Morgenrot-Sondernummer zu Venezuela

1998 wurde in Venezuela Hugo Chávez Frias zum Präsidenten gewählt. Seitdem hat das Land eine enorme Politisierung erlebt. Betriebe werden besetzt, neue Gewerkschaften und politische Parteien gegründet, das Wort vom "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ist in aller Munde. Auch international werden die Entwicklungen in Venezuela heiß debattiert. Wir wollen versuchen, die Entwicklungen in Venezuela zu skizzieren sowie die Chancen und Gefahren der politischen Prozesse im Lande zu beleuchten.

Als der ehemalige Fallschirmspringeroffizier Chávez 1998 mit 56% der Stimmen erstmals gewählt wurde, erweckte dies international kaum Aufmerksamkeit. Chávez, der bereits 1992 Anführer eines Putsch gewesen war und dafür 2 Jahre ins Gefängnis musste, ist ein typischer Vertreter einer Tradition, die wir in kolonialisierten Ländern des Öfteren finden: der Typus des fortschrittlichen Offiziers oder Soldaten, zumeist selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammend, der sich über seine Arbeit im Repressionsapparat politisiert, nach links geht und schließlich – seiner militärischen Logik folgend – versucht, das System durch einen Putsch und eine fortschrittliche Militärregierung zu verändern (während in Konsequenz die Massen gleichzeitig passiv bleiben und zu Statisten degradiert werden). Doch Chávez veränderte seine Positionen, setzte diese in der von ihm gegründeten MVR (Bewegung für die Fünfte Republik) durch und wurde gewählt.

Rückblick

Nach dem Sturz des Diktators Marcos Pérez Jiménez im Jahr 1958 teilten die christdemokratische COPEI und die sozialdemokratische Acción Democrática (AD) im Abkommen von Punto Fijo die Macht, es wird daher bis heute vom Punto- Fijismo gesprochen. Diese Machtteilung hielt bis in die 90er Jahre. Venezuela ist ein sehr ölreiches Land, es ist aktuell der fünftgrößte Ölexporteur der Welt und deckt derzeit rund 15% des gesamten Ölbedarfs der USA. Wie kaum ein anderes Land Lateinamerikas – mit Ausnahme Panamas – war Venezuela daher auch seit den 1930er Jahren an die USA gebunden, für die die venezolanischen Ölreserven von strategischer Bedeutung sind.

In Folge der großen Ölkrise 1973 wurde Venezuela zu einem der wohlhabendsten Länder der Region, bis 1983 konnten 240 Milliarden Dollar eingenommen werden. Damit einher ging eine Phase der politischen Stabilität und der Aufschwung einer für lateinamerikanische Verhältnisse bedeutenden Industriearbeiter- Innenschaft.

Mit dem Einbruch des Ölpreises ab 1983 brachen diese Einkünfte weg, was eine anhaltende Wirtschaftskrise nach sich zog. Venezuela häufte in dieser Zeit Auslandsschulden von 35 Milliarden Dollar an. Das Land war Rohstofflieferant geblieben und somit den Kursschwankungen des Weltmarktes ausgesetzt. In Folge versuchten die verschiedenen Regierungen, die daraus entstehenden Probleme nach Weisungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) mit neoliberalen "Reformen" zu lösen. Das führte im Februar 1989 zum sogenannten Caracazo, einem von den Slums der Hauptstadt Caracas ausgehenden Aufstand gegen Sparmaßnahmen des AD-Präsidenten Carlos Andrés Pérez de la Cova – bei der Niederschlagung dieses Aufstandes wurden bis zu 6000 Menschen getötet. Dies wiederum war eine der Vorbedingungen des Putsches von 1992 und in Folge der Wahl von Chávez 6 Jahre später.

Die Anfänge

Zu Beginn unterschied sich Chávez, der seine linksnationalistische politische Theorie in Anlehnung an Simon Bolívar "Bolivarismus" nennt, nicht wesentlich von anderen linksreformistischen Präsidenten in Mittel- und Südamerika. Seine Politik war anfangs durchaus widersprüchlich, fortschrittlichen Maßnahmen standen sozialen Einschnitten gegenüber. So garantierte die neue Verfassung von 1999 freien Zugang zum Gesundheitswesen, gleiche Löhne für Männer und Frauen, kulturelle Rechte der indigenen Bevölkerung, eine Arbeitszeitverkürzung und das Verbot der Privatisierung der Öl-, und Gasindustrie sowie des Rentensystems.

