Wie weiter in Venezuela? (Teil 2)

Das Referendum zur Verfassungsreform am 2. Dezember brachte die erste Niederlage von Hugo Chavez bei einer Abstimmung. Der Verfassungsvorschlag wurde mit 50,7% gegen 49,3% abgelehnt. Das Scheitern geht vor allem auf die hohe Wahlenthaltung zurück, denn die Opposition konnte im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen 2006 nur etwas über 200.000 Stimmen dazu gewinnen, während Chavez über 2,9 Mio. Stimmen verloren hat. Angesichts der knapp 4,4 Mio. Stimmen für die neue Verfassung bedeutet das, dass Chavez fast 40% seiner WählerInnen abhanden gekommen sind.

Dass AnhängerInnen des "revolutionären Prozesses" in Massen zuhause geblieben sind, liegt in erster Linie daran, dass viele ArbeiterInnen und BewohnerInnen der Armenviertel vom schleppenden Fortgang der gesellschaftlichen Veränderungen zunehmend enttäuscht sind. Trotz aller Sprüche vom Sozialismus lebt die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin in Armut, die Herrschaft des Großkapitals in Ökonomie (und Medien) bleibt unangetastet, rechte Killer ermorden weiterhin AktivistInnen der LandarbeiterInnenbewegung, immer wieder geht die Polizei gegen Proteste von ArbeiterInnen vor.

Wir analysieren die aktuelle Situation und die weiteren Perspektiven.

  

Teil 2: PSUV und ArbeiterInnenbewegung

Aufgrund der hohen Erdöleinnahmen und weil der US-Imperialismus militärisch zurzeit stark im Mittleren Osten gebunden ist, gibt es durchaus die Möglichkeit, dass sich das halbherzige Reformprojekt der Regierung Chavez noch eine Zeit lang halten kann. Längerfristig ist es aber durchaus wahrscheinlich, dass der Chavismus zwischen dem Druck der herrschenden Klasse, die die Reformen begrenzen und zurückdrängen will, und den enttäuschten Hoffnungen der Massen zerrieben wird. Letztlich wird sich entscheiden müssen, ob der "revolutionäre Prozess" stecken bleibt und letztlich zurückweicht oder ob er in die Offensive gelangt, den Staat zerschlägt und den Kapitalismus beseitigt. Ob die von den chavistischen Kräften propagierte neue Partei, die PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela), zu zweiterem in der Lage sind, muss bezweifelt werden.

Die chavistische Einheitspartei PSUV

Um seine UnterstützerInnen systematischer zu formieren und sich eine weitere Machtbasis aufzubauen, arbeitet Chavez seit einem Jahr an der Bildung einer "vereinigten" "sozialistischen" Partei. Die PSUV hatte von Anfang an ziemlichen Massenzulauf. Es stellt sich für MarxistInnen die Frage, wie diese Partei einzuschätzen und wie mit ihr umzugehen ist.

Im April 2007 hatte der Präsident 19.000 offizielle WerberInnen für die neue Partei angelobt. Nach chavistischen Angaben hatte die PSUV bereits nach einem Monat über fünf Mio. Mitglieder, heute sollen es gar sechs Mio. sein (deutlich mehr als Chavez zuletzt Stimmen für seine Verfassungsreform bekommen hatte). Nach der KP China wäre sie damit weltweit die zweitgrößte Partei mit sozialistischem Anspruch. Auch nach offiziellen Angaben sind dabei nur 900.000 PSUV-Mitglieder aktiv, womit gemeint ist, dass sie zumindest ein Mal eine PSUV-Versammlung besucht haben. Außerdem gibt es zahlreiche Aussagen von Lohnabhängigen, wonach in den staatlichen und halbstaatlichen Bereichen erheblicher Druck zum Eintritt in die PSUV ausgeübt wurde. Aber selbst wenn nur, sagen wir, 400.000 PSUV-Mitglieder regelmäßig aktiv sind, handelt es sich damit um die klar dominante Partei der venezolanischen Linken.

