen, was überhaupt unter "Kultur" zu verstehen ist. Wo der Nationalismus einer Bevölkerungsmehrheit lokale Sprachen, Sitten, Gebräuche, Traditionen angreift, werden wir uns – ohne diese Sitten, Gebräuche, Traditionen deshalb inhaltlich zu verteidigen – gegen den Nationalismus der Mehrheit wenden werden und das Recht der Minderheit auf ihre eigene Kultur unterstützen. Wenn aber historisch gewachsene soziale Zusammenhänge mit gesamtgesellschaftlicher, und vor allem politischer und ökonomischer Wirkungsmacht als Kultur bezeichnet werden und damit verschiedene Ebenen miteinander vermengt werden – wie im Fall Tibets die autoritäre Herrschaft der Lamas mit den kulturellen Traditionen des Landes – dann werden wir diesem Teil der "Kultur" keine Träne nachweinen.

Grundsätzlich ist zu sagen, dass der Kapitalismus überall auf der Welt historisch gewachsene Kulturen bzw. Elemente dieser Kulturen zerstört. Z.B. ist momentan die Hälfte aller etwa weltweit existierenden 6.500 Sprachen vom Aussterben bedroht. Es mag traurig sein, wenn diese Sprachen eines Tages niemand mehr beherrscht, auf der anderen Seite ist es ein Fortschritt, dass sich immer mehr Menschen miteinander in einer Fremdsprache unterhalten können. Wenn unter Kultur das Ausleben von Folklore, von alten Sitten und Bräuchen, das Feiern traditioneller Feste etc. verstanden wird, so sei erwähnt, dass dies von der chinesischen Regierung bis zu einem gewissen Ausmaß in den letzten Jahren wieder vermehrt gefördert wird. Absurderweise führt diese Förderung der Revitalisierung der tibetischen Kultur, wie der chinesische Autor Wang Lixiong meint, gerade dazu, dass die Klassenlinien innerhalb der tibetischen Bevölkerung in den letzten Jahren, trotz steigender sozialer Ungleichheit, wieder stärker verwischt werden und ein tibetischer Nationalismus an ihre Stelle tritt. Denselben Prozess können wir im gesamten China beobachten, wo ein immer aggressiverer (Han-)Nationalismus die zunehmend unglaubwürdigere sozialistische Rhetorik ersetzt.

Was die Religionsfreiheit in Tibet betrifft, so ist diese sicher nicht vollständig gegeben, wenn auch die Situation sicher nicht so furchtbar ist, wie in bürgerlichen Medien hierzulande oft dargestellt. Laut offiziellen chinesischen Angaben gibt es im Autonomen Gebiet Tibet 46.000 buddhistische Mönche und Nonnen (was auch von der Gegenseite nicht bestritten wird), dass würde bedeuten, dass jede 59. Person (!) eine Nonne bzw. ein Mönch ist. Die wichtigsten Einschränkungen sind folgende: Mönche und Nonnen müssen unterschreiben, dass sie ihre religiöse Position nicht zur Agitation für eine Abspaltung Tibets von China nutzen werden, es dürfen keine Bilder des Dalai Lama gezeigt werden und die Nicht-Anerkennung des 11. Panchen Lama, der zweithöchsten Autorität in der Lama-Hierarchie durch die KP-Regierung muss akzeptiert werden. Dieser wurde 1995 im Alter von 6 Jahren, kurz nach seiner Anerkennung durch den Dalai Lama, von den chinesischen Behörden entführt, sein Aufenthaltsort ist bis heute unbekannt. Lustigerweise fand die sich als "marxistisch" bezeichnende KP-Regierung Chinas ihre eigene "Wiedergeburt" des letzten Panchen Lama. Dass dessen Einsetzung mit Zustimmung eines Teils des tibetischen Klerus vollzogen wurde, zeigt, dass lange nicht die gesamte tibetische Obrigkeit hinter dem Dalai Lama steht. Ein gewisser Teil hat sich längst mit der chinesischen Regierung arrangiert und es sich gemütlich eingerichtet.