In Folge wurden auch die sogenannten Misiónes gegründet, die am traditionellen Staatsapparat vorbei Gelder aus den Ölüberschüssen für Sozialprogramme bereit stellen. Die bekanntesten dieser Misiónes sind die "Misión Robinson" (Alphabetisierung), "Barrio Adentro" (Gesundheitsfürsorge in Armenvierteln) und "Vuelvan Caras" (Arbeitsförderung).

Auf der anderen Seite wurden zu Beginn der Chávez-Regierung die öffentlichen Ausgaben reduziert, die Löhne im öffentlichen Dienst eingefroren, der Telekommuni-kationssektor privatisiert und Vorschläge für eine Privatisierung der Aluminiumindustrie und der Elektrizitätswirtschaft in Umlauf gebracht sowie in der Verfassung Privateigentum und Marktwirtschaft fest geschrieben. Dennoch wurden die sichtbaren und wichtigen Sozialreformen unter Chávez, vor allem im Bildungs- und Gesundheitssektor, von der Bevölkerung sehr positiv aufgenommen, 2000 wurde er in Neuwahlen mit fast 60% im Amt bestätigt.

Im gleichen Jahr konnte er (bei einer Stimmenthaltung von 76,5%) eine Mehrheit für seinen Vorschlag gewinnen, Neuwahlen im alten sozialdemokratischen Gewerkschaftsdachverband CTV (Confederación de Trabajadores de Venezuela – "Konföderation der Arbeiter von Venezuela"), der von der AD dominiert wurde, durchzuführen. Diese Abstimmung war trotz des reformistischen Charakters der CTV durchaus bedenklich, ließ doch Chávez alle VenezuelanerInnen (und nicht die Gewerkschaftsmitglieder) über die Zusammensetzung der Gewerkschaft entscheiden und griff so massiv in die Koalitionsfreiheit der ArbeiterInnenklasse ein, auch wenn in diesem Fall eher von einer ArbeiterInnenaristokratie zu sprechen wäre. Interessanterweise konnten sich dann bei den Gewerkschaftswahlen 2001 die chávistischen KandidatInnen nur in 30% der Fälle durchsetzen, in 70% der Fälle gewannen die traditionellen CTV-KandidatInnen (wobei natürlich nicht klar ist, ein wie großer Anteil dieses Siegs auf Druck durch die Gewerkschaftsbürokratie zurückzuführen ist).

Putsch

Dieses Referendum war sicher auch nicht gänzlich unerheblich dafür, dass wesentliche Teile der CTV sich später am Putsch gegen Chávez beteiligten (die Führung, die eng mit der AD verknüpft ist, hätte dies aber wohl in jedem Fall getan). Doch tat die Abstimmung insgesamt der Popularität von Chávez keinen Abbruch, seine sozialen Reformen wurden sehr positiv bewertet, zum ersten Mal seit langer Zeit kümmerte sich jemand überhaupt um die Armen.

Im April 2002 schließlich dachte die Opposition, dass die Zeit reif sei für einen Putschversuch gegen Chávez. Der UnternehmerInnendachverband FEDECAMARAS, die CTV, verschiedene Wirtschaftsverbände, die katholische Kirche, die Parteien AD und COPEI und die privaten Fernsehsender riefen mit Unterstützung der US-Botschaft in Caracas zum Generalstreik auf, mit dem sie den Rücktritt von Chávez erzwingen wollten und organisierten eine Massendemo der Opposition, die den Präsidentenpalast umringte. Als putschende Militärs im Anschluss drohten, den Palast selbst zu bombardieren, ergab sich die Regierung und Chávez wurde verhaftet. Das Kapital zeigte sehr offen, wer hinter dem Putsch stand: als Übergangspräsident wurde der Präsident von FEDECAMARAS, Pedro Carmona, vereidigt, der sofort das Parlament und das Oberste Gericht auflöste.

