Avantgardekonzept und revolutionäre Organisation

Die Frage nach Form und Struktur revolutionärer Organisierung und nach den grundsätzlichen Aufgaben revolutionärer Organisationen hat heute an Wichtigkeit nichts eingebüßt, wenn die Frage nach der Überwindung des kapitalistischen Systems konsequent gestellt wird. Der Begriff der revolutionären Avantgarde (frz. Vorhut, Vortrupp; aus dem militärischen) spielt seit den Debatten um Organisationsfragen in der russischen Sozialdemokratie Ende 19./Anfang 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle in der marxistischen Organisationstheorie, zum einen in der Verhältnisbestimmung revolutionärer Organisationen zur Arbeiter/innen/klasse, zum anderen in Fragen der Bündnispolitik.

Der Begriff der Avantgarde bezieht sich 1) auf ein Verhältnis der Arbeiter/innen/klasse zu anderen Klassen (Probleme der Bündnispolitik stellten sich umfassend in der russischen Revolution, in einer überwiegend agrarisch verfassten Gesellschaft); 2) auf ein Verhältnis innerhalb der Arbeiter/innen/klasse: a) das Verhältnis der „Klasse an sich“ (die ihren Ausdruck in den Produktionsverhältnissen findet) zur „Klasse für sich“ (die ihren fortgeschrittensten Ausdruck in der revolutionären Organisation finden soll); b) das Verhältnis unterschiedlicher Strömungen der Arbeiter/innen/bewegung zueinander (Frage der richtigen Strategie und Taktik).

Kritik am Avantgarde-Konzept

Oft wird mit dem Begriff der Avantgarde die starre Gegenüberstellung einer revolutionären Organisation, die in Form einer Minderheit, die den Anspruch vertritt, den Massen „das Bewusstsein voraus“ zu haben, und dieses „von außen“ in die Klasse zu tragen, und der unbewussten, zu führenden Masse, bezeichnet. Dieses Verständnis wirft unweigerlich die Frage nach der Legitimität des Anspruchs dieser Avantgarde auf – welche Organisation könnte diese Rolle zu Recht für sich in Anspruch nehmen? Führt das nicht zwangsläufig zum „Substitutionalismus“, dem Agieren selbst ernannter Revolutionär/inn/en an Stelle des Proletariats?

Dem avantgardistischen Führungsanspruch wird zumeist – ohne das Konzept und die historischen Hintergründe näher zu beleuchten – vor dem Hintergrund zweier historischer Erfahrungen Skepsis entgegengebracht:

1)  die real eingetretene Substitution der Politik der Arbeiter/innen/klasse durch die Politik einer – in stalinistischer Diktion – „Kampfpartei aus einem Guss“. Der Weg zur Ausschaltung der Sowjets und zur Diktatur einer kleinen bürokratischen Kaste, der stalinistischen Degeneration der Sowjetunion, wird oftmals bereits in dem Avantgarde-Konzept Lenins verortet: „In seinem Avantgarde-Konzept hatte Lenin die Bewegung der Arbeiterschaft durch die Partei ersetzt und die Arbeiterschaft aus dem Subjekt ihrer eigenen Bewegung in ein durch die Partei zu bearbeitendes Objekt verwandelt.“ (1) Als Beleg für diese Behauptung wird oftmals auch Trotzki als Gewährsmann herangezogen, der sich 1904 in der Organisationsdebatte gegenüber Lenin gegen die „Übernahme des Denkens für das Proletariat, gegen die politische Substitution des Proletariats“(2) ausgesprochen hatte. In diesem Zusammenhang steht dessen berühmte Formulierung, dass diese Ersetzung des Proletariats zu einer Ersetzung der Partei durch die Parteiorganisation, der Parteiorganisation durch das ZK und schließlich des ZK durch einen Diktator führen müsse.(3) Mit einem Wort, der Führungsanspruch der Avantgarde beinhalte bereits an sich die Gefahr der Herausbildung einer neuen Klasse/Kaste, da die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft in wenige entscheidungstragende Führer/innen und eine geführte Masse reproduziert würde.

2)  der oft karikaturhafte Avantgarde-Anspruch subjektiv revolutionärer Gruppen von den 60er Jahren bis heute.