Ökonomische und politische Benachteiligung der TibeterInnen

Die Debatte um Kultur und Religion lenkt von viel größeren Problemen ab, von welchen die einfache tibetische Bevölkerung heute betroffen ist. Was viele nicht wissen ist, dass Tibet heute keineswegs zu den ärmsten Provinzen Chinas gehört. Das durchschnittliche Wachstum des regionalen BIP war in den letzten 15 Jahren höher als in China insgesamt. Das Durchschnittseinkommen in städtischen Regionen ist heute, verglichen mit allen anderen Provinzen, autonomen Gebieten und regierungsunmittelbaren Städten nur in Shanghai und Beijing höher. Allerdings ist auch die Stadt-Land-Differenz die höchste Chinas: Das durchschnittliche Einkommen von ländlichen Haushalten ist nur in drei Provinzen niedriger.

In folgenden (offiziellen) Angaben kommen sowohl der gewaltige Fortschritt, der seit den 60er Jahren gemacht wurde, als auch der nicht minder bedeutsame Unterschied in der ökonomischen und sozialen Entwicklung Tibets und Gesamtchinas zum Ausdruck: 1959 genossen 98% der tibetischen Kinder nicht einmal eine Primärschulbildung. Heute haben immerhin 45,5% einen Primärschulabschluss – immer noch deutlich höher als im Landesdurchschnitt, der 7,7% beträgt. Auch die Sterblichkeitsziffer der Neugeborenen konnte von 43% 1959 auf heute 3,1 % gesenkt werden. Der chinesische Durchschnitt jedoch ist 2,2%. Auch die Lebenserwartung konnte deutlich gehoben werden, von 35,5 auf 67 Jahre. Doch Chinas durchschnittliche Lebenserwartung beträgt heute 71,8 Jahre. Das gleich gilt für die AnalphabetInnen-Rate, die ebenfalls deutlich gesenkt werden konnte, mit 44% aber weit über dem nationalen Schnitt von 10,32% liegt. Natürlich hängt das auch damit zusammen, dass immer noch ein Großteil der TibeterInnen nicht in Städten oder in der Nähe von Städten wohnt, wo die Versorgungslage zumeist besser ist, sondern in abgelegenen Landstrichen des unzugänglichen tibetischen Hochlands.

In den Städten ist es so, dass die meisten Geschäfte, Restaurants oder Fabriken von Han-ChinesInnen geleitet werden. Han bekommen in der Regel auch die besseren Jobs, etwa in Staatsunternehmen oder im öffentlichen Dienst. 2006 kam zum Beispiel zu Protesten, weil bei Neuaufnahmen in die öffentliche Verwaltung von 100 offenen Stellen nur 2 (!) an TibeterInnen vergeben wurden. Zwar ist die tibetische Sprache offiziell dem Hochchinesischen (auch Mandarin genannt), der Standardsprache Chinas, gleichgestellt, in der Realität ist für eine Anstellung im Staatsdienst aber ein gutes Verständnis der hochchinesischen Sprache notwendig – die verständlicherweise von vielen, auch einigermaßen gebildeten TibeterInnen nicht einmal ansatzweise beherrscht wird. Die Zustände in den größeren tibetischen Städten (Polizei-Schikanen, Alltagsrassismus, Vorurteile der Han gegenüber TibeterInnen, diese wären "provinziell", "rückständig" etc.) tragen das ihre dazu bei, dass sich viele unterdrückt fühlen. 2006 antwortete der aktuelle Vorsitzende der KP-Sektion Tibets, Zhang Qingli, in einem Interview mit dem Spiegel auf die Frage, ob er tibetisch könne: "Nur ein paar Worte. Ich bin erst seit ein paar Monaten hier."

Positionierung zur nationalen Frage in Tibet

Es ist äußerst schwierig einzuschätzen, wie heute die Stimmung in der tibetischen Bevölkerung ist und was die Beweggründe für die jüngsten Proteste sind. Wie so oft überlagert hier die nationale teilweise die soziale Frage, vermischen sich sozioökonomische mit nationalen und religiösen Motiven. Auch sind die Proteste, wie so oft in China, wohl weit davon entfernt, einheitlich zu sein. In einem Interview der Zeitung "Österreich" mit Georg Blume, dem letzten aus Tibet ausgewiesenen "westlichen" Journalisten über die Beweggründe der Proteste: "In Gesprächen haben sich tibetische Jugendliche immer wieder über soziale und wirtschaftliche Diskriminierung gegenüber Chinesen beklagt. Das waren keine religiösen Motive. Sie hätten nicht die gleichen Chancen wie die Chinesen, ob bei der Schulbildung oder am Arbeitsplatz. Die Motivation der Revolte war die ungleiche Behandlung."

