Wie weiter in Venezuela? (Teil 1)

Das Referendum zur Verfassungsreform am 2. Dezember brachte die erste Niederlage von Hugo Chavez bei einer Abstimmung. Der Verfassungsvorschlag wurde mit 50,7% gegen 49,3% abgelehnt. Das Scheitern geht vor allem auf die hohe Wahlenthaltung zurück, denn die Opposition konnte im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen 2006 nur etwas über 200.000 Stimmen dazu gewinnen, während Chavez über 2,9 Mio. Stimmen verloren hat. Angesichts der knapp 4,4 Mio. Stimmen für die neue Verfassung bedeutet das, dass Chavez fast 40% seiner WählerInnen abhanden gekommen sind.

Dass AnhängerInnen des "revolutionären Prozesses" in Massen zuhause geblieben sind, liegt in erster Linie daran, dass viele ArbeiterInnen und BewohnerInnen der Armenviertel vom schleppenden Fortgang der gesellschaftlichen Veränderungen zunehmend enttäuscht sind. Trotz aller Sprüche vom Sozialismus lebt die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin in Armut, die Herrschaft des Großkapitals in Ökonomie (und Medien) bleibt unangetastet, rechte Killer ermorden weiterhin AktivistInnen der LandarbeiterInnenbewegung, immer wieder geht die Polizei gegen Proteste von ArbeiterInnen vor.

Wir analysieren die aktuelle Situation und die weiteren Perspektiven.

Teil 1: "Bolivarischer Prozess" und Klassenkampf
Teil 2: PSUV und ArbeiterInnenbewegung
Teil 3: Referendum und weitere Perspektiven

  

Teil 1: "Bolivarischer Prozess" und Klassenkampf

Wir haben in unserer Venezuela-Broschüre vom Mai 2006 die Errungenschaften und Grenzen des Chavismus im Detail herausgearbeitet. Wir haben gezeigt, wie die Regierung Chavez zwischen dem Druck der ArbeiterInnenklasse einerseits und dem der KapitalistInnen und des Imperialismus andererseits schwankt. Positiv zu vermerken sind die Übernahme der Kontrolle über den staatlichen Erdölkonzern PDVSA und die höhere Besteuerung der Erdölprofite, das kostenlose Gesundheits- und Bildungssystem für die ärmeren Bevölkerungsteile. Dazu kommt das relativ demokratische Klima im Land (das allerdings auch nicht idealisiert werden sollte, immerhin ist etwa Abtreibung weiterhin verboten).

Gleichzeitig hat sich aber an der Armut der großen Mehrheit der Bevölkerung nichts substanziell geändert. Die Löhne bleiben sehr niedrig während die Profite steigen. Der Großgrundbesitz ist im wesentlichen unangetastet, die Schulden bei den imperialistischen Banken werden brav bedient. Europäische und US-Ölkonzerne sind in Venezuela ebenso weiter groß im Geschäft wie spanische Unternehmen im Banken- und Telekom-Sektor. Am kapitalistischen Charakter der venezolanischen Wirtschaft hat sich nichts geändert. Die ArbeiterInnenselbstverwaltung ist sehr beschränkt und insbesondere die PDVSA davon ausgenommen. Der Staatsapparat ist weiterhin ein abgehobener bürgerlicher, der nicht von den Lohnabhängigen kontrolliert wird.

Der Chavismus hat außerdem eine Orientierung auf eine Zusammenarbeit mit neoliberalen Regierungen wie Lula oder Kirchner und setzt auf einen Kompromiss mit Teilen des Kapitals. So sind, trotz aller Erdöleinnahmen, substanzielle Änderungen der Gesellschaft nicht möglich, weil jede ernsthafte Infragestellung der Klassenverhältnisse den angestrebten Ausgleich mit dem Kapital gefährden würde. Es handelt sich beim "bolivarischen Prozess" um ein bürgerliches Reformprojekt, dessen Sozialprogramme vom hohen Erdölpreis abhängig sind. Der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", von dem Chavez spricht, hat nichts mit tatsächlichem Sozialismus, mit einer Zerstörung des bürgerlichen Staatsapparates und einer Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu tun, sondern viel mehr mit einem nationalen Entwicklungsprojekt.

Auf der Grundlage dieser Analyse wollen wir im Folgenden die Entwicklungen des letzten Jahres untersuchen und dabei einige Ursachen für die Niederlage des Chavismus beim jetzigen Referendum auffinden.