Mit positivem Bezug auf Trotzkis Übergangsprogramm hatte Chavez Ende April gesagt, dass eine revolutionäre Partei entscheidend sei für die Revolution. So weit, so gut. RevolutionärInnen sollten sich aber keine Illusionen machen, dass bei Chavez damit wirklich ein marxistisches / trotzkistisches Verständnis verbunden sein könnte. Von Chavez sind im Fernsehen genau so Aussagen zu hören, der Marxismus sei "eine dogmatische These, die aus der Mode ist und der heutigen Realität nicht entspricht." Er meint darüber hinaus, dass "die These, dass die ArbeiterInnenklasse der Motor des Sozialismus oder der Revolution sein soll, veraltet" sei.

Chavez machte auch von Anfang an klar, dass bei der neuen Partei nicht an eine ArbeiterInnenpartei gedacht ist, also nicht an eine Partei der Lohnabhängigen (der ArbeiterInnen in Industrie, Transport, Gewerbe, Landwirtschaft etc., der Angestellten, der GelegenheitsarbeiterInnen, der Arbeitslosen und ihrer Familien). Als Chavez das Projekt PSUV Mitte Dezember 2006 vorstellte, sagte er: "Ich lade die Arbeiter und Arbeiterinnen, die Hausfrauen, die Spezialisten und Techniker und die nationalistischen Unternehmer ein, ein einheitliches politisches Instrument aufzubauen." Die PSUV ist also von Anfang an als Volksfront angelegt, als Volksfront in einer Partei. Und wie bei der klassischen Volksfront der stalinisierten Kommunistischen Internationale, wo der Kampf der Lohnabhängigen dem (angestrebten) Bündnis mit kleinbürgerlichen und "demokratischen" bürgerlichen Kräften geopfert wurde, werden auch in der PSUV die Interessen des Proletariats und der Revolution dem klassenübergreifenden chavistischen nationalen Enzwicklungsprojekt untergeordnet werden.

Im Rahmen der PSUV formiert sich als Pressure Group bereits ein "Verein sozialistischer Unternehmer Venezuelas" (AESV), in dem sich Bankiers, TextilfabrikantInnen und ehemalige FunktionärInnen des alten politischen Establishments tummeln. Obwohl die PSUV noch gar nicht offiziell gegründet ist, gibt es bereits eine Disziplinarkommission, die entscheidet, wer beitreten darf und wer nicht. Da die PSUV noch nicht über ein politisches Programm verfügt (und schon gar nicht über ein demokratisch diskutiertes und beschlossenes), diente bisher die Zustimmung zu der im engen Kreis der chavistischen Führung ausgetüftelten Verfassungsreform als Grundlage für den Beitritt.

Chavez erklärte zwar, dass die neue Partei von unten nach oben aufgebaut und alle Delegierte (auch er selbst in seinem Bezirk) gewählt werden müssten. Gleichzeitig ist von Anfang an völlig klar geworden, dass die von Chavez abhängigen Staatsfunktionäre dominieren. An der Bildung der PSUV beteiligen sich auch Funktionäre der alten Linken, Teile der chavistischen "nationalen Bourgeoisie" und chavistische Basisorganisationen. Die entscheidende Rolle spielt aber die Schicht von GouverneurInnen, ParlamentarierInnen, BürgermeisterInnen, Armee- und Polizeioffizieren, die in der Chavez-Partei MVR konzentriert sind. Klassenkämpferische GewerkschafterInnen warnten bereits Anfang 2007, dass die PSUV von oben nach unten aufgebaut würde und dass kleine Zirkel und Apparate hinter verschlossenen Türen bereits alles entschieden hätten. Und noch bevor ein Parteikongress irgendetwas über Statuten und das interne Funktionieren der PSUV entscheiden konnte, stellte Vizepräsident Jorge Rodriguez im September in Bezug auf die Machtverhältnisse klar, dass es "keine internen Strömungen gibt, denn die zentrale Führung hat der Präsident, Hugo Chavez, inne."