Der Putsch löste spontane Massenproteste und riesige Demonstrationszüge gegen die Konterrevolution aus, während die organisierten "Chávistas" ziemlich unvorbereitet schienen und offenbar kaum Vorbereitungen für ein solches (keineswegs unwahrscheinliches) Szenario getroffen hatten. Schon kurz nach der Siegesfeier der Putschisten wurden diese von regierungstreuen Militärs verhaftet, Chávez wurde befreit und wieder ins Präsidentenamt eingesetzt. Die PutschistInnen machten recht schnell einen Rückzug und suchten nicht nach einer bewaffneten Konfrontation, im Licht der Massenproteste waren sie offenbar nicht davon überzeugt, gewinnen zu können.

Nach dem Putsch agierte Chávez äußerst sanft, es gab Versöhnungsangebote, aber kaum Verhaftungen, auch das Militär wurde nicht von putschistischen Elementen gesäubert. Es war dies im Gegenteil eher eine Zeit, in der Chávez wieder zurückruderte und versuchte, zu einem Ausgleich mit dem Kapital zu kommen – eine gefährliche Strategie, vor allem die blutige Niederlage der Volksfront- Regierung in Chile unter Salvador Allende im Jahr 1973 hatte gezeigt, dass Zurückweichen und Arrangements das Kapital keineswegs befriedigen (und auch heute würden wir es nicht auf den Versuch ankommen lassen wollen, wie viele der Offiziere der venezolanischen Armee im Ernstfall tatsächlich auf Seiten der Regierung und nicht auf Seiten der alten Eliten stünden).

Im Dezember des gleichen Jahres riefen CTV und UnternehmerInnenverbände zu einem unbefristeten Generalstreik auf, der zwei Monate andauerte und in Wirklichkeit eine Aussperrung durch die Kapitalist- Innen war (und letztlich scheiterte). 2004 schließlich strengte die Opposition ein Referendum gegen Chávez an, die Bevölkerung entschied mit 60% zu 40% bei einer Wahlbeteiligung von 70% für seinen Verbleib im Amt. Im Dezember 2005 gewann Chávez die jüngsten Wahlen überdeutlich: die mit dem Prozess in Venezuela sympathisierenden Parteien konnten alle Sitze im Parlament besetzen. Die sozialdemokratisch/bürgerliche Opposition hatte die Wahlen boykottiert, um sie hernach als nicht fair denunzieren zu können. Doch tatsächlich hätten sie schlicht an der Wahlurne eine kapitale Niederlage eingefahren. Andererseits war die Wahlbeteiligung mit ca. 25% extrem niedrig. Dies ist natürlich einerseits der Tatsache geschuldet, dass der Wahlausgang durch den Boykott von vorneherein feststand, Berichte aus Venezuela erklären aber auch, dass es in Teilen der Bevölkerung eine zunehmende Frustration über die mangelnden Fortschritte in der Hebung der unmittelbaren Lebensumstände gibt. So meinte die Zeitung der OIR (Opción de Izquierda Revolucionaria / Option der revolutionären Linken) im März 2005: "Das vergangene Jahr endete mit einem Wirtschaftswachstum von 17,3 %, dem größten des ganzen Kontinents, und dennoch folgt jetzt die kalte Dusche: Eine neuerliche Währungsabwertung, was eine höhere Inflation bewirkt, und eine Steigerung der Lebenshaltungskosten. (…) Wem nützt das außerordentliche Wirtschaftswachstum, wenn es sich nicht in Lohnerhöhungen, neuen Arbeitsplätzen und einer Preissenkung der Güter des täglichen Konsums niederschlägt?".(1)

Ausblick

Chávez wird sich auch in nächster Zeit stabil halten können, die bürgerliche Opposition ist zersplittert und nach mehreren schweren Niederlagen zutiefst demoralisiert. All die Angriffe und Versuche der Reaktion, Chávez loszuwerden waren nicht nur nicht erfolgreich, sie trieben die Bewegung und damit auch Chávez weiter nach links, der sich immer positiver über sozialistische Ideen äußerte – zu einem tatsächlichen Bruch mit dem Kapitalismus allerdings nicht bereit ist. (mehr dazu im nächsten Artikel).