Erdölpolitik

Eine entscheidende Rolle für die venezolanische Ökonomie spielt die Erdölindustrie. Nach Angaben der Regierung könnte Venezuela bald anerkannte Reserven von 350 Mrd. Barrel haben – und damit die größte der Welt (mehr als Saudiarabien). Die PDVSA machte im Jahr 2006 einem Umsatz von 85 Mrd. US-$ und einen Gewinn von sieben Mrd. US-$. Sie besitzt 24 Raffinerien und plant, nach Angaben von Bernardo Alvarez (des venezolanischen Botschafters in den USA), für die Zeitspanne von 2006 bis 2012 (also die Amtszeit von Chavez) Investitionen von 120 Mrd. US-$

. Nach der Teil-Verstaatlichung der Förderanlagen im Orinoco-Gebiet hat die PDVSA nun einen 78%-Anteil an den Joint-Ventures mit imperialistischen Konzernen. Die Konzerne Chevron, BP, Total und Statoil haben sich der Vorgabe der venezolanischen Regierung, dass die PDVSA in diesen Joint-Ventures eine Mehrheit haben muss, gebeugt (und sind damit weiter groß im Geschäft). ExxonMobil und Conoco Phillips haben auf eine harte Linie gesetzt und die Frist für eine Einigung verstreichen lassen. Die Regierung droht mit einem Komplettverlust, es laufen Verhandlungen über Entschädigungen; es ist aber durchaus möglich, dass hier doch noch ein Deal gefunden werden wird. Grundsätzlich kann eine punktuelle Zusammenarbeit mit imperialistischen Konzernen aus technologischen oder ökonomischen Gründen auch für revolutionäre ArbeiterInnenstaaten vorübergehend notwendig sein, aber beim chavistischen Projekt handelt es sich um eine breit angelegte, längerfristige Kooperation, die überhaupt nicht in eine Perspektive der Überwindung des Kapitalismus eingebunden ist.

In seiner wöchentlichen Fernsehsendung "Alo Presidente" kündigte Chavez am 16. September 2007 eine "Erdgas-Revolution" an. Mit zehn neuen Großprojekten sollen über 5 Trillionen Kubikmeter gewonnen werden. Das Ziel sei eine Änderung der Energieverwendung: Bis 2016 sollen drei Mio. Haushalte und 30.000 Betriebe an das Erdgasnetz angeschlossen werden. Auch der öffentliche Verkehr und Kraftwerke sollen teilweise mit Erdgas betrieben werden. Zusätzlich sprach Chavez von Plänen für Erdgasmotoren, die gemeinsam mit Argentinien entwickelt werden sollen.

Eine Woche später trat der Präsident dann mit einem Nachschlag auf, diesmal mit der Ankündigung einer "petrochemischen Revolution". 20 Mrd. US-$ sollen in diesem Bereich in neue Industrie investiert werden, konkret in 87 Projekte in verschiedenen Regionen des Landes (davon 35, die Ölderivate produzieren, und 52, die daraus Produkte wie Kunststoffe etc. herstellen). In diesen Projekten sollen 700.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Geplant sind sie in Zusammenarbeit mit Brasilien, Russland und dem Iran.

Ebenfalls im September hat der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad Venezuela besucht und wurde dabei von Chavez als "einer der größten Kämpfer gegen den Imperialismus" begrüßt. Die beiden unterzeichneten ein Abkommen über die Zusammenarbeit bei der Petrochemie und in der Automobilproduktion. Für das mit Venezuela verbündete Bolivien kündigte Ahmadinedschad bis 2012 Investitionen in der Höhe von einer Mrd. US-$ an, vor allem im Bereich der Energieerschließung.

Ökonomische Widersprüche

Chavez' "Revolutionen" bei Erdgas und Petrochemie sind vorerst nur Ankündigungen, die erst mal umgesetzt werden müssen. Aber selbst wenn es nur zu einer partiellen Realisierung dieser Projekte kommen sollte, so zeigen solche Pläne doch, dass die venezolanische Regierung aufgrund der Erdölgewinne Spielräume für nationale Entwicklungsprojekte hat. Von einem Klassenstandpunkt aus betrachtet, gibt es in der Wirtschaftspolitik von Chavez unterschiedliche Signale:

Die venezolanische Regierung versucht seit einiger Zeit eine Politik stärkerer Währungskontrolle und Chavez kündigte ein Ende der Autonomie der Zentralbank an. Gleichzeitig freut sich die Financial Times über Rekordgewinne für private Banken in Venezuela. Die Regierung realisierte im letzten Jahr Schritte in Richtung Re-Verstaatlichung "strategischer Sektoren" wie bei PDVSA, sechs Elektrizitätsfirmen und der Telefongesellschaft CANTV. Gleichzeitig bekommen die kapitalistischen EigentümerInnen (in der Regel äußerst lukrative) Entschädigungen. Die Regierung übte (erfolgreich) staatlichen Druck auf den privaten Stahlkonzern SIDOR aus, damit er günstig für die nationale Ökonomie produziert (und ins Ausland exportiert). Gleichzeitig unterstützt die Regierung in "nicht-strategischen" Bereichen wie bei Sanatarios Maracay die Eigentumsrechte von KapitalistInnen gegen die Belegschaften. Chavez sorgt immer wieder mit Bezugnahmen auf Lenin und Trotzki und "revolutionären" Ankündigungen etwa in Richtung Verstaatlichungen für Aufmerksamkeit. Gleichzeitig erklärte der Präsident im Juli 2007, dass der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ein Sozialismus des Privateigentums sei.

Das zeigt, dass sich die Regierung Chavez auf Kompromisse orientiert und sie sich auch teilweise leisten kann. Angesichts der riesigen Erdölprofite ist es möglich, dass die privaten Konzerne weiter massiv Gewinne machen und gleichzeitig genug Ressourcen für neue staatliche Projekte vorhanden sind. Der venezolanische Botschafter in den USA wies darauf hin, dass seit dem Regierungsantritt von Chavez 500.000 neue Jobs im öffentlichen Sektor geschaffen wurden, aber 1,9 Mio. im privaten Sektor.