Die chavistischen Parteien und die PSUV

Chavez verlangt die Auflösung aller Parteien, die den "bolivarischen Prozess" unterstützen, in die PSUV. Er kündigte an, dass die Parteien des bisherigen chavistischen Bündnisses, die diesen Schritt des Aufgehens in der PSUV nicht gehen wollen, aus der Regierung fliegen. Hier handelt es sich um einen bürokratischen Konflikt. Die Ankündigung von Chavez richtet sich gegen die (zu guten Teilen korrupten und in der Bevölkerung teilweise besonders verhassten) Apparate von den "sozialdemokratischen" Parteien Podemos und PPT. Diese Teile der bisherigen chavistischen Koalition sollen zurückgedrängt werden – freilich zugunsten anderer Fraktionen der Bürokratie, die direkter mit Chavez verbunden sind.

Chavez´ eigene Partei, die MVR (Bewegung für die Fünfte Republik), war schon bisher die stärkste Fraktion im "bolivarischen" Bündnis. Sie wird sich in die PSUV auflösen und dort den massivsten Einfluss haben. Eine wichtige Rolle in der Formierung der PSUV spielt auch die chavistische Jugendorganisation "Frente Francisco de Miranda", die viele aktive Mitglieder stellt.

Widerstand gegen die Auflösung in die PSUV kam von PPT, Podemos und der PCV, der traditionellen stalinistischen Partei des Landes. Die Funktionäre von PPT und Podemos (darunter etwa Didalco Bolivar, der rechtschavistische Gouverneur von Aragua) fürchten um ihre guten Posten, die ihnen in Regierung, Parlament und Rathäusern bisher durch eine Art Quotensystem garantiert waren. Da es in der PSUV wohl kaum Fraktionsrechte oder ähnliches geben wird, würden PPT, Podemos und PCV ihre eigenen Strukturen verlieren und sehen angesichts der MVR-Dominanz in der PSUV mittelfristig auch ihre Posten in Gefahr.

Beim Versuch, ihre eigenen Strukturen aufrechtzuerhalten, standen die PPT- und Podemos-BürokratInnen schnell mit dem Rücken zur Wand. Seit März 2007 hatte Chavez den Führungen von PPT, Podemos und der PCV wiederholt vorgeworfen, die PSUV-Gründung zu boykottieren – und mehr oder weniger direkt die Basis zum Übertritt in die PSUV aufgefordert, was viele taten. Teile der drei Parteien sahen ihre Zukunft rasch in der PSUV und unterstützen offen Chavez gegen ihre eigenen Führungen. Und auch immer mehr BürokratInnen versuchen, die eigene Haut zu retten, indem sie individuell zur PSUV überlaufen, so beispielsweise der ehemalige Bildungsminister Ali Rodriguez von der PPT, der jetzt Botschafter in Kuba ist.

Ein Teil der orthodoxeren PCVlerInnen um den Generalsekretär Oscar Figuera lehnt die Auflösung der eigenen Partei in die PSUV ab, weil es sich bei dieser um eine "Mehrklassenpartei", in der es auch "Besitzende" und "nicht-sozialistische Sektoren" gäbe, handele. So Recht Figuera mit dieser Formulierung hat, so ist die PCV selbst an das Konzept einer klassenübergreifenden "Volksfront" mit der "fortschrittlichen" Bourgeoisie gebunden. Der politische Unterschied ist lediglich, dass die Strömung um Figuera eine klassische stalinistische Volksfront will, in der die PCV als "Partei der Werktätigen" mit anderen Parteien ein Bündnis schließt. In diesem Sinn hat die PCV den Chavismus bisher weitgehend unkritisch unterstützt. Der Teil um Figuera will jetzt aber die eigene Partei nicht opfern.

In der Folge wurde Figuera von Chavez im Fernsehen als "de facto Oppositioneller" bezeichnet, womit er – im aktuellen Sprachgebrauch in Venezuela – in die Nähe der Konterrevolution gerückt wurde. Das zeigt auch Wirkung. Im wesentlichen ist es der PCV-Apparat, der sich gegen die Auflösung wehrt, bei der PCV-Basis gab es sehr bald eine Erosion in Richtung PSUV. Und auch PCV-Funktionäre, deren Jobs an Chavez und nicht der PCV hängen, wie etwa der "Minister für Volksmacht" David Velasquez, wechselten bereits zur PSUV.