Skepsis ist nahe liegend, wenn der Avantgarde-Begriff ahistorisch als Bestandteil eines bestimmten festen Organisationskonzepts betrachtet wird, das von Lenin 1902 in der berühmten Schrift Was tun? vermeintlich festgeschrieben wurde. Dieses Bild wurde/wird nicht nur von stalinistischer Seite in offensichtlichem Eigeninteresse so dargestellt – wo es letztlich um die bewusste „Substitution des Proletariats“ zur Durchsetzung des von Trotzki 1904 vorgezeichneten Prozesses ging – sondern auch von „undogmatischen Linken“, die prinzipielle Skepsis gegenüber Führung, Herrschaft, Organisation… zugunsten unverbindlicher „pluralistischer“ Strukturen anmelden.(4)Um einer ahistorischen Sicht des Avantgarde- und Organisationskonzepts entgegen zu treten, soll zunächst die Entwicklung der Diskussion um Form und Funktionsweise revolutionärer Organisation bei Lenin, Trotzki und Luxemburg vor ihrem historischen Hintergrund in Grundzügen skizziert werden.

Historischer Abriss der Organisationsdiskussion

Der Begriff Avantgarde setzte sich in der Organisationsdiskussion Anfang des 20. Jahrhunderts –  über Differenzen hinweg (Lenin, Trotzki, Luxemburg) – zur Bestimmung der besonderen Funktion der eigenständig organisierten revolutionären Partei und ihrem Verhältnis zur Gesamtklasse durch. Viele grundlegende Punkte dieser Diskussion bilden noch heute die Grundlage für ein revolutionäres Organisationsverständnis.  

Der Kern der Kontroverse über die Funktion der Partei im Klassenkampf zwischen Lenin/Trotzki/Luxemburg Anfang des 20. Jahrhunderts dreht sich um das Verhältnis von revolutionärer Organisation und Arbeiter/innen/klasse und die Form der Organisation.

Lenin schrieb 1901/02 in einer berühmt gewordenen Formulierung in Was tun?:

„Wir haben gesagt, dass die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewusstsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorzubringen vermag, d. h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeit notwendigen Gesetze abzutrotzen u. a. m.“(5)

Lenin wandte sich gegen die Vorstellungen eines sich automatisch entwickelnden Klassenbewusstseins und zeigte die Grenzen eines sich in Klassenkämpfen spontan entwickelnden Bewusstseins auf. Er forderte daher eine feste und politisch bewusste revolutionäre Organisation als Führungskraft innerhalb der Arbeiter/innen/bewegung, da

„jede Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung, jede Herabminderung der Rolle des ‚bewussten Elements’, der Rolle der Sozialdemokratie, zugleich – ganz unabhängig davon, ob derjenige, der diese Rolle herabmindert, das wünscht oder nicht – die Stärkung des Einflusses der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiter“ bedeutet.(6)

Erst eine Organisation von Revolutionär/inn/en kann den ökonomischen Kämpfen der Arbeiter/innen/klasse eine konsequente politische Ausrichtung geben: „Beginnen wir mit einer fest gefügten Organisation der Revolutionäre, so werden wir die Widerstandsfähigkeit der Bewegung als Ganzes sichern und sowohl die sozialdemokratischen als auch die eigentlich trade-unionistischen Ziele verwirklichen können. Beginnen wir aber mit der der Masse angeblich ‚zugänglichsten’, breiten Arbeiterorganisation […], so werden wir weder diese noch jene Ziele verwirklichen […]“.(7)

Die Bedingungen der Illegalität im zaristischen Russland zwangen Lenin dazu, die Form der revolutionären Organisation in dieser spezifischen historischen Situation besonders strikt von breiteren Arbeiter/innen/organisationen abzugrenzen:

„Die Organisationen der Arbeiter muss erstens gewerkschaftlich sein; zweitens muss sie möglichst umfassend sein; drittens muss sie möglichst wenig konspirativ sein […] Die Organisation der Revolutionäre dagegen muss vor allem und hauptsächlich Leute erfassen, deren Beruf die revolutionäre Tätigkeit ist […]. Diese Organisation muss notwendigerweise nicht sehr umfassend und möglichst konspirativ sein.“(8)

Solche Formulierungen Lenins stießen im revolutionären Lager sogleich auf Kritik. Rosa Luxemburg klagte Lenin 1904 in Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie des Zentralismus an. Sie wandte sich gegen die vermeintliche politische Bevormundung der Massen im Leninschen Avantgarde-Verständnis:

„Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermesslich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees.“(9)

