Thesen zum Anti-Imperialismus

I.       Grundlegendes zum Charakter der Halbkolonien

1.     Der Kapitalismus hatte im 19. Jahrhundert zu einer rasanten Expansion der Produktivkräfte geführt. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts stieß diese an ihre Grenzen. Die Konzentration der Produktion und des Kapitals führten zum Aufstieg von Monopolen, die die freie kapitalistische Konkurrenz immer stärker aushöhlten; das Bank- und das Industriekapital verschmolzen zum Finanzkapital, das einen entscheidenden Einfluss auf den Staatsapparat gewann; der Kapitalexport gewann gegenüber der Warenausfuhr zunehmende Bedeutung; internationale Monopole teilten sich die Absatzmärkte, die Bodenschätze, ganz allgemein die Ressourcen des Planeten entsprechend den gegebenen Kräfteverhältnissen unter sich auf; und die territoriale Aufteilung der Erde unter die Konzerne und die mit ihnen verbundenen kapitalistischen Mächte wurde im Wesentlichen abgeschlossen – kurz gesagt, der klassische Konkurrenzkapitalismus wurde durch den Imperialismus abgelöst, der Kapitalismus ging über in sein imperialistisches Stadium.

Bis heute ist die kapitalistische Gesellschaft dementsprechend nicht nur durch den grundlegenden Gegensatz Kapital/Arbeit charakterisiert, sondern auch durch den Gegensatz der entwickelten imperialistischen Länder und der vom Imperialismus dominierten Halbkolonien, der imperialisierten Länder, bestimmt.

2.     Für mehr als ein halbes Jahrhundert war die direkte koloniale Unterdrückung auf der staatlichen Ebene ein Kennzeichen des Imperialismus. Der britische, französische, niederländische, spanische, portugiesische, US-amerikanische, belgische Kolonialismus konnten ihren Besitz bis nach dem Zweiten Weltkrieg verteidigen, während das Kolonialreich des deutschen Imperialismus bereits nach dessen Niederlage im Ersten Weltkrieg unter seinen Konkurrenten aufgeteilt und der japanische und italienische Imperialismus mit dem II. Weltkrieg auf ihre Kernländer reduziert wurden.

Unter dem maßgeblichen Einfluss der nun dominanten imperialistischen Macht, der USA, wurden nach 1945 die Kolonien in die formelle Unabhängigkeit entlassen. Das bedeutete jedoch nicht das Ende der imperialistischen Unterdrückung – der offen repressive Kolonialstatus wurde lediglich durch die indirekte Dominanz der nun „selbständig“ gewordenen Staaten ersetzt. So wie die lateinamerikanischen Staaten trotz ihrer Unabhängigkeit, die sie meist bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts erreicht hatten, nie wirklich selbst über ihre Entwicklung bestimmen konnten, sondern immer unter der ökonomischen und politischen Dominanz von Großmächten wie Großbritannien oder den USA standen, verhüllt die staatliche Unabhängigkeit der Halbkolonien eine nur notdürftig verschleierte Form imperialistischer Ausbeutung und Unterdrückung.

Trotz ihrer offenkundigen bürokratischen Degeneration bedeutete die Existenz der Sowjetunion und der anderen Arbeiter/innen/staaten bis zu Beginn der 1990er Jahre für eine Reihe von Halbkolonien einen erweiterten Spielraum. Vor diesem Hintergrund starteten einige Halbkolonien nationale Entwicklungsversuche, verfolgten „staatskapitalistische“ Projekte und versuchten sich, dem Zugriff des Imperialismus tendenziell zu entziehen. Diese Entwicklungsversuche sind aber weitgehend an ihr Ende gelangt – Stagnation und imperialistischer Druck haben zum Zusammenbruch und zurück in die Arme des Imperialismus geführt. Denn dieser Bewegungsspielraum, der hierbei genützt wurde, ist mit dem Niedergang und vor allem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion substanziell geringer, auch wenn die inner-imperialistische Konkurrenz  nach wie vor auch für Halbkolonien Lavieren und Taktieren ermöglicht. Trotz der weiter bestehenden formalen Selbständigkeit und Unabhängigkeit äußern sich die weltpolitischen Veränderungen seit Beginn der 1990er Jahre in für den Imperialismus insgesamt verbesserten Durchgriffsmöglichkeiten auf die Halbkolonien, auch wenn die direkte militärische Eroberung und Besetzung wie im Irak oder in Afghanistan auch auf mittlere Sicht nicht die Regel, sondern die Ausnahme im Umgang mit Halbkolonien bleiben wird.

3.     Unter dem Begriff der Halbkolonien bzw. der imperialisierten Länder wird eine große Gruppe von Staaten verstanden, die in sich stark differenziert sind. Darunter werden Länder zusammengefasst, die zu den rückständigsten dieses Planeten gehören, wie Mali, Tschad, Niger oder Somalia; Staaten, die in der Vergangenheit national isolierte Entwicklungsversuche unternahmen, wie Algerien oder Südjemen; oder Staaten, die – in strikter Unterordnung unter den Imperialismus und in Arbeitsteilung mit weltweit agierenden Konzernen – den Versuch unternahmen/unternehmen, zu den vorangeschrittenen imperialistischen Ländern aufzuschließen, wie z.B. Südkorea, Thailand oder Malaysia.