Es ist auch unklar, wie viele TibeterInnen sich überhaupt einen unabhängigen Staat wünschen und wenn ja, welche Form dieser haben sollte und weiters, wie sich hier die Stimmung unterschiedlich über die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Klassen verteilt. Eine möglicherweise realistische Einschätzung liefert hier ein etwas älterer Artikel aus der Washington Post, in dem es heißt, dass der Großteil noch immer den Dalai Lama verehrt, aber nur "wenige Tibeter wünschen sich eine Rückkehr der korrupten aristokratischen Clans, die 1959 gemeinsam mit ihm flohen und einen Großteil seiner Berater stellen. Viele tibetische Bauern zum Beispiel haben kein Interesse daran, ihr Land wieder aufzugeben, das sie durch Chinas Landreform von den Clans bekommen haben. Ehemalige tibetische Sklaven sagen auch, dass sie ihre früheren Herren nicht wieder an der Macht sehen wollen. ‚Ich habe dieses Leben schon zuvor gelebt' sagt Wangchuk, ein 67-jähriger ehemaliger Sklave. (…) Er sagt, er verehrt den Dalai Lama, aber fügt hinzu: ‚Ich mag zwar nicht frei sein unter dem chinesischen Kommunismus, aber ich bin besser dran, als wenn ich ein Sklave wäre'" (John Pomfret: Tibet Caught in China's Web, in: Washington Post, 23.07.99)

Für uns als MarxistInnen ist die Sache jedenfalls in den Grundzügen klar. Wenn es den deutlichen Wunsch der Mehrheit der tibetischen Bevölkerung gibt, sich von China los zu trennen, dann würden wir uns nicht dagegen positionieren. Gleichzeitig würden wir betonen, dass eine solche Unabhängigkeit auf kapitalistischer Grundlage die sozialen Probleme Tibets nicht lösen wird können. Ein Vergleich mit den Nachbarländern zeigt, dass die soziale Situation dort noch viel schlechter ist als in Tibet. So ist etwa die Kindersterblichkeit Bhutans mit 9,7% dreimal so hoch, die Lebenserwartung mit 55,17 Jahren um 11 Jahre niedriger. Auch in Nepal ist die Kindersterblichkeitsrate deutlich höher, die Lebenserwartung um sieben Jahre niedriger. Ein "unabhängiges" Tibet unter der Führung des Dalai Lama würde nicht, so wie sich dieser das in seinen "Leitlinien für eine zukünftige Tibet-Politik" vorstellt, ein spezielles ökonomisches System zwischen Sozialismus und Kapitalismus darstellen, sondern eine Halbkolonie Indiens oder der USA sein. Trotzdem würden wir uns nicht gegen einen etwaigen Wunsch der TibeterInnen nach Unabhängigkeit stellen, denn möglicherweise werden erst dadurch die Klassenlinien innerhalb der tibetischen Gesellschaft schärfer sichtbar und ein gemeinsamer Kampf von tibetischen und Han-chinesischen Unterdrückten eine realistische Option.

Auch machen wir das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes nicht davon abhängig, ob dessen Kampf für Eigenständigkeit möglicherweise von der einen oder anderen imperialistischen Macht instrumentalisiert werden könnte. Schon gar nicht ist für uns entscheidend, ob eine Nation früher Teil einer anderen Nation war oder nicht. Nur weil Tibet irgendwann einmal Teil des chinesisches Reiches war (welches mit der heutigen Volksrepublik China in etwa so viel zu tun hat, wie das Reich Karls des Großen mit der modernen französischen Republik) heißt das nicht, dass China ein "natürliches" Anrecht auf Tibet hat. Mit demselben Argument könnte Österreich heute den Anspruch auf Triest, das ukrainische Lemberg/L'viv oder das polnische Krakau/Krakow stellen oder die Türkei Anspruch auf Budapest…