Luxemburg sieht das „historische Wesen des proletarischen Klassenkampfs“ darin, „dass die Masse keine „Führer“ im bürgerlichen Sinne braucht, dass sie sich selbst Führer ist.“(10) Es gehe darum, sich immer mehr der „Führerschaft [zu] entäußern, die Masse zur Führerin und sich selbst zu Ausführern, zu Werkzeugen der bewussten Massenaktion [zu] machen“.(11)

Die „Kampftaktik der Sozialdemokratie“ sieht sie als „Ergebnis einer fortlaufenden Reihe großer schöpferischer Akte des experimentierenden, oft elementaren Klassenkampfes.“(12)

Die knapp skizzierte Auffassung Luxemburgs birgt grundlegende Probleme:

1) die „bewusste Massenaktion“ wird vorausgesetzt. Damit unterstellt Luxemburg einen Automatismus in Bezug auf die Entwicklung von Klassenbewusstsein.

2)  Die Frage nach der Form der eigenen Führerschaft wird nicht beantwortet.

Die Form der Führerschaft, die Lenin in Was tun? beschreibt wird von Luxemburg jedenfalls abgelehnt.

In Was tun? bestand Lenin gegen die Ökonomisten und Spontaneisten auf der Notwendigkeit einer streng zentralisierten Organisation von Berufsrevolutionären, in der wegen der damals vorherrschenden zaristischen Repression die Vorbedingungen für breite demokratische Organisationsprinzipien fehlten(13): „Wer […] unter dem Absolutismus eine breite Arbeiterorganisation mit Wahlen, Berichten, allgemeinen Abstimmungen usw. haben will, der ist einfach ein unverbesserlicher Utopist.“(14)

Luxemburg warf Lenin vor, er verfechte eine „blinde Unterordnung aller Parteiorganisationen mit ihrer Tätigkeit bis ins kleinste Detail unter eine Zentralgewalt, die allein für alle denkt, schafft und entscheidet.“(15)

Lenin wies Luxemburgs Behauptung eines „rücksichtslosen“, „blanquistischen“(16)„Ultrazentralismus“ zurück. Er verteidigte unter den gegebenen Umständen „die elementaren Grundsätze eines jeden Systems einer jeden nur denkbaren Parteiorganisation“.(17)

Diese Kontroverse wurde unter Absehung des historischen Kontextes weidlich ausgeschlachtet, um eine Linie von Lenins „Ultrazentralismus“ zur stalinistischen Diktatur zur konstruieren. Die Frage der Organisationsform der russischen Sozialdemokratie wird dabei zu einer Frage des autoritären Charakters Lenins degradiert. Historisch ist die Kontroverse besonders im Kontext der unterschiedlichen nationalen Situationen zu sehen. Luxemburg befand sich im Kampf gegen den bürokratischen Konservativismus des SPD-Apparates und betonte daher die spontane und „selbständige Aktion der Masse“ in der sozialdemokratischen Bewegung.(18) In Russland sah Lenin im Gegensatz zur Situation in Deutschland zu jener Zeit die Hauptaufgabe darin, „eine wirklich fest gefügte Partei“(19) unter den damaligen Bedingungen der Illegalität aufzubauen.

Trotzkis Kritik (1904) an Lenins Organisationskonzept von Was tun? wurde bereits oben angeführt. Was hält er Lenin entgegen? Trotzki war der Auffassung, dass letztlich nicht die Partei die Masse führt, sondern die Masse die Partei vorwärts treibt, und vertraute auf die „elementare Gewalt der Revolution“:

„Die Zeit und die Formen der kommenden Ereignisse jetzt bestimmen zu wollen, wäre eine unfruchtbare Beschäftigung. Bis jetzt hat die elementare Gewalt der Revolution uns noch immer überrascht durch ihre schöpferische Kraft und den Reichtum an Mitteln. Nicht wir, sondern sie schuf den revolutionären Kräften einen Ausweg; nicht wir, sondern sie zeigte den Weg zu den Organisationsformen des Kampfes.“(20)