Wegen der durch den Imperialismus blockierten Entwicklung wird Halbkolonien dieser Anschluss an den Imperialismus auch in Zukunft nur unter ganz besonderen Bedingungen und in Ausnahmefällen gelingen. Trotzdem hat sich keine der Halbkolonien im 20. Jahrhundert dem Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung entziehen können. Alle diese Gesellschaften haben eine rasche Veränderung durchgemacht; ihnen wurde ein grundlegender Umwandlungsprozess aufgezwungen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Länder wie Thailand exportieren nicht mehr vorwiegend Rohstoffe, sondern zu zwei Dritteln Maschinen, Fahrzeuge und Industrieprodukte; Malaysias Exporteinnahmen stammen zur Hälfte aus elektronischen Bauelementen und Halbleitern, zu einem weiteren Viertel aus Maschinen und Chemieprodukten; in Indien hat sich eine gut ausgebildete und hoch spezialisierte Arbeiter/innen/klasse im Software- und Informatiksektor herausgebildet – eine zunehmende Zahl an internationalen Konzernen lässt ihre Buchhaltung lieber in Kolkata, Jaipur oder Bangalore als in ihren Heimatländern führen.

Natürlich blieb dieser Entwicklungsprozess auf einige Länder beschränkt, uneinheitlich und unausgewogen: Bolivien führt nach wie vor fast ausschließlich Bergbau- und Agrarprodukte aus, selbst das vergleichsweise reiche Libyen zu 95 Prozent Erdöl und Erdgas, zu weiteren 4 Prozent (petro-) chemische Produkte; der Export von Burkina Faso basiert zu mehr als der Hälfte auf einem einzigen Produkt, der Baumwolle, der von Malawi zu nahezu 60 Prozent allein auf dem (unbearbeiteten) Tabak…

Allgemein aber gilt, dass sich im Laufe des 20. Jahrhunderts Feudal-, Stammes- und ganz allgemein vorkapitalistische Gesellschaften auch in den (Halb-) Kolonien weitestgehend zersetzt haben: Der Kapitalismus ist auch hier zur dominanten Wirtschaftsform geworden. Gegenüber dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich daher in praktisch allen halbkolonialen Ländern eine relevante Arbeiter/innen/klasse herausgebildet; der einst entscheidende Agrarsektor hat auch in vielen Halbkolonien seine einst übermächtige Stellung eingebüßt: Natürlich stehen Ländern wie Südkorea, in denen nur mehr jede/r zehnte Erwerbstätige in der Landwirtschaft tätig ist, nach wie vor Länder wie Madagaskar gegenüber, in denen noch immer drei Viertel aller Erwerbstätigen bäuerliche Arbeiten verrichten. Aber selbst hier, wo wie in anderen wenig entwickelten Halbkolonien unzählige Entwurzelte in die Slums der wuchernden Großstädte getrieben wurden, erwirtschaftet die Industrie bereits 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Auch in den imperialisierten Ländern ist neben der Bourgeoisie das Proletariat und die sich um die Arbeiter/innen/klasse gruppierenden Schichten wie das Halbproletariat und die in den letzten Jahrzehnten stark angewachsenen marginal beschäftigten Schichten zur politisch entscheidenden Kraft geworden. Natürlich bleibt die Lösung der Agrarfrage eine entscheidende Aufgabe bürgerlich-demokratischen Charakters. Aber der Gegensatz zwischen verarmten bäuerlichen Massen und (vorkapitalistischem) Großgrundbesitz, der sich immer mehr mit dem kapitalistischen Grundbesitz der internationalen Agrarkonzerne vermengt, ist in vielen Halbkolonien nicht mehr der dominante, die Gesellschaftsstruktur bestimmende Gegensatz.

4.     Das heißt nicht, dass in den imperialisierten Ländern die Aufgaben der bürgerlichen Demokratie bereits erfüllt worden wären. Die Agrarfrage ist in den meisten Ländern noch völlig ungelöst. Die Bauern sind einem massiven Verelendungsprozess ausgesetzt und zu einer Abwanderung in die Zentren gezwungen, wo sie die große Masse der Unterbeschäftigten vermehren. Während die besten Ländereien für die Exportproduktion reserviert werden, kann die Bauernschaft der wachsenden Konkurrenz durch die von den imperialistischen Ländern massiv gestützten Exporte von Lebensmitteln, Textilien etc. immer weniger entgegensetzen.

Die nationale Frage ist in einer großen Zahl von Ländern ebenfalls ungelöst. Der Imperialismus hat bei der Aufteilung der Erde gewachsene Lebensräume zerrissen und Staatengebilde geschaffen, die oftmals völlig künstliche Gebilde darstellen, den Austausch behindern und ethnische Strukturen zerstören. Die staatliche Selbständigkeit hat einem großen Teil der Bevölkerung imperialisierter Länder keine nationale Selbstbestimmung, sondern nur ein Fortdauern von Unterdrückung und eine massive Behinderung kulturellen Fortschritts gebracht.

Selbst bürgerlich-demokratische Forderungen wie gleiches Wahlrecht, Gleichheit vor dem Gesetz unabhängig von Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit etc. sind keine Selbstverständlichkeiten und müssen in den allermeisten Halbkolonien erst mühsam erkämpft werden.

