Die WASG und die Wahlen in Berlin

In Berlin finden am 17. September die Wahlen zum Abgeordnetenhaus (=Stadtparlament) und zu den Bezirksverordnetenversammlungen statt. Aus der Sicht der radikalen Linken ist insbesondere der Antritt der WASG (Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative) von Interesse, die verspricht, sich konsequent gegen die vom „rot-roten Senat“ (bestehend aus SPD und Linkspartei.PDS) betriebene neoliberale Sozialabbaupolitik zu stellen. Ein Antritt, den der Berliner Landesverband gegen die Bundespartei, die sich in einem Fusionsprozess mit der L.PDS befindet, mit Hilfe von bürgerlichen Gerichten durchsetzen musste. Um die Bedeutung dieses Wahlantritts realistisch einschätzen zu können, muss man/frau einen kurzen Blick auf Entstehung und Charakteristik der WASG werfen.

Die Entstehung der WASG

 

Die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Schröder bedeutete nicht nur die Militarisierung der Außenpolitik, so dass der deutsche Imperialismus nun wieder mitbombt (etwa im NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999) und seine Armeen wieder weltweit zur Durchsetzung seiner Interessen einsetzt (so stehen deutsche Truppen unter anderem in Kosova/Kosovo, in Afghanistan, am Horn von Afrika, im Kongo und bald auch vor der Küste des Libanon). Vor allem wurde eine neoliberale Wirtschafts- und „Sozial“politik eingeschlagen, deren deutlichste Zeichen die „Agende 2010“ und die „Hartz-Gesetze“ (am bekanntesten „Hartz IV“) waren, scharfe Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse, insbesondere auf Erwerbslose. Gegen diese Angriffe der Herrschenden bildete sich eine breite Widerstandsfront, deren stärkster Ausdruck die Demonstration von 100.000 Menschen in Berlin  am 1. November 2003 war.

 

In diesem Klima begannen vor allem kleine und mittlere GewerkschaftsfunktionärInnen in der SPD darüber nachzudenken, mit Blick auf die Bundestagswahlen eine neue, „wirklich sozialdemokratische“ Partei zu gründen. Mitte März 2004 gründeten sich unabhängig von einander innerhalb von drei Tagen zwei solche Initiativen, „Arbeit & soziale Gerechtigkeit“ (ASG) und die „Wahlalternative 2006“. Letztere entstand im Norden Deutschlands aus der Dienstleistungsgesellschaft ver.di (vornehmlich aus der Abteilung Wirtschaftspolitik beim Bundesvorstand; Ralf Krämer), der Memorandumgruppe alternativer Wirtschaftswissenschafter und der Zeitschrift Sozialismus (etwa das Ex-PDS-Mitglied Joachim Bischoff) und Teilen von attac (Sabine Lösing). Die ASG wurde getragen von süddeutschen Funktionären der IG Metall (IGM), der weltweit größten Industriegewerkschaft um Klaus Ernst, Thomas Händel und Gerd Lobodda.

 

Im Juli desselben Jahres schlossen sich diese beiden Initiativen zusammen zum Verein „Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative“ (WASG), aus dem im Mai 2005 die Gleichnamige Partei hervorgehen sollte – gegen harten Widerstand der SPD, die mit bürokratischen Mitteln gegen ihre GewerkschafterInnen vorging, die sich an dem Projekt beteiligen wollten.

 

Die Gründungsphase der WASG fiel zusammen mit den Montagsdemonstrationen, hauptsächlich von Arbeitslosen und abhängig Beschäftigten getragene Demonstrationen gegen „Hartz IV“, eine sich gegen Arbeitslose wendende Umstrukturierung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Die WASG beteiligte sich an diesen Mobilisierungen und stieß auf regen Zuspruch. Arbeitslose, Menschen aus den sozialen Bewegungen, GewerkschafterInnen, radikalisierte KleinbürgerInnen, Leute aus linksradikalen Zusammenhängen, sich auf Trotzkismus berufende Organisationen und ehemalige PDSlerInnen traten ihr bei. Die straff Top-down gegründete WASG füllte sich mit einem regen internen Leben, es kam zu unzähligen Diskussionen, der Aktivitätsgrad der Mitglieder war ungleich höher als bei den anderen bürgerlichen Parteien. Formulierte das offizielle Parteiprogramm weiterhin ein mit marxistischen Versatzstücken gespicktes linkskeynsianisches Konzept, wurde das Selbstverständnis der Organisation unter weiten Teilen der Mitgliedschaft eines, dass man eine Sammlungsbewegung sei, die das gemeinsame Ziel habe, konsequent gegen jegliche Art von Sozialabbau aufzutreten. Parlamentarische Vertretungsarbeit solle nur ein Teil der Aufgaben der WASG sein, mindestens genau so wichtig wären außerparlamentarische Mobilisierungen.