Ein erhebliches Problem stellt freilich die Inflation dar; sie lag 2006 bei 17%. Chavez-freundliche Kräfte argumentieren, dass das auf steigenden Konsum durch höhere Löhne und den gewachsenen Lebensstandard der Armen zurückzuführen sei. 2006 habe es eine Konsumsteigerung von 18% gegeben (besonders im Lebensmittelbereich). Rechte AutorInnen führen an, dass die Güterproduktion nur um 17% gestiegen sei, während das zirkulierende Geld um 255% zugenommen habe.

Faktum ist, dass es auch eine erhebliche Sabotage der Bourgeoisie gibt, die teilweise die Produktion reduziert. Beispielsweise wurden im Jahr 2006 5.000 Hektar Zuckerrohr nicht geerntet, weil die privaten Besitzer der Zuckermühlen die Verarbeitung verweigerten; und das, obwohl es im Land einen Mangel an Zucker gibt.

Vor allem aber setzen die KapitalistInnen auf Lebensmittelverknappung. Wie schon in Chile Anfang der 1970er Jahre erfolgreich erprobt, geht es dabei um die Unterminierung der "Linksregierung" und um den Versuch, Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu erzeugen. Neben diesen politischen Motiven wollen die KapitalistInnen vor allem die Preiskontrollen brechen. Es gibt deshalb eine Sabotage im Bereich der Supermärkte und des Transportes. Güter werden gehortet und es wird am Schwarzmarkt spekuliert.

Die Regierung reagiert darauf mit Zuckerbrot und Peitsche. Einerseits wurden die Preiskontrollen gelockert und die Mehrwertsteuer reduziert und damit den Profitansprüchen der KapitalistInnen entgegen gekommen. Andererseits wurde mit der Enteignung von Spekulanten gedroht (und dabei ein Exempel statuiert) und lokale Komitees zur Preiskontrolle aufgerufen. Anders als die Allende-Regierung in Chile hat Chavez auch hier mehr Spielraum für Kompromisse; Kompromisse allerdings, die weitgehend auf Kosten der Massen gehen. Noch im Sommer 2007 beanspruchten viele prochavistische Kräfte, dass die erwähnten Maßnahmen erfolgreich gewesen seien. Dennoch kämpfen große Teile der armen Bevölkerung weiterhin tagtäglich mit einer unzureichenden Versorgung mit verschiedensten lebensnotwendigen Produkten. Und vor dem Referendum hat sich die Sabotage der Bourgeoisie auch erneut intensiviert. Das ist das Ergebnis davon, dass der Chavismus – trotz aller sozialistischen Sprüche – in den "nicht-strategischen" Bereichen am Privateigentum an Produktionsmitteln festhalten will und dass er vor allem die Grundmechanismen des Kapitalismus nicht in Frage zu stellen bereit ist.

Die Politik des Chavismus zielt im Endeffekt darauf ab, dass auf die Rohstoff- und Schwerindustrie vermehrt politischer Einfluss ausgeübt und sie teilweise auch verstaatlicht wird, während im Bereich der Leicht- und Konsumgüterindustrie der Privatbesitz an Produktionsmitteln verteidigt wird. Eine solche Politik ist zwar durchaus dazu geeignet, spektakuläre Erfolge zur Darstellung nach außen zu produzieren und kurzfristig die Regierungsmacht zu stärken, ermöglicht aber der Reaktion, die Unzufriedenheit der Massen (etwa durch Sabotage) zu schüren, führt mittelfristig zu einer Entfremdung ärmerer Bevölkerungsschichten vom Chavismus und trägt so dazu bei, der Konterrevolution die Tore zu öffnen.

Landwirtschaft

Die Agrarrevolution ist in Venezuela weiterhin ausgesprochen halbherzig. Die 2,5 Mio. Hektar Land, die an die arme Landbevölkerung verteilt wurden, stammen fast ausschließlich aus Staatsland. Enteignet wurden ganze 16 Großgrundbesitzer, sämtlich mit Entschädigungen. Chavez spricht zwar fortwährend von "neuen sozialen Verhältnissen am Land", gleichzeitig legte die Regierung fest, dass die Großgrundbesitzer, die den Boden wirklich bebauen (lassen), das Land behalten dürfen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass die venezolanische Regierung Großgrundbesitz erst ab 5.000 Hektar definiert (Chavez' Freund Fidel Castro definierte Großgrundbesitz in Kuba ab 400 Hektar).

Die Folge davon ist, dass der Großgrundbesitz in Venezuela als ökonomisches, soziales und paramilitärisches Verhältnis weiterhin unangetastet ist. Die GroßgrundbesitzerInnen haben beste Beziehungen zu den lokalen Behörden (inkl. Polizei und Justiz). Sie betreiben weiterhin eine Politik der Einschüchterung und Gewalt gegen die LandarbeiterInnen. In den letzten Jahren wurden 150-170 AktivistInnen der LandarbeiterInnen durch Killer der GroßgrundbesitzerInnen und 1.700 durch rechte kolumbianische Paramilitärs (die mit den GroßgrundbesitzerInnen kooperieren) ermordet.