Trotzki, der in Organisationsfragen bis 1917 schwankend blieb, hat die Rolle der Partei aber keineswegs ignoriert – er war auch nie Vertreter einer Spontanitätstheorie. An Luxemburg(12), mit der er viele Punkte der Kritik an den Bolschewiki teilte, kritisierte er in der Massenstreikdebatte, dass sie bestimmte Kampfformen wie Generalstreik und Aufstand zu erlösenden Formeln mache und sie der wirklichen Bewegung gegenüberstelle. Rückblickend wies Trotzki darauf hin, er habe geglaubt, der Verlauf der kommenden Revolution und der Druck der Massen würde die Fraktionen der Menschewiki und der Bolschewiki von selbst zwingen, den selben revolutionären Weg zu verfolgen.(22) Seine falsche Einschätzung des Verhältnisses von Partei und Masse, die Unterschätzung des bewussten und organisierenden Elements führte ihn dazu, auf den Gang einer objektiven Entwicklung zu vertrauen. Vor diesem Hintergrund lehnte Trotzki den Führungsanspruch einer der Fraktionen der russischen Sozialdemokratie ab und trat für organisatorische „Einheit um jeden Preis“ ein. Die Hauptdifferenz Trotzkis mit den Bolschewiki in der Organisationsfrage vor 1917 bestand in Bezug auf die Einigung der Sozialdemokratie und die Rolle der Partei überhaupt. Die von Trotzki gegründete Zeitung Prawda bekannte sich gegen den Führungsanspruch einer revolutionären Minderheit zur Devise „Dienen, nicht Führen“.

Revolutionäre Organisation und demokratischer Zentralismus

„Parteidemokratie ist eine notwendige Vorbedingung für eine gesunde  Entwicklung der revolutionären Partei auf nationaler ebenso wie auf internationaler  Ebene. Ohne Freiheit der Kritik, ohne Wahl der Funktionäre von unten nach oben, die  Kontrolle des Apparats durch die Basis, ist keine wirklich revolutionäre Partei möglich.“(23)

Lenins Auffassung zur Organisationsfrage und der Rolle der Avantgarde-Partei legte den Grundstein für eine Politik, die in ihrer Einschätzung der Entwicklung von Bewusstsein, in der steten Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden Bewusstsein in der Arbeiter/innen/schaft, und gegen den menschewistischen Opportunismus, in der Lage war, eine Organisation herauszubilden, die – bei zahlreichen Fehltritten – schließlich 1917 zur Führung der Revolution in der Lage war.

Was tun? kennzeichnet dabei keineswegs die „Leninsche Parteiauffassung“, wie von Stalinist/inn/en behauptet, und auch im „westlichen Marxismus“ oft kolportiert (Lukacs etwa identifizierte das Konzept der Kaderpartei mit dem Konzept der konspirativ und stark zentralisiert organisierten Berufsrevolutionäre von Was tun?). Lenin selbst argumentierte, dass er im Kampf gegen den Ökonomismus besonders „schroffe Formulierungen“ verwendet hatte, seine Darstellung teilweise „vereinfachend krass“ war.(24)

Die Konzeption der bolschewistischen Partei entwickelte sich erst in den folgenden politischen Auseinandersetzungen und vor dem Hintergrund breiterer legaler Möglichkeiten nach der Revolution von 1905 und dem einhergehenden Aufschwung der russischen Arbeiter/innen/bewegung. Lenins Verhältnisbestimmung von umfassenden Arbeiter/innen/organisationen und revolutionärer Organisation änderte sich entsprechend der veränderten Bedingungen, ohne die prinzipielle Notwendigkeit der bewussten Führung durch die fortgeschrittensten Elemente der Klasse über Bord zu werfen. Neben der Aufnahme von Arbeiter/inne/n in die Organisation – 1907 sieht Lenin die „Erweiterung der Partei durch proletarische Elemente“ als einzige Möglichkeit, um das Zirkelwesen zu durchbrechen(25) – forderte Lenin sofort bei Lockerung des Drucks des Zarismus, das Prinzip der Wahlen von unten nach oben einzuführen und die Partei umfassend zu reorganisieren.(26)

Erst jetzt kann sich das Prinzip des demokratischen Zentralismus – gegenüber dem früheren, der Illegalität geschuldeten stärker zentralistischen Konzept – entwickeln, das 1906 auch in das neue Organisationsstatut der SDAPR aufgenommen wird.