 

Der sich formierende linke Flügel der WASG setzte gegen die Parteiführung durch, bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 zu kandidieren, wo die WASG mit 2,2% (über 180.000 Stimmen) einen Achtungserfolg erzielte und die PDS (0,9%) weit hinter sich ließ. Zu diesem Zeitpunkt betrat der ehemalige SPD-Finanzminister Oskar Lafontaine die Bühne, der verantwortlich war für die Einführung neoliberaler Konzepte in die deutsche Politik, dann aber mit der Regierung Schröder brach und sich in gewisser Weise nach links entwickelte. Lafontaine erklärte sich bereit, als Spitzenkandidat zu fungieren, wenn PDS und WASG gemeinsam zu den Bundestagswahlen kandidieren würden, was nach einigen Diskussionen beschlossen wurde – WASGlerInnen kandidierten auf offenen Listen der in Linkspartei.PDS (L.PDS) umbenannten Partei. Bei den Bundestagswahlen im September 2005 errangen diese mit 8,7% der Stimmen (4,1 Millionen WählerInnen) einen deutlichen Erfolg, es zogen 54 Abgeordnete in den Bundestag ein, davon 8 von der WASG.

 

Physiognomie der WASG

 

Die Gründung der WASG hatte aus revolutionärer Sichtweise zwei positive Aspekte: Einerseits brach eine gesamte Schicht von GewerkschafterInnen von ihrer klassischen Partei, der SPD nach links – allerdings ohne dabei mit dem Reformismus an sich zu brechen. Und anderseits schaffte sie es, neue Leute zu mobilisieren und für linke Politik zu gewinnen.

 

Durch die gemeinsame Wahlkandidatur wurde auch die Frage einer potenziellen Fusion mit der PDS aufgeworfen, wo sich im Endeffekt drei Flügel herauskristallisierten: Ein kleiner prinzipiell antikommunistischer, den an der PDS hauptsächlich der Sozialismus im Parteinahmen störte und der sich großteils schnell aus der WASG verabschiedete. Den Mehrheitsflügel um die Mehrheit im Bundesvorstand und die aus trotzkistischer Tradition stammenden Organisation „Linksruck“ (deutsche Sektion der IST, in Österreich: „Linkswende“), die eine Vereinigung mit der PDS um jeden Preis will und bereit ist, im Namen der „Einheit der Linken“ jegliches inhaltliche Zugeständnis zu machen und dies auch mit bürokratischen Maßnahmen durchzusetzen bereit ist. Und ein dritter, der auch eine „Einheit der Linken“ anstrebt, dafür aber politische Grundpositionen benennt: dass eine geeinte Linke auch „wirklich linke Politik“ machen und sich der Beteiligung an Regierungen, die Sozialabbau betreiben, grundsätzlich widersetzen muss. Zu diesem Flügel gehört unter anderen auch die sich als trotzkistisch verstehende Sozialistische Alternative (SAV; deutsche Sektion des CWI, in Österreich SLP), die den Aufbau der WASG auf diesen Positionen mit der Propaganda von radikaleren/sozialistischen Positionen verbindet, eine Herangehensweise, die wir bei Kritik an manchen SAV-Positionen und in einigen Fragen (etwa das verallgemeinertes Konzept von „Neuen Arbeiterparteien“) für richtig halten.