Das genaue politische und organisatorische Profil der PSUV steht noch nicht fest. Klar ist aber, dass die chavistischen Apparate eindeutig den Ton angeben und dass die Masse der Basismitglieder über keine eigenen Strukturen verfügt. Angesichts der Schwäche der revolutionären Linken und dem verbreiteten Opportunismus gegenüber dem Chavismus ist faktisch eindeutig, dass die neue Partei politisch bürgerlich sein wird – der chavistische "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" hat schließlich keine Überwindung des Privateigentums an Produktionsmitteln zum Ziel.

Noch nicht endgültig entschieden ist die Frage, ob es sich bei der PSUV um eine "normale" bürgerliche Partei (in diesem Fall eine linkspopulistische Massenpartei) oder um eine reformistische "bürgerliche ArbeiterInnenpartei" handeln wird. Unter letzterem verstehen wir eine Partei, die nicht nur (wie etwa die US-Democrats) viele ArbeiterInnen als WählerInnen oder (wie die österreichische ÖVP) einen organisierten ArbeitnehmerInnenflügel hat, sondern die sich (wie die traditionelle Sozialdemokratie) in ihrer Existenz auf eine Verbindung mit den organisierten Teilen der ArbeiterInnenklasse stützt, die meist wesentlich über die Gewerkschaften läuft. Solche bürgerliche ArbeiterInnenparteien erfüllen für die herrschende Klasse die Funktion der Integration der ArbeiterInnenbewegung in das System. Sie stützen sich auf die privilegierten Teile der ArbeiterInnenklasse ("Arbeiteraristokratie") und die Bürokratie der ArbeiterInnenbewegung und sind deshalb vor allem ein Phänomen der imperialistischen Länder.

Venezuela ist zwar ein imperialisiertes Land, in dem aber aufgrund des Ölreichtums das Potential für eine einigermaßen stabile arbeiterInnenaristokratische und -bürokratische Schicht vorhanden ist. Es wird auch durchaus das Interesse der Bourgeoisie geben, die ArbeiterInnenklasse an das System zu binden und so kämpferische Entwicklungen zu kanalisieren. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die PSUV schlussendlich eine bürgerliche ArbeiterInnenpartei sein wird, eher gering. Es wird auch von der weiteren Klassenkampfentwicklung abhängen. Faktum ist, dass sich die PSUV in erster Linie auf die Staatsbürokratie und plebejische Schichten stützt. Mit der Spaltung der C-CURA im Herbst und der Entscheidung des Flügels um Stalin Perez Borges, ihre gewerkschaftlichen Strukturen der PSUV anzugliedern, steht der Großteil der UNT im PSUV-Projekt. Die neue Partei wird sich deshalb auf die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und einige Industriegewerkschaften stützen können, während andere Teile der (Industrie-) ArbeiterInnenklasse außerhalb organisiert sind. Faktum ist auch, dass in der PSUV die bürgerlichen Kräfte und vor allem die Bürokratie des bürgerlichen Staates bereits gut formiert dastehen. Gleichzeitig verlangte Chavez nachdrücklich die Gleichschaltung der Gewerkschaften und verhinderte die PSUV-Disziplinarkommission der Beitritt von klassenkämpferischen GewerkschafterInnen als organisierte Strömung.

Die PSUV und die revolutionäre Linke

Bei einer PSUV-Großveranstaltung Ende März, zu der die klassenkämpferischen Gewerkschafter/innen der C-CURA von Polizei/Security nicht in den Saal gelassen wurden, hatte Chavez die UNT, den wichtigsten Gewerkschaftsdachverband, kritisiert und erklärt, dass die Gewerkschaften nicht unabhängig von PSUV und Regierung sein könnten. Die Verantwortlichen für den Kurs der Gewerkschaften – hier meinte der Präsident offensichtlich die Führung der C-CURA – seien "Dogmatiker" und Dogmatiker seien "Konterrevolutionäre". Die Gewerkschaftsführer/innen müssten sich einigen oder verschwinden. Da ja seine eigenen Leute die UNT gespalten hatten, war hier wohl eine Einigung auf der diktierten Linie des Präsidentschaftspalastes gemeint. Worum es Chavez hier geht, ist eine Unterordnung der UNT unter Staat und Regierung, eine politische Gleichschaltung der Gewerkschaften.