In Freiheit der Kritik und Einheit der Aktion (1906) schrieb Lenin:   

„Das Prinzip des demokratischen Zentralismus und der Autonomie der lokalen Körperschaften bedeutet gerade die Freiheit der Kritik vollständig und allerorts, wenn dadurch die Einheit einer bestimmten Aktion nicht gestört wird, und die Unzulässigkeit jedweder Kritik, welche die Einheit einer von der Partei beschlossenen Aktion untergräbt oder erschwert.“(27)

Nach der endgültigen organisatorischen Trennung von den Menschewiki auf der Prager Konferenz im Jänner 1912 wurde der demokratische Zentralismus in der bolschewistischen Partei etwas enger gefasst. Das „Prinzip der Föderation oder der Gleichberechtigung aller ‚Strömungen’“ wurde nun verworfen zugunsten des „Prinzip[s] der loyalen Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit“.(28)

Das Prinzip des demokratischen Zentralismus war von Anbeginn keine starre Formel, sondern eine organisatorische Form, die in ihrer Konkretisierung jeweils von historischen Umständen abhängt. 1937/38 bemerkte Trotzki dazu zusammenfassend in dem kurzen Artikel Über den demokratischen Zentralismus: Einige Worte über die Parteiordnung:

„Demokratie und Zentralismus finden nicht in unveränderlichem Verhältnis zueinander. Alles hängt ab von den konkreten Umständen, von der politischen Situation im Land, von der Stärke der Partei und ihrer Erfahrung, vom allgemeinen Niveau ihrer Mitglieder und der Autorität, die die Führung vor einer Konferenz gewonnen hat. Wenn das Problem das der Formulierung der politischen Linie für die nächste Periode ist, triumphiert die Demokratie über den Zentralismus. Wenn das Problem die politische Aktion ist, unterwirft der Zentralismus die Demokratie. Die Demokratie setzt ihre Rechte durch, wenn es für die Partei notwendig ist, ihre Aktionen kritisch zu betrachten. Das Gleichgewicht zwischen Demokratie und Zentralismus bildet sich im realen Kampf, in gewissen Momenten ist es gestört und dann wieder hergestellt.“

Der erste bolschewistische Parteitag nach dem Sturz der Zarenmacht in Petrograd (Juli/August 1917) schrieb im Parteistatut zum ersten mal vor: „Alle Parteiorganisationen sind auf dem Prinzip des demokratischen Zentralismus aufgebaut.“

In den Leitsätzen über den organisatorischen Aufbau der Kommunistischen Parteien vom III. Kongress der Internationale 1921 wird durch das Konzept des demokratischen Zentralismus „eine Verschmelzung des Zentralismus und der proletarischen Demokratie“ angestrebt. Der demokratische Zentralismus war gedacht als Mittel zum Kampf gegen die bloß „formale Demokratie“ und die – nach Art des bürgerlichen Staates – „Spaltung der Organisation in aktive Funktionäre und passive Massen.“ Die Kommunistische Partei, die hier als „die Avantgarde, der führende Vortrupp des Proletariats“ charakterisiert wurde, sollte eben Durchsetzungsinstrument zur Aufhebung von Herrschaft (durch demokratischen Zentralismus, imperatives Mandat,…) sein.

Erst unter Stalin wurde Avantgarde zum Herrschaftskonzept. Stalin trennten bereits 1926 nur noch Anführungszeichen von der offenen Aussprache seiner Parteidiktatur:

„Als höchster Ausdruck der führenden Rolle der Partei […] muss die Tatsache bezeichnet werden, dass keine einzige wichtige politische oder organisatorische Frage durch unsere Sowjet- und andere Massenorganisationen ohne leitende Weisungen der Partei entschieden wird. In diesemdem Wesen nach die ‚Diktatur’ seiner Avantgarde, die ‚Diktatur’ seiner Partei als der grundlegenden führenden Kraft des Proletariats ist.“(29) Sinne könnte man sagen, dass die Diktatur des Proletariats

Offensichtlich stellt dies eine vollkommene Pervertierung dessen dar, was sich als Avantgarde- und Organisationskonzept bei den Bolschewiki herausentwickelt hatte. Hier wird eine Parteidisziplin gefordert, die in der Organisationsdebatte zuvor noch als bürgerlich, militärische Disziplin abgelehnt und einer sozialdemokratischen Organisationsdisziplin gegenübergestellt wurde.

Demokratischer Zentralismus und Parteidisziplin

„Von Disziplin sollte man dann nicht sprechen, wenn man  auch den Ausdruck Gehorsam gebrauchen könnte.“ (Brecht)(30)

Rosa Luxemburg differenzierte in der Organisationsdebatte den Begriff Disziplin in

