Regionalstreik in Aragua

Von der europäischen Linken vollkommen ignoriert, kam es am 22. Mai im venezolanischen Bundesstaat Aragua zu einem der wichtigsten ArbeiterInnenproteste Venezuelas der vergangenen Jahre.

Die UNT-Aragua organisierte unter Teilnahme Tausender ArbeiterInnen einen regionalen Streik, der die Industrieproduktion der Region weitgehend lahm legte. [Die UNT ist der größte Gewerkschaftsdachverband Venezuelas. Er wurde im Jahr 2003 als Reaktion auf die Unterstützung der Sabotage der Erdölindustrie durch den traditionellen Gewerkschaftsdachverband CTV gegründet. Anm. der RSO]

Der Bundesstaat Aragua zählt neben Carabobo zu den bedeutendsten Industrieregionen Venezuelas. Rund 60% aller Betriebe der Klein- und Mittelindustrie des Landes stehen in dieser Region. Aragua ist vor allem ein wichtiges Zentrum der Agrar- und Lebensmittelindustrie sowie der Chemischen und Metallverarbeitenden Industrie. Insbesondere die Städte Maracay (Hauptstadt des Bundestaates), Cagua, La Victoria und Turmero sowie Villa de Cura und Las Tejerías zählen zu den wichtigsten Industriezentren Araguas.

Im Zuge der Wiederbelebung der venezolanischen ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung innerhalb der letzten Jahre gelang es der C- CURA einen bedeutenden Teil der gewerkschaftlich organisierten Industriebetriebe unter ihrer Führung in der UNT-Aragua zu organisieren. [Die C-CURA, auch "clasistas" genannt, sind der klassenkämpferische Flügel in der UNT, Anm. der RSO] Wiederholt kam es in der Vergangenheit zu erbitterten Konflikten der erstarkten kämpferischen Gewerkschaftsbewegung mit UnternehmerInnen, der Regionalregierung und dem Staat. Der Betriebskonflikt bei Sanitarios Maracay gehört heute wohl zu den bekanntesten ArbeiterInnenkämpfen Venezuelas.

Seit vergangenem Jahr wird innerhalb der UNT-Aragua über die Organisierung eines Regionalstreiks zur Lösung der dringlichsten Konflikte nachgedacht. Nachdem am 24. April Polizei und Nationalgarde in einem Gewaltorchester an Macheten, Tränengas, Schlägen und Gummigeschoßen eine Gruppe von ArbeiterInnen von Sanitarios Maracay überfiel, rund ein Dutzend ArbeiterInnen verletzte und 19 verhaftete, waren die Rufe nach einer entschlossenen Antwort nicht mehr zu überhören.

Bereits in den Solidaritätskundgebungen mit den Verhafteten und der Großdemonstration am 1. Mai wurde die Abhaltung eines Regionalstreiks propagiert. Am 12. Mai stimmte ein Plenum der Gewerkschaftsorganisationen der UNT-Aragua (an dem GewerkschafterInnen aus 60 Betrieben teilnahmen) einstimmig dafür noch im Mai einen Regionalstreik abzuhalten.

Die nächsten Tage standen voll und ganz im Zeichen der Streikvorbereitung. Die UNT-Aragua bereitete die Mobilisierung und den Verlauf der Streikaktion minutiös vor. Hunderte Betriebsversammlungen wurden abgehalten; über 30.000 Flugblätter und Streikaufrufe verteilt. Mit großem Erfolg. In den Worten eines Koordinators der UNT-Aragua war die Antwort überall die gleiche: "Sagt uns den Tag und die Uhrzeit…"

Am 21. Mai schließlich kam der Aufruf der UNT-Aragua für den kommenden Tag in Verteidigung der Rechte der ArbeiterInnen und der gewerkschaftlichen Unabhängigkeit, gegen die Repression der Polizei und der Nationalgarde, in Solidarität mit der Belegschaft von Sanitarios Maracay für die entschädigungslose Verstaatlichung des Betriebes unter Arbeiterkontrolle, für den Entzug der Sendelizenz und die Enteignung von RCTV und den anderen putschistischen Medien, in Solidarität mit den ErdölarbeiterInnenn und den Öffentlich Bediensteten und für den sofortigen Rücktritt von Didalco Bolívar (Gouverneur von Aragua und Autor der brutalen Repression vom 24. April) die Arbeit niederzulegen. In den frühen Morgenstunden wurde noch während der 3. Schicht die Arbeit niedergelegt. Die 1. Schicht verstärkte bei ihrer Ankunft die Streikposten vor den Fabrikstoren. Auch einige Vorstadt- und StudentInnenorganisationen folgten dem Aufruf und schlossen sich den Protestmaßnahmen an.