5.     Die Veränderungen im Laufe des 20. Jahrhunderts, ja selbst die großen Entwicklungsschübe in einigen Ländern haben nichts an der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit der Halbkolonien geändert – Rückständigkeit und ökonomische Unausgewogenheit sind nach wie vor grundlegende Merkmale der imperialistischen Weltordnung.

Daher sind auch nach wie vor die von der revolutionären Arbeiter/innen/bewegung entwickelten Antworten gültig, ja haben durch das zunehmende Gewicht des Proletariats und der städtischen Armen zusätzliches Gewicht bekommen. Allerdings erzwingt das zunehmende Gewicht von kulturalistisch-reaktionären Strömungen wie des Islamismus, des christlichen Fundamentalismus oder des Hindu-Chauvinismus Strömungen, die auch unter Immigrant/inn/en in den imperialistischen Ländern stärkeren Zulauf finden, auch neue Antworten.

II.      Grundlegende Achsen anti-imperialistischer Politik
6.     Die Kommunistischen Internationale beschäftigte sich in ihren Anfangsjahren systematisch mit der Revolution in den Halbkolonien und räumte ihr einen hohen Stellenwert ein. In den 21 Bedingungen zur Aufnahme in die Komintern hieß es 1920:

„Jede Partei, die der Kommunistischen Internationale anzugehören wünscht, ist verpflichtet, die Kniffe ‚ihrer’ Imperialisten in den Kolonien zu entlarven, jede Freiheitsbewegung in den Kolonien nicht nur in Worten, sondern durch Taten zu unterstützen, die Verjagung der einheimischen Imperialisten aus diesen Kolonien zu fordern, in den Herzen der Arbeiter ihres Landes ein wirklich brüderliches Verhältnis zu der arbeitenden Bevölkerung der Kolonien und der unterdrückten Nationen zu erziehen und in den Truppen ihres Landes eine systematische Agitation gegen jegliche Unterdrückung der kolonialen Völker zu führen.“

Auch heute gilt, dass Revolutionäre in den imperialistischen Ländern besonderes Augenmerk auf die Politik des eigenen Landes und auf die anderer imperialistischer Länder in den Halbkolonien zu legen haben, dass ihr Hauptfeind der eigene Imperialismus darstellt, dass die Herstellung eines geschwisterlichen Verhältnisses der Arbeiter/innen/bewegung der imperialistischen Länder und der unterdrückten Massen der imperialisierten Länder eines ihrer vordringlichen Ziele sein muss.

7.     Für uns ist die von den Bolschewiki entwickelte und von der frühen Komintern und der Internationalen Linksopposition weitergeführte und verfeinerte Taktik in Kriegen zwischen dem Imperialismus und halbkolonialen Ländern nach wie vor uneingeschränkt gültig. Ja mehr noch: Sie hat durch die seit Beginn der 1990er Jahre zunehmend aggressivere imperialistische Politik wieder besondere Aktualität erhalten.

Natürlich haben Sozialist/inn/en Kriege unter den Völkern stets als eine barbarische und bestialische Sache verurteilt. Aber unsere Stellung zum Krieg ist eine grundsätzlich andere als die von bürgerlichen Pazifist/inn/en. Marxist/inn/en haben die Einsicht in den unabänderlichen Zusammenhang von Kriegen mit dem Kampf der Klassen. Wir anerkennen voll und ganz die Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit von Bürgerkriegen, sofern sie Kriege der unterdrückten Klasse gegen die unterdrückende Klasse sind, der Sklav/inn/en gegen die Sklavenhalter/innen, der leibeigenen Bauern gegen die Gutsbesitzer/innen, der Lohnarbeiter/innen gegen die Bourgeoisie. Und wir halten es für notwendig, jeden Krieg in seiner Besonderheit zu analysieren. Denn trotz aller Gräuel, Bestialitäten, Leiden und Qualen, die mit jedem Krieg unvermeidlich verknüpft sind, gibt es fortschrittliche Kriege, die der Entwicklung der Menschheit Nutzen brachten, da sie halfen, Absolutismus oder Leibeigenschaft und die barbarischsten Despotien zu untergraben. Von Lenin wurde 1914/1915 die revolutionäre Position für Kriege zwischen einem imperialistischen Land und einer Halbkolonie unzweideutig klar gemacht:

„Wenn zum Beispiel morgen Marokko an Frankreich, Indien an England, Persien oder China an Russland usw. den Krieg erklärten, so wären das gerechte Kriege, Verteidigungskriege, unabhängig davon, wer als erster angegriffen hat, und jeder Sozialist würde mit dem Sieg der unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten Staaten über die Unterdrücker, die Sklavenhalter, die Räuber – über die ‚Groß’mächte – sympathisieren.“ (Lenin: Sozialismus und Krieg. – 1914/1915; Hervorhebung im Original)

Von der frühen Kommunistischen Internationale wurde die Position der Solidarität mit den Kolonien und Halbkolonien in einer Reihe von Dokumenten bestätigt und in der Folge von Trotzki und der Internationalen Linksopposition gegen die stalinistische Degeneration verteidigt. 1935, als Äthiopien vom faschistischen Italien attackiert wurde, war Trotzki eindeutig für die Niederlage Italiens und den Sieg Äthiopiens.