 

Nach dem Einzug in den Bundestag bildete sich ein reich an finanziellen und personellen Mitteln ausgestattetes Machtzentrum, das immer mehr die gewählten Parteistrukturen umgeht und so schnell zu einer Bürokratisierung der Politik beiträgt. Alles in allem blieb die WASG ein linksreformistisches Projekt, dessen Charakter zwischen dem eines Bündnisses gegen Sozialabbau und dem einer bürgerlichen Partei, die sich existenziell auf die fortschrittlichen Teile der organisierten ArbeiterInnenklasse stützt. Mit dem WASG-Parteitag in Ludwigshafen im Mai 2006 scheint sich der Charakter eindeutig in die zweite Richtung zu entwickeln, einem Abschluss dieses Werdeganges zu einer voll ausgeprägten bürgerlichen ArbeiterInnenpartei wird wohl nur das Kollabieren in die PDS zuvorkommen – wobei es gerade in dieser Charakterisierung starke unterschiede von Landesverband zu Landesverband gibt.

 

Die Lage der WASG ist regional sehr unterschiedlich, ist sie im Osten Deutschlands wesentlich schwächer als die PDS, so konnte sie diese im Westen rasch überflügeln. Und besteht sie im Süden Deutschlands vornehmlich aus sozialdemokratischen GewerschafterInnen, ist sie im Norden stärker von AktivistInnen aus sozialen Bewegungen geprägt. Eine Sonderrolle nehmen die Bundesländer Berlin und Mecklenburg-Vorpommern ein, wo die PDS in so genannten „rot-roten“ Koalitionen (genauso wie in vielen Ostdeutschen Kommunen) mit in der Regierung sitzt und eine Partei des Sozialabbaus mit durchführt. In diesen Ländern ist der Konflikt zwischen der WASG als einer Partei gegen Sozialabbau mit der PDS wesentlich härter, in beiden Bundesländern entschieden sich die Landesverbände der WASG gegen die PDS zu kandidieren.

 

Der Fall Berlin

 

In Berlin regiert seit Ende 2001 eine Regierung aus SPD und PDS, deren Politik sich nur als soziales Kettensägenmassker gegen die ArbeiterInnenklasse bezeichnen lässt: Schaffung von über 30.000 Ein-Euro-Jobs (staatlich geförderte Niedriglohnarbeitsplätze), Bruch des Flächentarifvertrages, Privatisierung von 120.000 Wohnungen in Besitz von landeseigenen Wohnbaugesellschaften, Kürzung des Blindengeldes, Abschaffung der Lehrmittelfreiheit (d.h. Eltern müssen für Schulbücher zahlen), um nur einige zu nennen. Die PDS führte diese Politik nicht nur mit durch, sie verteidigt sie auch retrospektiv und will sie sogar als exemplarisch als weiteres Vorgehen zur Entschuldung der stark verschuldeten Metropole Berlin darstellen.

 

Diese Politik verschärfte die Krise der Stadt, die sich durch fast 20% Arbeitslosigkeit und einem hohen Anteil von sozialen Transferleistungen abhängigen BürgerInnen auszeichnet. Die lokale WASG lehnte deshalb in wiederholten Parteitagsbeschlüssen und einer Urabstimmung unter der Mitgliedschaft eine Vereinigung ab und strebte eine Eigenkandidatur an. Ein zusätzliches Moment dabei spielte die Stärke der radikalen Linken: so stellt die SAV zwar nur knapp an 10% an Mitgliedschaft und Parteitagsdelegierten, verfügt aber als einzige organisierte Kraft der Berliner WASG-Linken über einen starken Einfluss, mit Lucy Redler ist ein SAV-Mitglied Spitzenkandidatin der WASG.

 

Der Kurs auf eine Separatkandidatur stieß auf vehementen Widerstand des Bundesvorstandes, der den geplanten Vereinigungsprozess mit der L.PDS gefährdet sah. Nachdem unter anderem Einschüchterungsaktionen und ein Brief von Gysi und Lafontaine zur Beeinflussung der Mitgliedschaft nichts fruchteten, setzte er widerrechtlich den Landesvorstand der WASG ab und einen kommissarischen Verwalter ein. Gegen diese bürokratische Maßnahme zog der Berliner Landesverband zu Gericht und wurde durch ein bürgerliches Gericht wieder eingesetzt, die Kandidatur der WASG für rechtmäßig erklärt.