200.000 Familien haben durch die Landreform Land bekommen. Sie haben aber meist keine technischen und finanziellen Mittel in die Hand bekommen, um das Land zu bebauen. Sie vegetieren deshalb oft in armseligen Hütten auf ihrem Land, können nur mit primitiven Mittel ein bisschen Gemüse anbauen und können das Land meist nicht produktiv nutzen. Viele der landwirtschaftlichen Kooperativen existieren nur auf dem Papier.

Die chavistischen AutorInnen sprechen trotzdem von Erfolgen. Nach offiziellen Angaben waren 1998 in Venezuela nur 700.000 Hektar Land bebaut, 2007 hingegen bereits zwei Mio. Hektar. In den letzten sechs Jahren soll die Lebensmittelproduktion um neun Mio. Tonnen angewachsen sein. Die Maisproduktion soll sich seit 1999 verdoppelt haben. Das hängt auch damit zusammen, dass Chavez (teilweise ideologisch verbrämt) eine Politik betreibt, (europäischen) Weizen durch (ur-amerikanischen) Mais zu ersetzen.

Laut einer Ankündigung des Präsidenten sollen bis 2008, regional verteilt, zehn Fabriken gebaut werden, die den Mais der Kooperativen verarbeiten und die staatlichen Lebensmittelmärkte beliefern. Der so produzierte Mais soll den Markennamen "Sozialistisches Venezuela" tragen. Gebaut werden sollen diese Fabriken gemeinsam mit dem Iran. Außerdem soll mit iranischer Hilfe eine Traktorenfabrik errichtet werden. Damit hätte Venezuela erstmals eigene landwirtschaftliche Maschinerie (Chavez kündigt auch bereits Traktor-Exporte in andere lateinamerikanische Länder an).

Verschiedene offizielle Angaben sind hier schwer überprüfbar. Faktum ist jedenfalls, dass es in der Landbevölkerung eine erhebliche Frustration gibt – wegen der Langsamkeit der Veränderungen und wegen des anhaltenden rechten Terrors. Die chavistischen LandarbeiterInnenorganisationen, die regierungsloyale CANEZ (Coordinadora Agraria Nacional Ezequiel Zamora) und die etwas radikalere FNCEZ (Frente Nacional Campesino Ezequiel Zamora), kritisieren das Tempo der Reformen. Es kommt immer wieder zu gewaltsamen Konflikten, Landbesetzungen und rechten Übergriffen. Die Polizei kooperiert meist mit den GroßgrundbesitzerInnen, einzelne Armeekommandanten schützen aber auch die Campesinos. Auch prochavistische Kräfte sprechen von einer "Gefahr" eines BürgerInnenkrieges am Land. Faktum ist, dass die GroßgrundbesitzerInnen und ihre Paramilitärs längst einen BürgerInnenkrieg betreiben, die Gegenwehr der LandarbeiterInnenorganisationen vom Chavismus – aufgrund der Ausgleichspolitik mit dem Großgrundbesitz – aber stark behindert wird.

Soziales und Kooperativen

Offizielle VertreterInnen der venezolanischen Regierung geben an, dass sich die Armutsrate im Land von 1999 bis 2006 von 43,9% auf 30,4% reduziert habe. Die Arbeitslosigkeit sei von 15% auf 8,3% gesunken. Während die Arbeitslosigkeitszahlen angesichts der undurchsichtigen Verhältnisse bei den Kooperativen (siehe unten) partiell sehr interpretierbar sind, ist es ein Faktum, dass etwa 1,5 Mio. bisherige AnalphabetInnen lesen und schreiben gelernt haben. Im Juli 2007 wurde auch eine neue staatliche Großdruckerei eröffnet, in der pro Jahr 20 Mio. Bücher für die Bildungsprogramme hergestellt werden sollen.

Die größte Errungenschaft des "bolivarischen Prozesses" ist aber zweifellos das neue Gesundheitswesen, mit dem für die arme Bevölkerung erstmals ein substantieller Zugang zu medizinischer Versorgung geschaffen wurde. Auf der Grundlage der Hilfe von 30.000 kubanischen ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen kümmerten sich 2007 nahezu 18.000 ÄrztInnen um die Grundversorgung der Bevölkerung (1999 waren es etwas über 1.600), standen fast 7.000 Gesundheitsstationen zur Verfügung (1999: 1.600), waren 17 Mio. Menschen in dieses System eingebunden (1999: 3,5 Mio.), stieg die Zahl der verfügbaren ZahnärztInnen auf 4.800 (1999: 800). Mittlerweile haben auch die ersten eigenen ÄrztInnen für diese Programme den Abschluss geschafft. Und Chavez hat Drohungen gegen Privatkliniken ausgesprochen, die die Bevölkerung ausbeuten.