Chávez wird weiterhin einige Spielräume haben, der anhaltend hohe Ölpreis garantiert seinen Erfolg. Mit den Mitteln aus den Ölgewinnen werden die Reformen finanziert, die wesentliche Errungenschaften für die Bevölkerung bringen und die Chávez so populär machen: die drastische Senkung der AnalphabetInnenquote, die Möglichkeit zur Schulbildung, die Möglichkeit, günstige Kredite aufzunehmen, die Gesundheitsvorsorge mittels kubanischer ÄrztInnen (Kuba erhält im Gegenzug Erdöl), … Allerdings hängt all das von einem günstigen Ölpreis ab, da Chávez nicht bereit ist, tatsächlich das Eigentum der kapitalistischen Eliten anzugreifen. Wenn der Ölpreis fallen sollte oder die Weltwirtschaft einbricht, wird die Position von Chávez schwierig.

Mittlerweile scheint es, als hätte sich vor allem das internationale Kapital mit Chávez arrangiert – was nicht bedeutet, dass es ihn nicht lieber heute als morgen loswerden würde, denn die Massenbewegung in Venezuela stellt eine potentielle Gefahr dar. Die Gefahr, die für das Kapital und für den Imperialismus von Chávez ausgeht, besteht vor allem darin, dass durch seine Politik die Massenbewegung politisiert wird (und ihn wiederum nach links drückt), er also unberechenbar ist. Eine wesentliche Bedeutung hat auch Chávez´ Rolle als "schlechtes Beispiel" für andere Länder in der Region, in denen die ArbeiterInnenklasse nach dem Vorbild Venezuelas Forderungen an ihre Regierungen stellt, ohne, dass diese dort ebenfalls aus Ölverkäufen gedeckt werden können.

US-Interessen

Vor allem für die in der Region traditionell sehr einflussreichen USA besteht die Gefahr auch in der Bedeutung Venezuelas für die eigene Ölzufuhr. Chávez hatte wiederholt damit gedroht, dass er im Fall einer Invasion oder Blockade die Öllieferungen an die USA einstellen werde, allein diese Drohung stellt für die USA ein unannehmbares Risiko dar. Dementsprechend waren die USA bisher bereits in mehrere Putschversuche gegen Chávez involviert und rüsten auch die Armee und die rechtsextremen Paramilitärs des Nachbarlands Kolumbien mit seiner reaktionären Regierung auf, was Chávez nunmehr damit quittierte, dass er Anfang 2006 den Ankauf von 1 Million Gewehren zur Abwehr eines neuerlichen Putsches oder einer Intervention ankündigte.

"Pendejo"

Auch außenpolitisch ist Chávez ein Stachel im Fleisch der USA, da er immer wieder Partei für jene ergreift, die von den USA aktuell ihrer "Achse des Bösen" zugerechnet werden. Beispielsweise nannte er den amerikanischen Präsidenten George W. Bush wegen seiner Unterstützung des Umsturzes gegen den haitianischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide einen "pendejo" ("Idiot" oder "Arschloch"). Auch die Zusammenarbeit mit Kuba und der Versuch, gemeinsam mit Kuba mit der ALBA eine alternative Freihandelszone aufzubauen, passt den USA keineswegs ins Konzept. Doch Chávez ist in seinen Freundschaften, freundlich formuliert, oft ein wenig wahllos, so findet er auch lobende Worte oder Verbindungen zu Irans fundamentalistischen Präsidenten Ahmadinedschad oder dem russischen Präsidenten und üblen TschetschenInnenschlächter Putin.

Eine weitere Radikalisierung in Lateinamerika könnte in den USA auch die BefürworterInnen einer militärischen Lösung stärken. Bereits jetzt sind gegen Venezuela einige unverhüllte Drohungen ausgesprochen worden und die Aufrüstung von Venezuelas Nachbarn Kolumbien schreitet ungehindert fort. Doch der US-Imperialismus ist derzeit im Irak voll beschäftigt, eine direkte Intervention und damit ein weiterer Krieg, der nur mit Bodentruppen (und gegen motivierte SoldatInnen und Freiwillige) zu führen wäre und in einer längeren Besetzung enden müsste, würde derzeit die Möglichkeiten der USA wohl überdehnen. Es ist auch davon auszugehen, dass derzeit ein Putschversuch in Venezuela oder Bolivien eher zu einer weiteren Radikalisierung führen würde. Der US-Imperialismus (aber nach den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte auch insgesamt die Idee einer Militärdiktatur) ist in Lateinamerika extrem diskreditiert, eine Militärintervention würde unter den gegenwärtigen Bedingungen wohl große Bewegungen auf dem gesamten Kontinent auslösen.