Die in der radikalen Linken weit verbreitete Behauptung, dass der Dalai Lama und der tibetische Konflikt vom "westlichen" Imperialismus gegenüber China instrumentalisiert würde, ist unserer Ansicht nach allerdings nicht ganz richtig. Diese These geht von einer völlig einheitlichen Sichtweise des imperialistischen Establishments aus, die einfach nicht vorhanden ist. Schließlich war die Kritik am Vorgehen der chinesischen Regierung gegen die tibetischen Proteste äußerst verhalten. Nur wenige ranghohe PolitikerInnen, wie etwa der Präsident des EU-Parlaments Hans-Gert Pöttering forderten einen Boykott der Olympischen Spiele 2008 in Beijing. Ein Olympia-Boykott wird vor allem von jenen Teilen der Bourgeoisie gefordert, die nicht unmittelbar vom Wirtschaftswachstum in China profitieren, wie prominente KünstlerInnen, JournalistInnen etc. Andere, die um ihre Investitionen in der boomenden chinesischen Wirtschaft fürchten, geben sich da ganz anders. Das imperialistische Establishment ist sich nicht einig darüber, ob man/frau einen härteren Kurs gegen den neunen Konkurrenten China fahren soll, oder ob man/frau versuchen sollen, den Aufstieg Chinas mit den eigenen ökonomischen Interessen kompatibel zu machen.

Schluss

Tibet ist für China sicher nicht nur als Rohstofflieferant von Interesse. Die Schwierigkeiten im Abbau und Transport würden eher dagegen sprechen. Zweifellos ist Tibet von enormem strategischem Interesse. Und Tibet hat für China nicht nur eine besondere symbolische Bedeutung; die chinesische Bürokratie fürchtet zu Recht auch einen Domino-Effekt, der jedes Entgegenkommen zur Gratwanderung werden lässt. Denn seit Jahren gehört z.B. das die in Westchina gelegene Nachbarprovinz Xinjiang zu jenen Teilen Chinas, in denen Beijing mit Sezessionswünschen konfrontiert ist. Und in Xinjiang liegen große Erdölfelder, über sein Territorium verläuft die für die Energieversorgung Chinas zunehmend wichtige Pipeline aus Kasachstan.

Auch wir wissen natürlich über die Stimmungslage in Tibet heute nur unzureichend Bescheid. Eines scheint aber klar zu sein: Die chinesische Besatzung ist in Tibet zwar als übermächtiger Gegner gefürchtet, aber sie ist nach wie vor unbeliebt. Es gibt keinen Grund, mit Argumenten wie der historischen Zugehörigkeit Tibets zu China oder dass Tibet ein integraler Bestandteil Chinas sei, dieses Regime zu legitimieren. Daher scheint uns auch der Aufstand mit all seiner sich darin ausdrückenden elementaren Wut gerechtfertigt zu sein. Natürlich ist die (womöglich sogar wahllose) Plünderung von Geschäften nicht der richtige Weg, aber er zeigt den ohnmächtigen Zorn, der sich in Jahren und Jahrzehnten der Unterdrückung angesammelt und aufgestaut hat.

Schwer einzuschätzen ist, über welchen Einfluss der 14. Dalai Lama in Tibet verfügt. Einerseits verfügt er als Symbol des nationalen Widerstandes und vor allem auch wegen der Dämonisierung durch die chinesische Bürokratie immer noch über nicht zu unterschätzenden Einfluss in der tibetischen Bevölkerung. Andererseits aber ist wohl nur ein verschwindend kleiner Teil der TibeterInnen für eine Rückkehr zur reaktionären Diktatur, die in den 1950er Jahren zu Ende ging. Die Rückkehr des Dalai Lama und die Restauration einer despotischen Theokratie wäre ein furchtbarer Rückschlag für die gesamte Bevölkerung Tibets. Die Alternative kann nur die Einberufung einer Konstituante in Tibet sein, einer konstituierenden Versammlung. Sie müsste – demokratisch gewählt – über die Selbständigkeit einschließlich der künftigen Staatsform oder eine ernst gemeinte Autonomie innerhalb des chinesischen Staatsverbandes entscheiden. Die Wahl kann weder die Beibehaltung einer von China gewährten Schein-Autonomie noch die Rückkehr zu einem reaktionären theokratischen Tibet sein, sondern nur das Vorwärts zu einem Tibet der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen, in- oder außerhalb des chinesischen Staatsverbandes. Aber das wird eine Entscheidung sein, die die Bevölkerung Tibets selbst zu treffen haben wird. Jetzt gilt unsere Solidarität vor allem jenen, die sich gegen die bürokratische Herrschaft zur Wehr setzen – in Tibet und darüber hinaus.

 

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Kindesmissbrauch und Giftgas: Die wirkliche Welt des Dalai Lama
In westlichen Medien wird der 14. Dalai Lama gerne als Friedensapostel und Menschenfreund dargestellt, der selbstlos die Interessen der TibeterInnen gegenüber China vertritt. Doch die Realität sieht anders aus. weiter…