Über 120 Betriebe der Region wurden besetzt und deren Produktion zum Stillstand gebracht, womit nach gewerkschaftlichen Angaben 90% aller Betriebe der Region bestreikt wurden. Gleichzeitig beteiligten sich mehr als 3.000 ArbeiterInnen außerhalb der Fabrikstore an Straßenblockaden und Kundgebungen. Insgesamt wurden im gesamten Bundesstaat 19 "Barrikaden" (Straßenblockaden) errichtet, die für den Zeitraum des Protests von mobilen Kommandos mit Trinkwasser und Verpflegung versorgt wurden.

Stundenlang ertönten Rufe wie "Solidarität mit denen von Sanitarios Maracay", "Nein zur Repression", "Weg mit RCTV und den anderen putschistischen Medien" oder "Weg mit Didalco aus der Regionalregierung" durch die Städte Araguas.

Durch die Straßenblockaden kam der Nah- und Transitverkehr im gesamten Bundesstaat de facto vollständig zum Erliegen. Vor allem auf der wichtigsten Verbindung mit dem Westen und dem Osten des Landes – der Autopista Regional del Centro – kam es zu kilometerlangen Staus. Der Aufmarsch von Polizei und Nationalgarde verhinderte allerdings die Blockade der letzten Zufahrtsmöglichkeit nach Maracay.

Nachdem sich VertreterInnen der Zentralregierung und der Regionalregierung zu Verhandlungen bereiterklärten, wurden die Straßenblockaden am späten Vormittag allmählich aufgehoben. Gegen Mittag wurde der Streik mit einer abschließenden Versammlung, an der rund 500 ArbeiterInnen aus verschiedenen Betrieben und Städten der Region teilnahmen, in den Fabrikshallen von Sanitarios Maracay beendet.

Die C-CURA hatte den Regionalstreik in Aragua nicht nur organisiert, sie war auch die einzige Kraft der venezolanischen Gewerkschaftsbewegung, die den Streik in Aragua unterstützte. Marcela Máspero, nationale Koordinatorin der UNT und Parlamentsabgeordnete, verurteilte den Regionalstreik in Aragua aufs Schärfste: "Wir lehnen diese Methode eines Teils der UNT kategorisch ab. Sie verwenden Mittel, die nicht korrekt sind, die nicht demokratisch sind und dieselben Mittel sind, die die Unternehmen und die Oligarchie verwendet haben, um Sabotage in diesem Land zu betreiben." Laut Máspero hätte man nach anderen "Wegen zur Lösung" suchen müssen.

Gleichzeitig wetterten chavistische PolitikerInnen (wie der Parlamentsabgeordnete Ismael García) und Staatsfunktionäre gegen den "politischen Streik" in Aragua. Yunis Ramírez, hoher Funktionär der Regionalregierung, bezeichnete den Streik als "politische Manipulation", "Sabotage der Wirtschaft" und "ein von Orlando Chirino kommandiertes Manöver, der mit seiner gewerkschaftlichen Engstirnigkeit und seiner radikalen Politik Aragua zu einem Friedhof für Betriebe gemacht hat".

Der vermeintlichen "Demokratisierung der Medienlandschaft" (ein Schlagwort der venezolanischen Regierung nach der Entscheidung die Sendelizenz für RCTV nicht mehr zu verlängern) zum Trotz, war die Berichterstattung über den Streik in Aragua in den staatlichen Medien alles andere als umfassend.

Wenn auch die chavistischen Medien versuchten den Regionalstreik weitgehend tot zu schweigen, so sah sich wenige Tage nach dem Regionalstreik ein Unterausschuss der Nationalversammlung doch gezwungen Hugo Chávez die Verstaatlichung von Sanitarios Maracay zu empfehlen. Sollte Sanitarios Maracay tatsächlich verstaatlicht werden, so wird dieser Schritt bereits den nächsten Konflikt in sich bergen, da sich die Belegschaft des Betriebes wiederholt gegen die Mitverwaltungs- und Mitbestimmungsmodelle der chavistischen Regierung ausgesprochen hat und vehement die Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle fordert.

Lukas Neißl
Wien, am 10. Juni 2007
Solidarität mit den Clasistas in Venezuela