Europa

Hier ist auch die Rolle der EU zu betrachten. Derzeit haben die EU und die USA in Mittelund Südamerika teils gegensätzliche Interessen, die EU versucht, Marktanteile für sich zu gewinnen und Handelsverträge abzuschließen. Doch sollte es eine weitere Radikalisierung geben, wird sich schnell weisen, dass der alte Satz "Pack schlägt sich, Pack verträgt sich" volle Bestätigung findet und die herrschenden Eliten der USA und der EU ihre Zwistigkeiten beilegen werden, um gemeinsam gegen eine revolutionäre Entwicklung des Kontinents vorzugehen versuchen werden – womit wiederum revolutionäre Kräfte in den imperialistischen Zentren gefordert sind, den Kampf gegen den eigenen Imperialismus zu intensivieren. Hier würden Spanien und Portugal durch die mit Südamerika gemeinsamen Sprachen und die kämpferischen Traditionen ihrer eigenen ArbeiterInnenklassen die Rolle eines Brückenkopfes für die Linke in Europa bilden.

Die Ausgangsbedingungen für die Linke sind derzeit relativ günstig. Einheimische autoritäre Lösungen sind weitgehend diskreditiert, der US-Imperialismus ist aktuell kaum interventionsfähig und der EU-Imperialismus hat bisher noch keine Erfahrungen mit Interventionen dieser Größenordung. Ein weiterer Vorteil heute ist, dass die Illusionen in die alten kapitalistischen Staatsapparate und ihre Institutionen viel geringer sind. Allerdings fehlen relevante revolutionäre Organisationen, die die Rolle des Katalysators dieser Prozesse und Stimmungen werden könnten. Sollte es nicht gelingen, solche aufzubauen, und die derzeitige halbherzige Politik von Chávez sich fortsetzen, kann die Stimmung in Apathie und Frustration umschlagen, was wiederum Putsche einheimischer Eliten oder/ und eine militärische Intervention sehr erleichtern würde. Am Schluss könnte Chávez mit der schlechtesten Mischung aller Elemente dastehen: auf der einen Seite eine aggressive KapitalistInnenklasse, durch die Reformen wütend geworden, und auf der anderen Seite eine nicht kampfbereite ArbeiterInnenklasse in Apathie und Depression, weil die Chávez-Reformen sich zu wenig in unmittelbare Lebensverbesserungen niedergeschlagen haben und viele Hoffnungen betrogen worden sind. Dies wiederum könnte die Vorbedingung für einen neuerlichen Putsch oder für den Durchmarsch eines rechten Polit-Caudillos (Führers) werden.

Brechen, nicht biegen!

Die einzige Option, um dies zu verhindern, ist ein tatsächlicher Bruch mit dem kapitalistischen System. Und es gibt in Venezuela starke Strömungen, die für diesen Kurs stehen: Als Reaktion auf die permanenten Boykotte der CTV hatte die Regierung 2003 die Bildung eines neuen Gewerkschaftsdachverbandes angestrengt. Die neue UNT (Unión Nacional de Trabajadores – "Nationale Arbeiter Union") ist eine Koalition mehrerer Fraktionen, unter ihnen die chávezistische Strömung FBT, verschiedene andere reformistische Strömungen und den "Corriente Clasista" (Klassenkämpferischer Flügel). Die Clasistas sind eine Gewerkschaftsströmung, die eine besondere Rolle im Kampf um die Weiterführung des revolutionären Prozesses, gegen reformistische und stalinistische Einflüsse und um die Unabhängigkeit vom chávistischen Staatsapparat führen und derzeit (April 2006) die Mehrheit der UNT-Führung stellen.

Aus diesem Kreis wurde im Juli 2005 auch die PRS (Partido Revolución y Socialismo) gegründet, die sich als in trotzkistischer Tradition stehend versteht. Natürlich haben auch wir zu den Positionen der Clasistas und der PRS kritische Anmerkungen – so, wie es auch innerhalb der Clasistas und der PRS selbst unterschiedliche Herangehensweisen gibt. So würden wir die Notwendigkeit der Überwindung, also Zerschlagung, des bürgerlichen Staatsapparats stärker betonen und die Perspektive einer sozialistischen Rätedemokratie mehr in den Vordergrund rücken als das die PRS tut. Doch das ändert nichts daran, dass wir die Bewegung der Clasistas und die PRS für einen wesentlichen Fortschritt halten, da sie einen Klassenstandpunkt einnehmen und versuchen, unabhängig von der "bolivarischen" Bewegung von Präsident Chávez revolutionäre Strukturen der ArbeiterInnenklasse aufzubauen.