Haile Selassies Äthiopien war zu dieser Zeit ein reaktionäres Regime mit Leibeigenschaft und feudalen Strukturen – aber die Linksopposition widersetzte sich bedingungslos allen imperialistischen Angriffen auf eine rückständige Halbkolonie, denn, wie es Trotzki 1936 formulierte:

“Wenn Mussolini triumphiert, bedeutet dies ein Wiedererstarken des Faschismus, die Stärkung des Imperialismus und die Entmutigung der kolonialen Völker in Afrika und anderswo. Der Sieg des Negus jedoch würde einen mächtigen Schlag nicht nur für den italienischen Imperialismus, sondern für den Imperialismus als Ganzes bedeuten und würde zu einem mächtigen Anstoß für die rebellischen Kräfte der unterdrückten Völker führen. Man muss wirklich völlig blind sein, um das nicht zu sehen.“ (Trotsky, Leon: On Dictators and the Height of Oslo. A Letter to an English Comrade.)

Für Trotzki war dies ebenso wenig eine Frage von moderner Gesellschaft oder rückständigem Feudalregime wie es in anderen Fällen um Demokratie, Faschismus oder Diktatur ging. Trotzki machte dies 1938 am Beispiel Brasiliens klar:

„In Brasilien regiert nun ein semi-faschistisches Regime, das jeder Revolutionär nur mit Hass betrachten kann. Lasst uns annehmen, England würde morgen in einen militärischen Konflikt mit Brasilien treten. Ich frage Euch, auf welcher Seite des Konflikts würde die Arbeiterklasse stehen? Ich werde für mich persönlich antworten – in diesem Falle bin ich auf der Seite des ‚faschistischen’ Brasilien gegen das ‚demokratische’ Großbritannien. Warum? Weil es in diesem Konflikt nicht um die Frage von Demokratie oder Faschismus geht. Wenn England siegreich sein sollte, wird es einen anderen Faschisten in Rio de Janeiro einsetzen und Brasilien in doppelte Ketten legen. Wenn Brasilien auf der Gegenseite siegreich sein wird, so wird dies dem nationalen und demokratischen Bewusstsein einen mächtigen Impuls verleihen und zur Absetzung von Vargas Diktatur führen. Die Niederlage Englands wird zur gleichen Zeit dem britischen Imperialismus einen Schlag versetzen und der revolutionären Bewegung des britischen Proletariats einen Impuls verleihen.“ (Trotzki: Anti-Imperialist Struggle is the Key to Liberation)

Genau an dieser Methode ist auch heute festzuhalten: In Konflikten zwischen dem Imperialismus und imperialisierten, vom Imperialismus unterdrückten Ländern geht es nicht um die Frage der Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten. Wenn der Imperialismus seine Herrschaft gefestigt hat, werden alle Beschwörungen von Humanität und Freiheit rasch in Vergessenheit geraten. Daher stehen wir – unabhängig davon, wie sympathisch das politische Regime dieser Halbkolonie auch sein mag – auf der anderen Seite der Barrikade als der Imperialismus und arbeiten für dessen Niederlage. In welcher Form die Unterstützung des Kampfes der Halbkolonie erfolgt, hängt allerdings von den konkreten Umständen ab.

8.     Revolutionäre können heute nicht nahtlos und vollständig die Methodik der frühen Kommunistischen Internationale übernehmen. Diese war selbst noch im Flusse und in Entwicklung begriffen. Am Gründungskongress war die Komintern – von der Hoffnung auf einen raschen Sieg der Weltrevolution in den imperialistischen Kernländern geprägt – noch davon ausgegangen, dass die Befreiung der Kolonien nur zusammen mit der Befreiung der Metropolen möglich sei, wie es im von Leo Trotzki vorgetragenen Manifest hieß. Das sozialistische Europa sollte den befreiten Kolonien mit seiner Technik, seiner Organisation, seinem geistigen Einfluss zu Hilfe kommen, um deren Übergang zur planmäßig organisierten sozialistischen Wirtschaft zu erleichtern. Den Kolonialvölkern wurde noch keine eigenständige Rolle in diesem Prozess zugebilligt.

Mit dem Zweiten Weltkongress wurde im Juli 1920 erstmals ein marxistisches Programm zur nationalen und kolonialen Frage vorgelegt, die Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage, die in ihrem Kern vom grundlegenden Gedanken der Unterscheidung von unterdrückten und unterdrückenden Ländern ausgingen und in denen die Kolonialvölker bereits als eigenständiges Subjekt der Befreiung fungierten.

Die Komintern aber konnte sich zu keiner konsistenten Theorie der kolonialen Revolution durchringen. Einerseits gab sie die Parole Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker der ganzen Welt vereinigt Euch! aus, andererseits blieb der Klassencharakter der künftigen Revolution in den Kolonialländern unbestimmt. In ihrer Konsequenz ging die Komintern davon aus, dass die 1917 überwundene bolschewistische Formel der demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern der Kolonialrevolution angemessen sei und die Diktatur des Proletariats und die sozialistische Revolution, wie sie mit den Aprilthesen 1917 von den Bolschewiki als Ziel formuliert wurden, nur eine Antwort sein sollten auf die Bedingungen in den fortgeschrittensten Ländern und die spezielle russische Klassensituation. Eine Verallgemeinerung der russischen Erfahrungen in Richtung auf die Kolonialwelt, was auch dort das Vorantreiben der Kolonialrevolution zur sozialistischen Revolution und das Fallenlassen der Formel der demokratischen Diktatur bedeutet hätte, wurde auch zur Zeit der ersten vier Weltkongresse in der Komintern nicht thematisiert. Im Kern blieb die Kolonialpolitik von einer Etappentheorie geprägt, das Ziel in einer nationaldemokratischen, nicht in einer sozialistischen Revolution gesehen.