Darüber hinaus gab es seitens des Präsidenten Ankündigungen von Gehaltskürzungen für die oberen Teile der Staatsbürokratie (die mehr als 1.400 US-$ / Monat verdienen). Und am 1. Mai 2007 hat Chavez die Anhebung der Mindestlöhne um 20% auf 286 US-$ angekündigt. Dazu kommt die Diskussion um eine Arbeitszeitverkürzung von 44 auf 36 Stunden pro Woche ab 2010.

Die reguläre Beschäftigung soll von 49% auf 57% angestiegen sein. Die Zahl der Kooperativen ist von 800 auf 180.000 angewachsen. Allerdings geht auch das staatliche Institut Sunacoop davon aus, dass es sich nur bei 1% davon um tatsächliche Kooperativen handelt. Die große Mehrheit seien in Wirklichkeit Kleinbetriebe, wo ein/e InhaberIn unter dem Deckmantel der Kooperative Förderungen kassiert und wo oft informell Beschäftigte ausgebeutet werden.

Insgesamt müssen auch prochavistische Kräfte zugeben, dass die sozialen Probleme der Massen weiterhin massiv sind. Ein Hauptproblem sind wie gehabt die informelle Ökonomie und die prekären Beschäftigungsverhältnisse. Dazu kommt weit verbreitete Wohnungsnot und die erwähnten Preissteigerungen, die Lohnsteigerungen meist auffressen. Milch, Fleisch, Speiseöl, Käse, Fisch und schwarze Bohnen sind rar. Zwei Drittel der KonsumentInnen haben selbst Erfahrungen mit Lebensmittelknappheit; immer öfter gibt es Schlangen vor Geschäften. Die von Chavez nach dem Wahlsieg Ende 2006 angekündigte Vertiefung der "Revolution" hat bisher für die ArbeiterInnenklasse und Masse der BewohnerInnen der Barrios wenig greifbare Veränderungen gebracht.

Politik

Chavez sprach dieses Jahr wiederholt davon, dass der "revolutionäre Prozess" "fünf Motoren" habe. Neben dem neuen Bildungssystem nannte er dabei einen zweiten Aspekt, der zumindest eine Form von Partizipation von unten bedeutet: Durch "kommunale Räte" soll die kommunale Macht gestärkt, ihre Zahl von derzeit 19.000 auf 50.000 erhöht werden. Was die Strukturierung, die Rechte und Einflussmöglichkeiten dieser "Räte" betrifft, ist sicherlich Skepsis angebracht – insbesondere wenn man/frau die anderen drei "Motoren" betrachtet.

Alle drei sind mit zentralen und bestimmenden Rollen des Präsidenten verbunden. Das trifft natürlich insbesondere auf das Ermächtigungsgesetz zu, aber auch auf die Verfassungsreform (die noch im Detail zu diskutieren sein wird) und die neue regionale Machtverteilung, die laut Verfassungsentwurf vor allem dem Präsidenten erweiterte Möglichkeiten geben sollte.

Im letzten Jahr propagierte Chavez immer wieder einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts". Allerdings hat er die politische Macht, über die er mit der überwältigenden Parlamentsmehrheit und dem Ermächtigungsgesetz bereits verfügt, nicht für sozialistische Maßnahmen genutzt. Es gab keinen substantiellen Schritt, der die kapitalistische Produktionsweise in Frage gestellt oder auch nur die Privilegien der Bourgeoisie ernsthaft angegriffen hätte.

Das ermöglicht den venezolanischen KapitalistInnen und ihren nationalen und internationalen politischen HandlangerInnen immer wieder Vorstöße gegen die "sozialistische" Regierung. Nach der Niederlage von Putschversuch und UnternehmerInnen"streik" 2002/03 und bei der Präsidentschaftswahl 2006 war die bürgerliche Opposition geschwächt. In diesem Jahr arbeitete sie allerdings an einer Neuformierung.

Eine wichtige Rolle spielte dabei die Kampagne rund um die Sendelizenz für den reaktionären Sender RCTV, der den Putsch 2002 unterstützt hatte. Die Lizenz war im Mai 2007 ausgelaufen und wurde von der Regierung nicht verlängert. Die Bourgeoisie nutzte das – zeitgleich mit Lebensmittelsabotage – für eine heuchlerische Hetzkampagne gegen Chavez. International war sie mit dieser Stimmungsmache teilweise erfolgreich (was angesichts der Besitzverhältnisse der internationalen Medien wenig verwunderlich ist), in Venezuela aber zu schwach, um damit der Regierung einen ernsthaften Schlag zu versetzen. Die Kampagne diente aber der Neugruppierung der Opposition.

Die Regierung reagierte darauf völlig inadäquat. Gegen RCTV wurden teilweise so ausgesprochen fragwürdige Argumente vorgebracht (und von internationalen Fans des Chavismus auch noch wiederholt), dass der Sender "den Präsidenten beleidigt" habe. Faktum ist, dass die kapitalistischen Konzerne, die die venezolanische Medienlandschaft beherrschen, bisher kaum angetastet wurden. Die Nichtverlängerung einer Lizenz ist ein völlig unzureichendes Mittel gegen diese reaktionären HetzerInnen. Nicht umsonst haben die radikaleren Kräfte der venezolanischen ArbeiterInnenbewegung die Enteignung der MedienkapitalistInnen unter ArbeiterInnenkontrolle gefordert.