Als Antwort auf die Angriffe von Chavez auf die UNT/C-CURA veröffentlichten alle führenden C-CURA-Kader (inklusive der sehr Chavismus-freundlichen) einen Brief, der die Notwendigkeit der Unabhängigkeit der Klassenorganisationen des Proletariats von der Regierung verteidigte. In der C-CURA und der von einigen ihrer FührerInnen im Sommer 2005 initiierten PRS (Partei Revolution und Sozialismus) gab es aber bald Meinungsverschiedenheiten über das Verhalten gegenüber der PSUV. In der C-CURA entstanden Tendenzen, sich als radikaler, gewerkschaftlicher Flügel an diesem linken Einheitsprojekt zu beteiligen. Die PRS-Führung hat aber im April 2007 beschlossen, sich nicht an der PSUV zu beteiligen und als PRS eigenständig zu bleiben.

Diese Entscheidung wurde dann von einem Teil von PRS beziehungsweise C-CURA nicht akzeptiert. Die verbliebenen prochavistischen Teile der C-CURA um Vilma Vivas und Ruben Linares, der bekannte UNT- und PRS-Führer Stalin Perez Borges, der APORREA-Vertreter Gustavo Gomez und die C-CURA in Carabobo beteiligen sich nun als lose Strömung an der PSUV. Sie erklärten: "Wir treten in die neue Partei ein, um Teil dieser machtvollen antiimperialistischen Kraft zu werden und als Avantgarde dafür zu einzutreten, dass alle eine konsequent antikapitalistischen Kampf entwickeln."

Die Gruppe um Stalin Perez Borges gibt die Zeitschrift MAREA Clasista y Socialista (Klassenkämpferische und sozialistische Flut) heraus – als "Zeitung von Anwärtern auf Mitgliedschaft in der PSUV". Ein Beitritt als organisierte Gruppe wurde von der Disziplinarkommission unterbunden. Die bisherige Politik dieser Strömung sieht nicht nach einem Versuch einer revolutionären Taktik gegenüber der PSUV aus, sondern nach politischer Anpassung an das Parteiprojekt der Regierung und nach einem Abrücken von der Klassenunabhängigkeit des Proletariats. MAREA wirbt insbesondere unter den gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen für einen Beitritt zur PSUV.

Die PRS-Mehrheit bestand im wesentlichen aus der Gruppe um den bekannten Gewerkschaftsführer Orlando Chirino, aus der ErdölarbeiterInnengewerkschaft um Jose Bodas und aus der C-CURA in Aragua, darunter Jose Villegas, der Anführer der BesetzerInnen bei Sanatarios Maracay. Es ist wohl kein Zufall, dass sich diese Strömung insbesondere auf Teile der ArbeiterInnenbewegung stützt, die bereits in einen kämpferischen Konflikt mit dem chavistischen Staatsapparat geraten sind. Die PRS-Mehrheit hat sich mittlerweile als "Bewegung für den Aufbau einer Arbeiterpartei" (Movimiento por la construcción de un Partido de los Trabajadores) neu formiert. Sie steht der PSUV nicht nur kritisch gegenüber, sondern lehnt auch einen Beitritt ab. Chirino:

"Wir ArbeiterInnen müssen eine einzige Schlussfolgerung ziehen: Unser Platz ist nicht in der PSUV, wir müssen unseren eigenen Raum, unsere eigene Arbeiterpartei schaffen. Eine Partei, die die Autonomie der Gewerkschaften verteidigt, die die ArbeiterInnen zur Verteidigung ihrer Rechte mobilisiert, die wirklich mit den Unternehmern und den multinationalen Konzernen bricht, die für die Enteignung und Vergesellschaftung der Produktionsmittel, des Besitzes der Großgrundbesitzer, der Handelsketten und Banken kämpft. Das ist Sozialismus. Alles andere ist nur der Versuch, den Kapitalismus zu verschönern. Wir wollen keine Partei, die nur von der Kritik an der Regierung lebt, wir wollen eine Partei, die für die Machtergreifung und eine Regierung der Arbeiter kämpft."