 

Die WASG Berlin beteiligte sich an sozialen Mobilisierungen und betrieb Solidaritätsarbeit mit kämpfenden ArbeiterInnen, so half sie etwa im Fall des Nutzfahrzeugherstellers CNH auch bei der Zurückschlagung von Streikbrechern, unterstützte die Kämpfe der KollegInnen von BSH (Bosch Siemens Hausgeräte) gegen die Schließung des Betriebs und hilft aktuell bei der Organisation des Streiks der Pflegekräfte im Krankenhaus Charité.

 

Das Wahlprogramm ist, obwohl teilweise sehr weitreichend („Überführung von Betrieben, die mit Abwanderung drohen, in öffentliches Eigentum“) ein linksreformistisches. Der Wahlkampf der Berliner WASG, unterstützt von (zu einem nicht geringen Teil von der SAV mobilisierten) externen WahlkampfhelferInnen, ist ein äußerst engagierter Straßenwahlkampf, zentrales Moment neben dem Aufruf zur Wahl die Propagierung von außerparlamentarischem Widerstand. Unter dem Motto „100% sozial“ wird vor allem ein „Nicht mit uns!“ zu verschieden Sozialabbaumaßnahmen propagiert (etwa „Sozialabbau? Privatisierung? Nicht mit uns!“ oder „1-Euro-Jobs? Zwangsumzüge? Nicht mit uns!“).

 

Perspektiven

 

Die Bedeutung der Berliner Wahl hat nicht nur den üblichen geringen Einfluss au, sondern auch bedeutenden Einfluss auf die Möglichkeiten der radikalen Linken in den kommenden Jahren. Mit einem schlechten Ergebnis der Berliner WASG würde die Vereinigung von WASG und L.PDS schnell durchgezogen, bei der die WASG im Endeffekt in der L.PDS aufgelöst würde. Eine sich reformistisch gebende Partei würde entstehen, die die Nachteile eines aus dem Stalinismus kommenden bürokratischen internen Regimes mit der Umsetzung neoliberaler „Realpolitik“ in Regionalregierungen vereinen würde, eine PDS-ML wie man/frau in Berlin spottet (PDS mit Lafontaine). Auch wenn eine solche Partei – in erster Linie auf die Übernahme der „Regierungsverantwortung“ 2009 gerichtet – mit der linken Rhetorik Lafontaines durchaus Einfluss auf sich radikalisierende (Betriebs-)AktivistInnen haben könnte, würden sich wohl gerade die kämpferischsten Exponenten linker Betriebsarbeit, die oft mit WASG verbunden sind oder diese mit Sympathie betrachten, von einer solchen Partei abwenden.

 

Würde die WASG allerdings die 5%-Hürde zur Wahl ins Abgeordnetenhaus schaffen, so würde sie nicht nur beweisen müssen, wie konsequent sie in der außerparlamentarischen Mobilisierung gegen Sozialabbau tatsächlich wäre. Es würde die Debatte des Fusionsprozesses zwischen WASG und PDS nochmals öffnen und vor allem auch die Einflussmöglichkeiten, anti-neoliberaler und partiell auch anti-kapitalistischer Propaganda in ihrer gesellschaftlichen Relevanz beträchtlich erweitern. Aus diesen Gründen hat die Arbeitsgruppe Marxismus (AGM) in Berlin mit ihren bescheidenen Mitteln seit Oktober 2005 in der WASG Berlin mitgearbeitet, den Wahlkampf der WASG sehr aktiv unterstützt und empfehlen die Stimmabgabe für die WASG.

 

Ein linksreformistisches Bündnis wie die WASG Berlin kann freilich, auch wenn es positive Mobilisierungen durchführt, kein Ersatz für den Aufbau einer revolutionären Partei sein, die tatsächlich das kapitalistische System stürzen und den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen muss, umso den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu ermöglichen. Dies muss das zentrale Ziel von revolutionären KommunistInnen sein, an dem die Sinnhaftigkeit von politischer Arbeit, etwa der in der WASG, gemessen werden muss.

 

Beschlossen von der Leitung der AGM am 12. September 2006, nach einem Entwurf von Stefan Neumayer (AGM-Berlin)