Dazu war die Chavez-Regierung bisher ebenso wenig bereit wie zu einem entschlossenen Vorgehen gegen die reaktionären Putschisten, die immer noch frei herumlaufen. Sozialistische Maßnahmen zur Überwindung des Kapitalismus sind vom Chavismus nicht zu erwarten. Es gilt weiterhin die Perspektive, die wir im Mai 2007 formuliert haben:

"Aufgrund der hohen Erdöleinnahmen und weil der US-Imperialismus militärisch zurzeit stark im Mittleren Osten gebunden ist, gibt es durchaus die Möglichkeit, dass sich das halbherzige Reformprojekt der Regierung Chavez noch eine Zeit lang halten kann. Längerfristig ist es aber durchaus wahrscheinlich, dass der Chavismus zwischen dem Druck der herrschenden Klasse, die die Reformen begrenzen und zurückdrängen will, und den enttäuschten Hoffnungen der Massen zerrieben wird. Letztlich wird sich entscheiden müssen, ob der "revolutionäre Prozess" stecken bleibt und letztlich zurückweicht oder ob er in die Offensive gelangt, den Staat zerschlägt und den Kapitalismus beseitigt. Ob die dem Kompromiss mit dem Kapital verpflichteten "bolivarischen Kräfte" zu zweiterem in der Lage sind, muss bezweifelt werden. Deshalb kommt der politischen und organisatorischen Unabhängigkeit der Arbeiter/inn/enklasse entscheidende Bedeutung zu."

Staat gegen ArbeiterInnenbewegung

Die venezolanische ArbeiterInnenklasse ist in den letzten Jahren immer wieder als eigenständiger Faktor auf die politische Bühne getreten. Als Alternative zum alten, rechten Gewerkschaftsdachverband CTV (Confederación de Trabajadores de Venezuela), der sich 2002 am Putsch beteiligt hatte, wurde 2003 der neue Dachverband UNT (Unión Nacional de Trabajadores) gegründet. In der UNT organisierte sich rasch die große Mehrheit der aktiven GewerkschafterInnen und sie entwickelte eine große Mobilisierungskraft. In der UNT entwickelten sich zunehmend zwei Strömungen: eine klassenkämpferische Strömung um Orlando Chirino und Stalin Perez Borges, die sich C-CURA (Corriente Clasista, Unitaria, Revolucionaria y Autónoma) nannte, und eine Strömung um die FBT (Fuerza Bolivariana de Trabajadores), die sich vor allem durch völlige Loyalität gegenüber der Chavez-Regierung charakterisiert.

Als beim ersten großen Kongress der UNT im Mai 2006 eine große Mehrheit der Delegierten die C-CURA unterstützten, spalteten die FBT und ihre Verbündeten (die alten Bürokraten um Franklin Rondon und die Gruppe um Marcela Maspero) die UNT. Sie kontrollieren in der Folge den Apparat (den sie nicht aus der Hand gaben) und die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, während sämtliche ArbeiterInnengewerkschaften die UNT-Mehrheit um die C-CURA unterstützen.

Die ArbeiterInnenklasse hat in den letzten Jahren eine Reihe von Kämpfen geführt, bei denen sie des Öfteren auch in Konflikt mit dem chavistischen Staat gekommen ist. Wir haben in unserer Venezuela-Flugschrift von Anfang Mai 2007 von einer Reihe solcher Konflikte berichtet – etwa im größten venezolanischen Stahlwerk SIDOR oder bei der PDVSA in Puerto la Cruz. Auch seitdem haben sich die Kämpfe und Auseinandersetzungen fortgesetzt. Die Regierung ist nicht nur gegen die Rechte, sondern auch gegen die ArbeiterInnenbewegung vorgegangen.

Ende Mai 2007 gab es im Bundesstaat Aragua einen Regionalstreik. Gegen Ansprüche der Regierung in Richtung Verstaatlichung der Gewerkschaftsbewegung forderten die ArbeiterInnen gewerkschaftliche Unabhängigkeit von Staat und Regierung und richteten sich gegen staatliche Repression. Sie erklärten ihre Solidarität mit den ErdölarbeiterInnen und den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die gerade in Lohnverhandlungen standen, und mit den Beschäftigten von Sanatarios Maracay (siehe unten). Sie forderten die Verstaatlichung von Sanatarios Maracay unter ArbeiterInnenkontrolle, die Enteignung des rechten Putschsenders RCTV und den Rücktritt des rechtschavistischen Gouverneurs des Bundesstaates.

90% der Betriebe in Aragua wurden bestreikt, es gab Blockaden und Kundgebungen. Organisiert wurden Streiks und Proteste durch die UNT-Mehrheit um die C-CURA. Chavistische PolitikerInnen hetzten gegen den Streik und bezeichneten ihn beispielsweise als "ein von Orlando Chirino dirigiertes Manöver". Auch Maspero von der UNT-Minderheit sprach sich dagegen aus, nannte den Streik "Sabotage" und verglich ihn mit Aktionen der rechten putschistischen Opposition.