Erst im Zuge der Diskussion der Niederlage der chinesischen Revolution 1927/1928 wurden von Trotzki die notwendigen Konsequenzen für die Kolonialrevolution gezogen und die Methodik der permanenten Revolution auch für die imperialisierten Länder angewandt. Für die Linksopposition war Ende der 1920er Jahre klar geworden, dass auch in den Halbkolonien dem Proletariat eine Schlüsselrolle im künftigen kolonialrevolutionären Prozess zufallen müsse. Am Beispiel Indiens charakterisierte Trotzki die Situation 1930 so:

„Nun nimmt das Proletariat einen zahlenmäßig noch geringeren Anteil an der Gesamtbevölkerung ein als das russische Proletariat am Vorabend von 1905 und auch von 1917. (…) Wenn das indische Proletariat heute zahlenmäßig schwächer ist als das russische, so ist dadurch allein keineswegs vorherbestimmt, dass sein revolutionäres Potenzial ein geringeres ist. Auch die zahlenmäßige Schwäche des russischen Proletariats im Vergleich zum amerikanischen oder englischen war kein Hindernis für die Diktatur des Proletariats in Russland. Im Gegenteil: Die sozialen Besonderheiten, welche die Oktoberrevolution möglich und unvermeidlich machten, existieren in noch ausgeprägterer Form in Indien. In diesem Land von pauperisierten Bauern tritt die Hegemonie der Stadt nicht weniger deutlich zutage als im zaristischen Russland. Die konzentrierte Macht von Industrie, Handel und Banken in den Händen der Großbourgeoisie (vor allem der ausländischen) einerseits und das rasche Entstehen eines deutlich ausgeprägten modernen Proletariats andererseits schließen die Möglichkeit einer selbständigen Rolle des städtischen Kleinbürgertums, insbesondere der Intelligenz, aus; die politische Mechanik der Revolution führt daher zum Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie um die Führung der bäuerlichen Massen. Bislang fehlte ‚nur’ eine einzige Voraussetzung: eine bolschewistische Partei. Und darin besteht jetzt das ganze Problem.“ (Leo Trotzki: Die Revolution in Indien)

Die Bedingungen, die Trotzki für Indien herausarbeitete und die dem Proletariat eine entscheidende Rolle auch im revolutionären Prozess der Kolonien und Halbkolonien zuwies, sind heute objektiv in einem noch weit größeren Ausmaß vorhanden als Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre: Das Proletariat ist in vielen Halbkolonien auch zahlenmäßig zur dominanten Klasse aufgestiegen, in allen diesen Ländern tritt heute die Hegemonie der Stadt gegenüber dem Dorf und der Klassengegensatz zwischen ausländischer und einheimischer Bourgeoisie einerseits und Arbeiter/innen/klasse andererseits noch klarer hervor und macht eine selbständige revolutionäre Rolle des Kleinbürgertums der Städte und der in sich tief gespaltenen Bauernschaft andererseits noch illusorischer, als sie dies auch schon zur Zeit der Gründung der Kommunistischen Internationale war.

Wir halten daher fest, dass nur der Kampf der Arbeiter/innen/klasse – unterstützt von den verelendeten Massen der Slums, den bäuerlichen Schichten der Dörfer und dem städtischen Kleinbürgertum – der Revolution in den imperialisierten Länder eine Perspektive zu geben vermag; dass nur unter der Form der Diktatur des Proletariats die bestehende Abhängigkeit vom Imperialismus gestürzt, die Aufgaben der bürgerlichen Demokratie vollendet werden kann.

Dabei geht die Methodik der permanenten Revolution natürlich nicht davon aus, dass Fragen der bürgerlichen Demokratie bereits gelöst wären, im Gegenteil: Selbst grundlegende demokratische Rechte sind in Halbkolonien nicht erkämpft worden – die nationale Frage ist in vielen Ländern ungelöst, ebenso brennend bleibt die Agrarfrage; bürgerliche Demokratie und demokratische Rechte stehen als Forderungen immer noch auf der Tagesordnung. Wir gehen allerdings davon aus, dass der Weg zur Erkämpfung selbst grundlegender bürgerlicher Freiheiten nicht über den Weg des Kompromisses mit „fortschrittlichen Teilen der herrschenden Bourgeoisie oder des bürgerlichen Staatsapparates dieser Länder führt, ebenso wenig darf den demokratischen Tönen des Imperialismus vertraut werden, wenn er wieder einmal bereit sein sollte, „für Demokratie und Freiheit“ ganze Landstriche in Schutt und Asche zu legen.

Der Weg zur Erkämpfung der grundlegenden Freiheiten und der Befriedigung der Lebensinteressen auch der kleinbürgerlichen Schichten in Stadt und Land führt über die Selbsttätigkeit der Arbeiter/innen/klasse – und mit ihr der anderen unterdrückten und ausgebeuteten Schichten – und der Perspektive des Kampfes für ihre Klassenziele. Das bedeutet unter anderem die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und seine Ersetzung durch Rätestrukturen des Proletariats. Und es bedeutet die politische und organisatorische Unabhängigkeit der proletarischen Organisationen und insbesondere einer revolutionären Partei als Grundbedingung für die Hegemonie der Arbeiter/innen/klasse in der Revolution.