„zwei so entgegen gesetzte Begriffe […] wie die Willen- und Gedankenlosigkeit einer vielbeinigen und vielarmigen Fleischmasse, die nach dem Taktstock mechanische Bewegungen ausführt, und die freiwillige Koordinierung von bewussten politischen Handlungen einer gesellschaftlichen Schicht; wie den Kadavergehorsam einer beherrschten Klasse und die organisierte Rebellion einer um die Befreiung ringenden Klasse. Nicht durch die Anknüpfung an die ihm durch den kapitalistischen Staat eingeprägte Disziplin – mit der bloßen Übertragung des Taktstocks aus der Hand der Bourgeoisie in die eines sozialdemokratischen Zentralkomitees – sondern durch die Durchbrechung, Entwurzelung dieses sklavischen Disziplin-Geistes kann der Proletarier erst für die neue Disziplin – freiwillige Selbst-Disziplin der Sozialdemokratie – erzogen werden.“(31)

Die revolutionäre „freiwillige Selbst-Disziplin“, wie sie Luxemburg anspricht ist – auch heute – unerlässlich für das demokratische Funktionierenaktiven Mitgliedschaft, die – nach Möglichkeit der Ressourcen – alle Bereiche des Organisationslebens mit trägt und das Organisationsinteresse als politisches Eigeninteresse versteht. Im sechsten Punkt der bereits zitierten Leitsätze von 1921 wurde dieser Gedanke ebenfalls aufgenommen. Die Überwindung einer „Spaltung in aktive Funktionäre und passive Massen“ und ein funktionierender demokratischer Zentralismus sei nur erreichbar einer revolutionären Organisation. Ein funktionierender demokratischer Zentralismus ist nur möglich einerseits auf der Grundlage einer hinreichend geschulten Mitgliedschaft, die damit die Fähigkeit mitbringt selbständig politische Einschätzungen zu treffen und Entscheidungen entsprechend mit zu tragen; andererseits auf der Grundlage einer

„auf der Grundlage der ständigen gemeinschaftlichen Tätigkeit, des ständigen gemeinschaftlichen Kampfes der gesamten Parteiorganisation.“

Auch bei Luxemburg steht die Parteidisziplin in direktem Zusammenhang mit innerorganisatorischer Demokratie:

„Jede Körperschaft, jede große Gemeinschaft, die auf der Mitwirkung mehrerer Einzelmenschen beruht, bedarf der Disziplin, d. h. der Unterordnung des einzelnen, ohne die ein Zusammenwirken unmöglich ist. Ohne Disziplin wäre kein Fabrikbetrieb, kein Schulunterricht, kein Militär und kein Staat möglich. Ist das dieselbe Disziplin, die der Sozialdemokratischen Partei zugrunde liegt? Durchaus nicht! […] Die militärische wie die kapitalistisch-industrielle Disziplin beruhen auf dem äußeren Zwang, die sozialdemokratische auf freiwilliger Unterordnung; die erstere dient der Despotie einer Minderheit über die Volksmasse, die letztere dient der Demokratie, d. h. dem Willen der aufgeklärten Volksmasse gegenüber dem Einzelnen.“(32)

Die für das Funktionieren überhaupt und besonders das demokratische Funktionieren einer Organisation beschriebene unerlässliche Disziplin darf nicht Ausdruck einer Zwangsunterwerfung, des „Gehorsams“ etc., von außen aufgezwungen sein. Sie muss als freiwillige Entscheidung aus der Einsicht in die Notwendigkeit revolutionärer Organisierung und der Anerkennung des Programms folgen.

Notwendigkeit revolutionärer Organisation und Avantgardeanspruch

„Es ist nicht genug für einen Revolutionär, richtige Ideen zu haben.  Eine revolutionäre Organisation bedeutet nicht einfach eine Zeitung und ihre Leser. […] Man kann Tag für Tag revolutionäre Artikel schreiben  und lesen und doch in Wirklichkeit außerhalb der revolutionären Bewegung sein.“ Trotzki (1934)