Der Streik machte in jedem Fall Eindruck: Wenig später empfahl ein Ausschuss der Nationalversammlung die Verstaatlichung von Sanatarios Maracay. Der Streik war aber auch ein Schreck für die Regierung, denn er demonstrierte ihr die Kraft der C-CURA. Er machte der Regierung deutlich, dass sie mit der C-CURA rechnen musste, förderte aber auch Überlegungen in der chavistischen Führung, Gegenmaßnahmen gegen die C-CURA zu entwickeln.

Im Sommer 2007 spitzten sich dann die Verhandlungen um den Kollektiv/Tarif-Vertrag im öffentlichen Dienst zu; immerhin für 1,5 Mio. Beschäftigte. Die Verhandlungen wurden von der Regierung lange einfach sabotiert. Gleichzeitig versuchte sie, hinter dem Rücken der Beschäftigten zu einem Deal mit dem Gewerkschaftsbürokraten Franklin Rondon zu kommen. Als Mitte August ein Termin mit der Delegation der Basisgewerkschaften vom Arbeitsminister nicht eingehalten wurde, besetzten die Delegierten (unter ihnen C-CURA-VertreterInnen) einen Teil des Ministeriums.

Darauf hin ließ die Regierung das Ministerium von Polizei und Security abriegeln. Nach sechs Tagen wurde die Besetzung schließlich durch 80 Schläger unter der wohlwollenden Aufsicht der Polizei gebrochen. Die Hintergründe für das kompromisslose Vorgehen in diesem Konflikt waren folgende: Erstens standen auch Kollektiv/Tarif-Verträge in der Erdölindustrie an und die dortigen ArbeiterInnen sollten nicht zu selbstbewussten Anspüchen ermutigt werden. Zweitens ging es sicher auch darum, die C-CURA in die Schranken zu weisen.

In den Wochen darauf spitzten sich in der Erdölindustrie Konflikte um den Kollektiv/Tarif-Vertrag zu. Dass die Verhandlungsteams ohne Wahl durch die Beschäftigten ernannt wurden, führte zu Protestversammlungen und Kundgebungen gegen die undemokratische Weise, wie die Verhandlungen von oben gelenkt werden. Am 27. September versammelten sich ArbeiterInnen im Rahmen eines Aktionstages in Anzoategui vor dem Sitz des Venezolanischen Erdölverbandes, um den zuständigen Minister Rafael Ramírez mit ihren Forderungen zu konfrontieren. Die Regionalregierung unter der Führung von Gouverneur Tarek William Saab, einem Mann aus der engster Führung um Chavez, der gerne als "Menschenrechtsaktivist" und Poet vorgestellt wird, antwortete mit Repression: Die ArbeiterInnen wurden von Polizeieinheiten mit Tränengas, Schlagstöcken und Schusswaffen angegriffen. Zumindest ein Arbeiter wurde durch einen Schuss in den Rücken verletzt und musste ins Krankenhaus gebracht werden.

Gleichzeitig wurden immer mehr anonyme Verleumdungen und Drohungen gegen kämpfende ArbeiterInnen und die Führer der C-CURA verbreitet. Sie wurden in Emails und Flugblättern als "Ratten", Saboteure und Konterrevolutionäre diffamiert, die die venezolanische Wirtschaft zerstören wollen. Das waren Versuche, die klassenkämpferischen Kräfte mit den reaktionären PutschistInnen des Jahres 2002 in einen Topf zu werfen und so Repressalien ideologisch vorzubereiten. Mit dieser Hetze wird zu physischen Angriffen auf Streikende, auf Streikposten und die unabhängigen Gewerkschaften angestachelt. Viele AktivistInnen vermuten, dass diese Kampagne vom Arbeitsministerium ausgeht; der Arbeitsminister ist Jose Ramon Rivero, der bei seinem Amtsantritt von einigen linken Chavez-Fans als angeblicher "Trotzkist" abgefeiert wurde.

Sanatarios Maracay

Der Sanitärkeramikbetrieb in Maracay, der Hauptstadt des Bundesstaates Aragua, hat mit seinen etwa 800 Beschäftigten zwar kein sehr großes volkswirtschaftliches Gewicht. Aufgrund der beispielhaften Auseinandersetzungen um seine Zukunft stand er aber im Zentrum des Interesses der venezolanischen und internationalen Linken.

Anfang 2003 war bei Sanatarios Maracay eine neue kämpferische Gewerkschaft gebildet worden. Der Besitzer, ein Unterstützer des Putsches 2002, reagierte mit Schlägern einerseits und Bestechungsversuchen andererseits. Im April 2006 kam es wegen eines Konfliktes um Gesundheits- und Arbeitsschutzfragen zu einer zeitweiligen Besetzung des Betriebes durch die Beschäftigten. Als dann im November 2006 der Plan des Unternehmers bekannt wurde, die Beschäftigen zu kündigen und mit Einzelverträgen neu anzustellen, wurde die Fabrik längerfristig besetzt.