9.     Auch wenn die Kommunistische Internationale keine konsistente Perspektive für die Kolonialrevolution entwickelte, hat sie doch vor dem Niedergang ihrer Kolonialstrategie und vor der reformistischen Degeneration der 1930er Jahre zur Zeit der ersten vier Weltkongresse an einer entscheidenden Forderung festgehalten: dass die Klassenunabhängigkeit des Proletariats und der proletarischen Organisationen auch in deren Keimform erhalten bleiben müsse.

Den Höhepunkt in der antikolonialen Strategiedebatte der Komintern stellte der IV. Weltkongress Ende 1922 dar. In der Zwischenzeit hatten die kommunistischen Organisationen in einer Reihe von kolonialen Ländern praktische Erfahrungen sammeln können, sie waren nun in der  Lage, ihre bisherigen Einschätzungen zu konkretisieren. Dies bedeutete eine verstärkte Diskussion um die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit national-revolutionären Kräften.

Für den IV. Weltkongress konnten die Träger des Willens der Nation zu staatlicher Unabhängigkeit die „verschiedenartigsten Elemente sein“. Daher beschloss die Kommunistische Internationale, „jede nationalrevolutionäre Bewegung gegen den Imperialismus“ zu unterstützten. Als Bedingung wurde jedoch formuliert,

„dass nur eine konsequente revolutionäre Linie, die darauf abzielt, die breitesten Massen in den aktiven Kampf hineinzuziehen, und der unbedingte Bruch mit allen Anhängern einer Aussöhnung mit dem Imperialismus, im Interesse der eigenen Klassenherrschaft, die bedrückten Maßen zum Siege zu führen vermag“.

In den Leitsätzen zur Orientfrage wurde analog zur Arbeitereinheitsfront zwischen kommunistischen und reformistischen Organisationen in den imperialistischen Ländern die antiimperialistische Einheitsfront als offenes Bündnis zwischen kommunistischen Parteien und bürgerlich-nationalen, national-revolutionären Bewegungen, die in halbkolonialen Ländern bereit sind, gegen den Imperialismus vorzugehen, als Taktik entwickelt. Ihr Zweck konnte militärischer Widerstand gegen koloniale Dominanz ebenso wie gemeinsame Demonstrationen, Streiks oder andere politische Aktionsformen sein. Einbezogen werden sollten in eine solche antiimperialistische Einheitsfront kleinbürgerliche Schichten und sogar Teile der Bourgeoisie, sie umfasste also unterschiedliche Klassen mit unterschiedlichen Interessen, die sich unter ganz bestimmten Bedingungen gemeinsam gegen imperialistische Kräfte auflehnten. Doch dabei blieb klar: Die

„Arbeiterbewegung in den kolonialen und halbkolonialen Ländern muss sich vor allem die Stellung eines selbständigen revolutionären Faktors in der antiimperialistischen Gesamtfront erkämpfen. Erst wenn ihr diese selbstständige Bedeutung zuerkannt wird und sie dabei ihre politische Unabhängigkeit bewahrt, sind zeitweilige Verständigungen mit der bürgerlichen Demokratie zulässig und notwendig.“

Seit dem II. Weltkongress wurde ein Bündnis mit einer bürgerlichen Befreiungsbewegung für möglich erachtet. Als Bedingungen dafür wurden festgelegt, dass diese bereit sein mussten, die Unabhängigkeit der proletarischen Partei anzuerkennen und die revolutionäre Organisierung der ausgebeuteten Massen durch die Kommunist/inn/en zuzulassen. Dazu war die große Mehrheit der potentiellen bürgerlichen Bündnispartner freilich nicht bereit.

Unter besonderen Bedingungen ist eine aktive Rolle der kolonialen Bourgeoisie als Organisatorin eines national-revolutionären Prozesses dieser Länder nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Aber dies konnte und kann heute nur die Ausnahme und nicht die Regel sein. Aufgrund der historischen Klassensituation, in der sich die koloniale Bourgeoisie damals und die halbkoloniale Bourgeoisie heute – eingekeilt zwischen eigenem Proletariat, eigener Bauernschaft und überlegener imperialistischer Konkurrenz – befindet, ist sie immer weniger in der Lage, eine historisch progressive Rolle zu spielen.

Darin liegt das Hauptproblem der Positionierung der Leitsätze in der nationalen Frage: Die Losung der anti-imperialistischen Einheitsfront als allgemeine Perspektive war zwar selbst nicht opportunistisch, ja sie konnte in bestimmten, genau definierten Ausnahmesituationen durchaus ihren Beitrag zu einer revolutionären Strategie in kolonialen Ländern bieten. Aber da das Besondere zum Allgemeinen erklärt wurde, musste die anti-imperialistischen Einheitsfront entweder zu einer leeren Hülse für die Propaganda verkommen – oder sie musste der Situation „angepasst“ werden. Und das konnte nur heißen, dass stillschweigend die Bedingungen für das Zustandekommen einer solchen Einheitsfront revidiert wurden.