Was die Bolschewiki in erster Linie auszeichnete war nicht, dass sie nicht vielfach Fehler begingen. Trotzki etwa hatte viele der Irrungen der Bolschewiki bis zur Revolution von 1917 rasch erkannt und kritisiert. In Bezug auf den Charakter der Revolution (permanente Revolution vs. Etappenkonzept)(33), des Staates, die Rolle der Sowjets, auch einigen taktischen Zügen der Politik waren Trotzkis Einschätzungen bis zu seinem Anschluss an die Bolschewiki 1917 vielfach der Wirklichkeit angemessener und umsichtiger als diejenigen Lenins oder der Bolschewiki insgesamt. Was die Bolschewiki auszeichnete war, dass sie in den langen Jahren bis zum Oktober 1917, auch in schwierigsten Situationen und in großer Isolierung, eine lebendige Organisation auf Grundlage eines revolutionären Programms aufbauten, die ihre Fehler auch meist zu korrigieren verstand. 1917 gelang es der bolschewistischen Partei nicht zufällig in der entscheidenden Phase sektiererische und opportunistische Züge weitgehend fernzuhalten. Den Anspruch der revolutionären Avantgarde erwarben sich die Bolschewiki durch ihre Fähigkeit der Organisation, ihr demokratisches Organisationskonzept, ihre revolutionäre Linientreue, ihre Parteidisziplin zur Umsetzung der erarbeiteten Positionen.(34) All das entstand nicht plötzlich in einer vorrevolutionären und revolutionären Situation, sondern war Ergebnis langjähriger Übung in politischer Arbeit, der Teilnahme an Klassenkämpfen und der Herausbildung der Fähigkeit, die gemachten Erfahrungen zu verarbeiten, der Positionsfindung und -korrektur und der Fähigkeit als Organisation zu handeln. Die revolutionäre Situation selbst entwickelt sich auch nicht rein objektiv: „Die revolutionäre Situation fällt nicht vom Himmel. Sie gewinnt Gestalt unter aktiver Beteiligung der revolutionären Klasse und ihrer Partei.“(35)

Die führende Rolle, die die Bolschewiki in der weltweit ersten proletarischen Revolution einnehmen konnten, kam ihnen nicht alleine auf Grund „richtiger Positionen“ zu. Trotzkis richtige Theorie der permanenten Revolution, zu der Lenin erst allmählich gefunden hatte, konnte schließlich nur aufgrund der Existenz der bolschewistischen Partei umgesetzt werden, zu deren Aufbau Trotzki lange Zeit nicht beigetragen hatte.(36) Gerade die Perspektive einer von Sowjets getragenen Diktatur des Proletariats forderte eine konsequente Organisation auf demokratisch zentralistischer Grundlage.

Nach 1917 verallgemeinerte Trotzki auch wichtige Fragen der Organisationstheorie. Neben der Anerkennung der Notwendigkeit des Parteiaufbaus betonte er u. a. die entscheidende Bedeutung des subjektiven Faktors in einer gegebenen Situation; die Notwendigkeit der Teilhabe der revolutionären Organisation an den Erfahrungen der Massen; die Notwendigkeit der politischen Führung und des Vorwärtstreibens spontaner Klassenkämpfe (Übergangsprogramm); die Notwendigkeit der internationalen Organisierung; die Unabdingbarkeit des demokratischen Zentralismus als Mittel zur Findung und Durchführung revolutionärer Politik; die Notwendigkeit des Aufbaus eigenständiger Machtorgane der Arbeiter/innen/schaft. Diese allgemeinen Bestimmungen revolutionären Organisationsaufbaus bedürfen freilich einer Konkretisierung nach objektiven und subjektiven Faktoren.

Die Ereignisse in Russland zwischen Februar und Oktober 1917 sind das klassische Beispiel für die entscheidende Rolle, die eine revolutionäre Organisation in einer revolutionären Situation spielen kann. Eine solche Organisation fällt aber nicht vom Himmel, sondern muss heute wie damals durch Organisierung der bewusstesten politischen Elemente („Avantgarde“), ihre theoretische und praktische Schulung, auf Grundlage eines klaren Programms aufgebaut werden, insbesondere in den Fragen Staat, Revolution und Partei.

(Der vorliegende Text entstand aus der Niederschrift eines Referates

auf einer AGM-Schulung.)


1) Jörn Schülstrumpf, www.linksnet.de

2) Leo Trotzki, Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek 1970, S. 68

3) ebd., S. 73. Diese Stelle aus einer bestimmten Etappe der Organisationsdiskussion führt etwa auch Heinz Abosch an, um die allgemeine Behauptung zu stützen: „In den Ideen Lenins entdeckt man die theoretischen Voraussetzungen der Stalin-Diktatur mit ihren Führer-Ritualen, Hexenjagden und Schauprozessen.“ Trotzki und der Bolschewismus, Fft./Main/Berlin/Wien 1984, S. 22 

4) Für eine aktuelle Kritik siehe Die Zivilges.m.b.H. & ihre Teilhaber – Zivilgesellschaft, NGOs und das Elend der „kreativen Protestformen“, Marxismus Sondernummer 5, Wien 2000