Es wurden ein Fabrikkomitee formiert und wöchentliche Versammlungen abgehalten. Die Produktion wurde unter ArbeiterInnenkontrolle wieder aufgenommen. Als Lehre der schlechten Erfahrungen der Betriebsbesetzung von Invepal (zu den verschiedenen Erfahrungen der "Cogestion" siehe unsere Broschüre) wurde keine Genossenschaft gegründet, sondern vielmehr die Gewerkschaft beibehalten. Die erklärten Ziele der Belegschaft waren die Verstaatlichung des Betriebes unter ArbeiterInnenkontrolle und die Produktion von Sanitäranlagen für den sozialen Wohnbau der Regierung.

Die verschiedenen Teile der UNT spielten in Bezug auf Sanatarios Maracay unterschiedliche Rollen. Die chavistische FBT sprach sich gegen die Enteignung aus und das Arbeitsministerium, in dem die FBT wesentlichen Einfluss hat, blockierte jede Entwicklung in eine solche Richtung. Die Gruppierung um Maspero kooperierte mit der "gelben", vom Besitzer betriebenen "Gewerkschaft" der Empleados (Meister, Vorarbeiter, Angestellte). Die C-CURA stand der Perspektive von Enteignung und Verstaatlichung anfänglich skeptisch gegenüber, weil sie meinte, dass das unter der bürgerlichen Chavez-Regierung ein unrealistisches Kampfziel sei. Nachdem die Beschäftigten aber diese Ausrichtung angenommen hatten, wurden sie von der C-CURA unterstützt.

Das Ringen um die Zukunft des Betriebes fiel in eine Phase nachdem Chavez dazu aufgerufen hatte, stillgelegte Betriebe zu übernehmen. Die frühere Arbeitsministerin Maria Cristina Iglesias hatte sogar eine Liste von 1.000 konkreten Betrieben vorgelegt. Insofern gab es hier die Möglichkeit für die Belegschaft von Sanatarios Maracay, an solchen Vorstößen anzuknüpfen. Allerdings blieb die Kampfperspektive stark von der Regierung abhängig. Deren Unwilligkeit zu einer Verstaatlichung des Betriebes untergrub zusehends die Kampfmoral der Beschäftigten.

Ende April 2007 wollten Teile der Belegschaft nach Caracas fahren, um für die Verstaatlichung ihres Betriebes zu demonstrieren. Sie wurden durch einen brutalen Einsatz der staatlichen Repressionsorgane daran gehindert. Polizei und Nationalgarde setzten Tränengas, Schlagstöcke, Gummigeschosse und Macheten gegen die ArbeiterInnen ein; ungefähr ein Dutzend wurde verletzt, 19 ArbeiterInnen verhaftet. Dafür war nicht nur der rechtschavistische Gouverneur verantwortlich, der die regionale Polizei befehligt, sondern auch die Regierung, der die Nationalgarde untersteht. Dass die ArbeiterInnen die chavistischen Mitverwaltungsmodelle ablehnten, sondern die Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle wollten, dürfte ihnen die Feindschaft der Regierung eingebracht haben.

Durch den neuen Arbeitsminister Rivero wurden in derselben Phase die letzten Hoffnungen zerstört. Er erklärte, dass Sanatarios Maracay "kein strategisches Unternehmen" sei. Für die Sanitäranlagen des staatlichen Wohnbauprogramms unterschrieb die Regierung wenige Wochen später einen Vertrag mit dem ebenfalls in Maracay beheimateten privaten Konkurrenten von Sanatarios Maracay, der zu einem chilenischen Konzern gehörenden Firma Venceramica.

Damit war die Belegschaft nun endgültig in der Defensive. Probleme mit dem Absatz und der Beschaffung von Rohstoffen führten dazu, dass sie ihre eigenen Löhne kürzen mussten. Damit zeigt das Beispiel dieses Betriebes, dass eine "sozialistische Insel" eben nicht möglich ist: Entweder geht die gesellschaftliche Dynamik in Richtung Verstaatlichung und Planung oder das Projekt wird schließlich scheitern.

Vor dem Hintergrund der Defensive der kämpferischen Belegschaft besetzten am 10. August 2007 die Empleados mit Hilfe des Arbeitsministeriums, des Fabrikbesitzers und eines ehemaligen Gewerkschaftsfunktionärs den Betrieb. Das Fabrikkomitee wurde für abgesetzt erklärt. In einer Farce von "Betriebsversammlung", in der die UnterstützerInnen von Verstaatlichung und ArbeiterInnenkontrolle nicht zugelassen wurden, wurde das Ende der Betriebsbesetzung beschlossen.

Damit hatte das Experiment bei Sanatarios Maracay ein zumindest vorläufiges Ende gefunden. Die Hauptverantwortung für die Entwicklung trägt sicher der Arbeitsminister Rivero. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass dieser mit dem Einverständnis der gesamten Regierung und damit auch des Präsidenten gehandelt hat. Politisch verantwortlich für diese Erdrosselung einer antikapitallistischen ArbeiterInneninitiative ist der Chavismus als solcher, der Verstaatlichungen nur für "strategische Betriebe" vorsieht und ansonsten die kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse nicht antasten will.

Dieser Text wurde erarbeitet von Anke Hoorn (RSO Wien Südwest), Miodrag Jovanovic (RSO Wien Nord), Stefan Neumayer (RSO Berlin), Eric Wegner (RSO Wien Südwest) und Florian Weissel (RSO Wien Uni)