Die Entwicklung der Komintern in den nächsten Jahren sollte zeigen, dass unter derselben Schale sowohl die rechtsopportunistische Kolonialpolitik der Jahre 1925 bis 1927 als auch die der danach folgenden ultralinken Periode Platz fanden – nur wurde im ersten Fall der Block mit der kolonialen Bourgeoisie in den Vordergrund geschoben, im zweiten Fall degenerierte dieselbe Losung zu einem bloßen Propagandabegriff ohne realen Inhalt. In der Praxis der subjektiv kommunistischen Linken der letzten Jahrzehnte dominierte überhaupt die politische Unterordnung unter angeblich fortschrittliche, bürgerliche anti-imperialistische Strömungen und Regimes. Ohne also die abstrakte Möglichkeit einer anti-imperialistischen Einheitsfront im Sinne des Vierten Weltkongresses ausschließen zu wollen, muss der Losung alles in allem ein doch nur sehr begrenzter Stellenwert auch in der Propaganda zugemessen werden.

10.    Bei der anti-imperialistischen Einheitsfront handelte es sich um ein offenes Bündnis zwischen einer proletarischen und einer bürgerlichen anti-imperialistischen Organisation, also um ein engeres Verhältnis als die Unterstützung des Kampfes eines abhängigen, kolonialen Landes gegen eine imperialistische Aggression. Ging es bei der anti-imperialistischen Einheitsfront um eine gemeinsam realisierte (in der Praxis nur in den seltensten Fällen mögliche) Kampffront, stehen bei der Unterstützung gegen imperialistische Aggressionen z.B. ad-hoc-Absprachen für ganz konkrete Einzelaktionen und einseitige Solidaritätsaktionen im Mittelpunkt.

Klarerweise machen wir unsere allgemeine Position im Konflikt eines imperialisierten Landes mit der geballten Macht des Imperialismus nicht davon abhängig, ob die politische Führung dieses imperialisierten Landes zu einem Bündnis mit uns bereit ist – da die revolutionäre, anti-imperialistische Linke nur ein untergeordneter Faktor in den meisten Metropolen darstellt, wäre alles andere auch eine völlige Verkennung der aktuellen Kräfteverhältnisse. Unsere Stellung zum Überfall der Koalition der Willigen unter der Führung der USA auf den „Schurkenstaat“ Irak entwickelten wir unabhängig davon, ob das Regime Saddam Husseins bereit war zu einer gemeinsamen Kampffront, denn für Marxist/inn/en und die Arbeiter/innen/bewegung ist der Imperialismus der Hauptfeind, dessen Triumph wir in einem Krieg selbst gegen einen brutalen Schlächter in einer Halbkolonie als größeres Übel betrachten als die vorübergehende Stärkung eines vom Imperialismus bedrängten diktatorischen Regimes.

Anders als bei gemeinsamen Kampffronten liegt die Sache bei konkreten Solidaritätsaktionen, bei Aktionseinheiten, gemeinsamen Demonstrationen etc. Im Unterschied zu einer anti-imperialistischen Einheitsfront wäre dafür natürlich eine Diskussion über Vorbedingungen, die über die Einschätzung der konkreten Situation hinausgeht, nicht erforderlich: Solche Absprachen werden aufgrund aktueller Analysen getroffen und beanspruchen keine längerfristigen taktischen oder strategischen Überlegungen. Auch im Falle der Unterstützung eines national-revolutionären Kampfes durch eine proletarisch-revolutionäre Organisation ist die Situation anders. Auch hier ist die Einhaltung von gestellten Vorbedingungen nicht zwingend notwendig, handelt es sich doch in diesem Fall um eine im wesentlichen einseitige Solidaritätsaktion, deren Berechtigung – unabhängig von der konkreten Politik der bürgerlichen anti-imperialistischen Organisationen oder der politischen Physiognomie der Führung eines halbkolonialen Landes – ausschließlich von der objektiven Situation abhängig gemacht wird.

Heute sind wir – auf der Grundlage des Versagens der meisten gesellschaftlichen Modernisierungskonzepte auf bürgerlich-kapitalistischer Basis (insbesondere vor dem Hintergrund enger werdender ökonomischer Spielräume) und mitbedingt durch die Schwäche des proletarisch-revolutionären subjektiven Faktors – in einer ganzen Reihe von imperialisierten Ländern mit einer Hinwendung von breiteren Bevölkerungsschichten zu religiösen, fundamentalistisch-reaktionären Strömungen konfrontiert. Dasselbe gilt in den Metropolen für Migrant/inn/enschichten, unter denen ebenfalls religiöse, fundamentalistische Strömungen an Einfluss gewonnen haben. Natürlich sind islamistische Strömungen um kein Jota mehr oder weniger sympathisch als z.B. christlich-fundamentalistische Strömungen und eine potenzielle, mitunter sogar aktuelle Gefahr für jede proletarisch-revolutionäre Politik. Allerdings ist z.B. der Islamismus in den Metropolen Ausdruck geworden des wachsenden Gefühls und der wachsenden Realität des politischen und sozialen Ausgegrenztseins von Migrant/inn/en, des kulturellen Chauvinismus und Rassismus und auch des ideologischen und tatsächlichen Kampfes gegen diese Erscheinungen und des wachsenden Unmuts über das brutale Vorgehen des Imperialismus in großen Teilen  der Herkunftsländer dieser Bevölkerungsschichten.

Daher stellt sich auch für uns die Frage, wie wir – unter Aufrechterhaltung unseres politischen Kampfes gegen alle Arten von politischem und religiösem Obskurantismus – uns in einer Antikriegsbewegung z.B. gegenüber islamistischen Strömungen verhalten, wenn diese Mobilisierungen gegen imperialistische Aggressionen organisieren oder sich an solchen beteiligen. Sollen gemeinsame Aktionen mit diesen Reaktionären angestrebt werden?