5) W. I. Lenin, Werke (LW), Bd. 5, S. 385f

6) LW 5, S. 394

7) LW 5, S. 476

8) LW 5, S. 468

9)> Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke (GW), Bd. 1/2, S. 444

10) GW 3, S. 42

11) GW 1/2, S. 396

12) ebd., S. 432

13) LW 5, S. 494f

14) LW 5, S. 476

15) GW 1/2, S. 429

16) Der Begriff des Blanquismus leitet sich vom französischen Revolutionär Louis-Auguste Blanqui (1805-1881) ab und bezeichnet eine Revolutionskonzeption, die auf bewaffnete Aufstände von konspirativ organisierten Zirkeln setzt. Blanqui, der sein halbes Leben im Gefängnis verbrachte und l’enfermé (der Eingesperrte) genannt wurde, war aktiver Teilnehmer der Revolution von 1830 und wurde (nach wiederholten Freilassungen, Todesurteilen und Begnadigungen) aus dem Gefängnis 1871 in die Pariser Commune gewählt. Die von ihm geleiteten, höchst konspirativen Zirkel wie die Société des Saisons (Gesellschaft der Jahreszeiten) versuchten durch gewaltsame, terroristische Umstürze eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu errichten.

17) LW 7, S. 480

18) GW 1/2, S. 427. Lenin hatte lange Zeit – trotz Kritik an Einzelzügen der SPD – keinen Begriff von deren reformistischen Charakter. Im Oktober 1914 gibt er in einem Brief an Schljapnikow zu, dass Luxemburg gegen ihn mit ihrer Einschätzung des Kautskyschen Opportunismus und ihrer harten Kritik an ihm recht gehabt habe (LW 35, S. 142)

19) LW 7, S. 485

20) Leo Trotzki, Die Duma und die Revolution, in: Die Neue Zeit, Jg. 25, Bd. 2, Nr. 28 (1906/1907), S. 385

21) Auch Luxemburg war keine reine „Spontanitätstheoretikerin“, diese Zuschreibung ist eher der verkürzten stalinistischen Geschichtsschreibung zu verdanken. Tatsächlich findet sich bei ihr allerdings eine Überbetonung und Fehleinschätzung der Dynamik spontaner Massenaktionen.

22) Vgl. u. a. Leo Trotzki, Unsere Meinungsverschiedenheiten (1924/25)

23)Trotzki, Die Erklärung der Vier. Über die Notwendigkeit und Prinzipien einer neuen Internationale (1933), Pkt. 10, in: Writings of Leon Trotsky, Supplement (1929-33), S. 49-52; deutsch unter: www.sozialistische-klassiker.org/Trotzki/LT34.html

24) LW 5, S. 436

25) LW 13, S. 97

26) vgl.: Über die Reorganisation der Partei (1905), in: LW 10, S. 13-23

27) LW 10, S. 447

28) LW 20, S. 529

29) J. W. Stalin, Zu den Fragen des Leninismus (1926), in: Werke 8, S. 149

30) in: Gesammelte Werke, 20 Bde., Frankfurt/Main 1969ff., Bd. 12, S. 534

31) GW 1/2, S. 430f

32) GW 4, S. 15; Hervorhebung K.G.

33) Für eine umfassende Darstellung der revolutionstheoretischen Debatten u. a. in der russischen Sozialdemokratie vgl. Eric Wegner, Marxistische Revolutionstheorie, in: Marxismus Nummer 13, Wien 1998, S. 9 – 99 

34) Zu den Schwankungen und Fehlern der Partei vgl. Trotzkis Lehren des Oktober (1923)

35)Leo Trotzki, Wohin geht Frankreich, Teil 1 (1934), unter: www.sozialistische-klassiker.org/Trotzki/LT35.html

36) Trotzki schreibt in seinem „Versuch einer Autobiographie“: „Am 1. November 1917, in der Sitzung des Petrograder Komitees […] sagte Lenin: nachdem Trotzki sich von der Unmöglichkeit der Vereinigung mit den Menschewiki überzeugt hatte, „gab es keinen besseren Bolschewiken“. Er hat damit klar gezeigt, und nicht zum erstenmal, dass nicht die Theorie der permanenten Revolution uns getrennt hatte, sondern die engere, wenn auch sehr wichtige Frage über die Stellung zum Menschewismus.“ Trotzki, Mein Leben, Frankfurt/Main 1981, S. 289 In Die permanente Revolution (1930), erklärte Trotzki, er habe in Organisationsfragen gegen Lenin unrecht gehabt (Frankfurt/Main 1968, S. 50ff.; S. 75ff.).