Aufgrund seiner ablehnenden Haltung gegenüber der PSUV war Chirino von der Zeitung El Universal vor Weihnachten vorgeworfen worden, seine Kräfte mit der CTV-Gewerkschaft zusammenschließen zu wollen. Tatsächlich hatte Chirino an einer öffentlichen Veranstaltung mit Alfredo Ramos von der CTV teilgenommen, bei der es um Gewerkschaftsautonomie geht. Einen Auftritt auf einer Veranstaltung mit bürgerlichen Gewerkschaftsfunktionären lehnen wir nicht grundsätzlich ab (das hängt von konkreten Umständen ab); ausgesprochen problematisch wäre freilich ein Zusammenschluss mit einer reaktionären, proimperialistischen Gewerkschaft wie der CTV. Chirino hat auf diese (wohl von chavistischer Seite gestreuten) Gerüchte allerdings scharf reagiert: "Zu allererst möchte ich das kategorisch zurückweisen und mit aller Deutlichkeit sagen, dass die UNT an ihrer Wichtigkeit nichts verloren hat. (…) Die UNT ist Werkzeug des Klassenkampfes, Ergebnis der Mobilisierung der ArbeiterInnen und des Volkes gegen die Oligarchie, den Imperialismus und die korrupte Gewerkschaftsbürokratie der CTV."

Für die venezolanische ArbeiterInnenklasse wird entscheidend sein, ob die UNT-Mehrheit um die C-CURA zu einer Staatsgewerkschaft domestiziert wird oder ob sie ihre Klassenunabhängigkeit von einer auf dem Boden des Kapitalismus stehenden Partei wie der PSUV und von einer links-bürgerlichen Regierung bewahren kann. Die Entscheidung der UNT-Mehrheit für einen Eintritt in die PSUV im September 2007 stellt hier kein gutes Zeichen dar.

Anders als für eine Gewerkschaft, die ja eine Einheitsfrontorganisation des Proletariats sein sollte, kann für eine revolutionäre Partei/Organisation die Teilnahme an einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei unter bestimmten Bedingungen (Zustrom von BasisaktivistInnen, anstehende Konflikte zwischen Führung und Basis, Möglichkeit der Propaganda für revolutionäre Positionen) zeitweilig möglich sein. Entscheidend sind dabei die politische Unabhängigkeit der revolutionären Kräfte und die Aufrechterhaltung von eigenen Strukturen. Es darf sich nicht um einen illusionären Reformierungsversuch der bürgerlichen ArbeiterInnenpartei handeln, sondern um eine Taktik, um einen Teil der Basis für den Aufbau einer revolutionären Partei zu gewinnen.

Bei einer in Formierung befindlichen Partei wie der PSUV, bei der der Charakter noch nicht definitiv feststeht, beziehungsweise einer linkspopulistischen Partei mit Massenzulauf von kämpferischen und aktiven ArbeiterInnen und Jugendlichen kann eine taktische Hinwendung von revolutionären Kräfte ebenfalls sinnvoll sein. Möglich wäre in solchen Fällen etwa ein Eintritt von Kadern der revolutionären Organisation, die versuchen, diese Schichten vom jeweiligen bürgerlichen Projekt weg zu brechen und sie für eine sozialistische Perspektive zu gewinnen. Die Bedingungen wären ähnlich wie im oberen Fall, entscheidend ist die Aufrechterhaltung eines eigenen Profils als revolutionäre Organisation, die die Klassenunabhängigkeit des Proletariats repräsentiert. Von Anfang an müssten die eintretenden revolutionären AktivistInnen ihre strikte Ablehnung einer Mehrklassenpartei, die Unmöglichkeit der Reformierung einer solchen Partei und die Notwendigkeit einer revolutionär-sozialistischen Partei deutlich machen. Um eine solche Politik überhaupt umsetzen zu können, ist eine revolutionäre Kaderorganisation Voraussetzung, eine Organisation aktiver und geschulter Mitglieder mit einen einheitlichen politischen Verständnis.