Die Antwort darauf hängt vom konkreten Kräfteverhältnis ab. Gegenüber isolierten organisierten Gruppen z.B. von Islamist/inn/en, die über keine Verbindung mit einem breiteren Milieu von Arbeitsmigrant/inn/en aus islamischen Ländern verfügen, halten wir ein Bemühen um ihre Einbeziehung und ein Bündnis mit ihnen für nicht sinnvoll und sogar für kontraproduktiv, weil diese Reaktionäre damit unnötig aufgewertet werden.

Anders ist die Situation, wenn z.B. organisierte Islamist/inn/en vermischt und verbunden mit einer großen Anzahl von (immigrierten) Arbeiter/inne/n, etwa Pakistanis in Britannien oder Nordafrikaner/inne/n in Frankreich, demonstrieren. Dann wäre es nötig, auch mit islamistischen Kräften eine antiimperialistische Aktionseinheit zu bilden; im gemeinsamen Kampf zu zeigen, dass die revolutionäre Linke die konsequentere Kampfperspektive gegen das imperialistische System anzubieten hat; und gegen die Islamist/inn/en einen Kampf um die Herzen und Hirne der demonstrierenden Migrant/inn/en zu führen.

11.    Konsequenter Anti-Imperialismus bedeutet heute in den imperialistischen Ländern aber nicht nur, den Kampf gegen die unmittelbare Bedrohung imperialisierter Länder zu unterstützen und in den Metropolen zu organisieren. Massen von Verzweifelten versuchen Jahr für Jahr, nach Europa oder nach Nordamerika zu gelangen. Tausende und Abertausende lassen dabei ihr Leben. Der Eiserne Vorhang, der die bürokratisierten Arbeiter/innen/staaten abschottete und über den die Herrscher der bürgerlichen Staaten so viele Krokodilstränen vergossen, hat mit dem Grenzzaun der USA gegenüber Mexiko oder den Grenzsicherungen der Europäischen Union gegenüber Nordafrika seine unmenschliche Fortsetzung gefunden. Während die vietnamesischen Boat People die Zeilen der bürgerlichen Gazetten füllten, sind die Tragödien der Tausenden Afrikaner/innen, die in klapprigen Booten nach Italien oder aufs spanische Festland übersetzen und nur zu oft – von skrupellosen Menschenhändlern einfach über Bord geworfen – den Tod finden, Alltag geworden, über den kaum ein Wort verloren wird.

Die Asylgesetze werden schrittweise weiter verschärft, selbst Diktaturen mutieren zu „sicheren Dritt-Ländern“, in die bedenkenlos abgeschoben werden kann. Die Diskussionen um den Bau von Flüchtlingslagern in Afrika soll selbst die Mutigsten und die Verzweifeltsten davon abhalten, auf der Suche nach Arbeit und einem menschenwürdigen Leben die Grenze zwischen Halbkolonien und Imperialismus zu überschreiten und z.B. das Mittelmeer zu überqueren.

Unser Ziel muss sein, offensiv die Freiheit der Migration zu fordern und die Abschottung der imperialistischen Länder als das anzuprangern, was sie wirklich ist – als inhumane, menschenverachtende Maßnahme, die selbst den Normen der bürgerlichen Demokratie widerspricht. Unsere Position ist eindeutig: Wer – unter welchem Prätext auch immer – die freie Migration behindert, untergräbt das Ziel einer gemeinsamen solidarischen Kampffront von Arbeiter/innen/bewegung in den Metropolen und Ausgebeuteten in den imperialisierten Ländern und stärkt den Imperialismus in seinen Versuchen, die Arbeiter/innen/klasse ideologisch an sich zu ketten.

Trotzki fasste 1938 in Der Faschismus und die koloniale Welt seine Position klar zusammen – die Aussagen sind heute aktueller denn je, es gilt lediglich, die Worte kolonialistisches Regime durch neokoloniales Regime zu ersetzen:

„Die Zukunft der Menschheit ist unauflöslich verbunden mit dem Schicksal von Indien, China, Indochina, Lateinamerika und Afrika. Die aktive Sympathie, die Freundschaft und die Unterstützung der echten Revolutionäre, Sozialisten und ehrlichen Demokraten ist völlig auf der Seite dieser Völker – die die Mehrheit der Menschheit ausmachen – und nicht auf der Seite ihrer Unterdrücker, ohne Rücksicht darauf, in welcher politischen Maske sie erscheinen. Alle, die aktiv oder auch nur passiv ein kolonialistisches Regime unter dem Vorwand der Verteidigung ihrer eigenen ‚Demokratie’ unterstützen, sind die schlimmsten Feinde der Arbeiterklasse und der unterdrückten Völker. Wir und sie bewegen uns auf völlig verschiedenen Wegen.“

Angenommen von der Mitgliederversammlung der AGM am 25. Juni 2006, nach einem Entwurf von Manfred Scharinger.

Literaturtipp: Koloniale Frage und Arbeiter/innen/bewegung. Von Marx und Engels zur II. Internationale; revolutionäre Komintern; Stalinismus; IV. Internationale. – Marxismus Nr.22, August 2003, 324 Seiten, 15 €, zu bestellen über: agm@agmarxismus.net