Wir halten also, mit der entsprechenden politischen Ausrichtung, eine Intervention in die sich formierende PSUV für prinzipiell möglich, um auf die sich sozialistisch verstehenden ArbeiterInnen in dieser Partei einzuwirken. Wir denken aber, dass es in Venezuela derzeit kein geeignetes Instrument für eine solche Taktik gibt. Es gibt in Venezuela mehrere kleinere Gruppen mit revolutionärem/trotzkistischem Anspruch, die aber aufgrund ihrer Größe nur wenig gesellschaftliches Gewicht haben und sehr unterschiedliche Linien verfolgen: Die CMR (Corriente Marxista Revolucionaria, Schwestergruppe von "Der Funke") passt sich weiterhin dem Chavismus politisch an und streut insbesondere Illusionen in Chavez selbst, dessen "revolutionäre" Politik von der Bürokratie behindert werde. Die JIR (Juvendud de Izquierda Revolucionaria, Schwesterorganisation der argentinischen PTS) hingegen steht seit Jahren für die weitestgehende Kritik am Chavismus von einem proletarischen Klassenstandpunkt in Venezuela.

Bedeutend sind zurzeit vor allem zwei Strömungen aus trotzkistischer Tradition – die um Stalin Perez Borges und Vilma Vivas und die um Orlando Chirino und Jose Bodas. Beide Strömungen verfügen allerdings nicht über wirkliche Organisationen. Sie haben vielmehr deshalb Einfluss, weil ihre Führungspersonen bekannte Gewerkschaftsführer sind, die sich durch die C-CURA auf eine Verankerung in wichtigen Industrien stützen.

Die PRS, die die FührerInnen dieser beiden Strömungen 2005 damals noch gemeinsam initiiert hatten, ist mittlerweile Geschichte. Sie hatte das Potential zu einem politischen Instrument der klassenkämpferischen und revolutionären Teile der ArbeiterInnenklasse. Sie ist aber noch im Parteibildungsprozess stecken geblieben, hat es in den bald zwei Jahren seit ihrer Gründung verabsäumt, funktionierende Basisstrukturen und eine politisch vereinheitlichte und handlungsfähige Kaderorganisation aufzubauen. Dass sie sich – in einer syndikalistischen Logik, die wir schon in unseren Debatten mit Stalin Perez Borges 2006 in Wien kontroversiell diskutiert hatten – fast ausschließlich auf die C-CURA konzentriert und den Aufbau der PRS vernachlässigt haben, ist eine wesentliche Kritik, die wir an den GenossInnen mit revolutionärem/trotzkistischem Anspruch wie Orlando Chirino oder Stalin Perez Borges üben müssen.

Die Strömungen, die die beiden heute anführen, sind auch keine revolutionären Kaderorganisationen. Die um Perez Borges gegründete MAREA ist ein loser Zusammenschluss rund um eine Zeitschrift (ganz abgesehen von ihrer opportunistischen politischen Linie). Die "Bewegung für den Aufbau einer Arbeiterpartei" um Chirino befindet sich erst im Formierungsstadium. Ob Chirino und seine GenossInnen die syndikalistische Vernachlässigung des Aufbaus einer revolutionären Organisation diesmal überwinden werden, wird sich erst zeigen. Noch ist jedenfalls auch diese "Bewegung" keine handlungsfähige Kaderorganisation. Ohne eine solche aber wäre eine Eintrittstaktik in die PSUV verantwortungslos und müsste im Chaos enden. Umso wichtiger ist auch in Venezuela die heute zentrale Aufgabe für RevolutionärInnen, nämlich der Aufbau einer Kaderorganisation.

Für kleinere, politisch gefestigte Gruppen wie die JIR, die in der PSUV keinen größeren Einfluss nehmen können, muss das Vorgehen gegenüber der PSUV stark von lokalen Gegebenheiten, Zugangsmöglichkeiten etc. abhängen. Taktische Bezugnahmen auf die PSUV, eine propagandistische Ausrichtung auf ihre Diskussionen, Einheitsfronten und sogar die lokale Mitarbeit in PSUV-Strukturen können unter bestimmten Bedingungen sinnvoll sein.

Dieser Text wurde erarbeitet von Anke Hoorn (RSO Wien Südwest), Miodrag Jovanovic (RSO Wien Nord), Stefan Neumayer (RSO Berlin), Eric Wegner (RSO Wien Südwest) und Florian Weissel (RSO Wien Uni)