Im Gründungsdokument der PRS heißt es: "Die höchsten Erdöleinnahmen unserer Geschichte in Händen einer Regierung, die die Sympathie der großen Mehrheit unseres Volkes genießt, haben weder ausgereicht, die Probleme des Elends und der Ausgrenzung zu lösen, noch haben sie uns von imperialistischer Unterwerfung und der Macht der großen Monopole befreit. Es gibt keinen Sozialismus ohne Enteignung der großen privaten Produktionsmittel." Dem ist wenig hinzuzufügen.

 

Kritisch betrachtet

Die widersprüchliche Rolle der Chavez-Regierung

In Venezuela fanden und finden heute wesentliche soziale Reformen statt. Natürlich unterstützen und verteidigen wir diese Reformen und wissen sehr genau, auf wessen Seite wir stehen, wenn die Konterrevolution wieder ihr Haupt in Venezuela erhebt. Doch das enthebt uns nicht der Verantwortung, einen unabhängigen Standpunkt zu entwickeln und Prozesse kritisch zu hinterfragen. Chávez wird heute in manchen Teilen der Linken als Heilsbringer und als eine Art Messias gefeiert. Kritik an ihm und an der Entwicklung in Venezuela kommt einer Majestätsbeleidigung gleich. Doch die soziale Wirklichkeit und die Debatten in Venezuela selbst werden in ihrer Breite der Realität des Prozesses weit eher gerecht als dieser Ansatz, der nichts zu einer Klärung der offenen Fragen beiträgt.

Chávez und der revolutionäre Prozess sind insgesamt auf dem Weg nach links. Chávez selbst spielt dabei die Rolle eines Katalysators und Ausdrucks des Wunsches der Massen nach Veränderung. Chávez ist weiterhin sehr widersprüchlich und hat bisher auch keine Maßnahmen gesetzt, die das Kapital substantiell schmerzen. Die Sozialprogramme werden über die Überschüsse der ohnehin staatlichen Ölgesellschaft finanziert, Verstaatlichungen sind bisher die absolute Ausnahme und betrafen nur einzelne kleinere Betriebe.

In der Vergangenheit Mittelund Südamerikas gab es bereits weit radikalere Reformen, die deshalb den Rahmen des Kapitalismus noch lange nicht überschritten haben. In Venezuela selbst wurde 1976 die Ölindustrie verstaatlicht, das gleiche passierte bereits 1938 in Mexiko, der argentinische "Peronismus" verstaatlichte die Zentralbank, die Telefongesellschaft, die Eisenbahnen und weitere Großbetriebe und die chilenische "Volksfront"- Regierung von Allende verstaatlichte Anfang der 70er die Kupferminen, die für Chile eine ähnliche Rolle spielen wie für Venezuela das Öl. Viele dieser Reformen wurden mit radikaler – in Chile auch mit sozialistischer – Rhetorik begleitet.

Auch in Österreich fanden nach 1945 umfangreiche Verstaatlichungen statt, fast die gesamte Schwerindustrie, die Eisenbahnen, das öffentliche Transportwesen, Post- und Telekommunikation, die Strom- und Ölindustrie waren bis in die 90er in staatlicher Hand (und sind es teils heute noch).

Sogar Verstaatlichungen an sich machen also noch keinen Bruch mit dem Kapitalismus, entscheidend ist, die kapitalistische Form des Wirtschaften aufzuheben, in der Arbeiter- Innen ausschließlich als VerkäuferInnen ihrer "Ware" Arbeitskraft auftreten, ohne auf die Produktionsprozesse Einfluss zu haben. Der wesentliche Unterschied zu einer planenden Wirtschaft ist nicht der Grad der Verstaatlichung, sondern die Art der Produktion: wird nach dem Muster des kapitalistischen Marktes und um des Profits Willen produziert oder nach den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Bevölkerung.

Doch die venezuelanische Regierung geht nicht einmal soweit, relevante Teile der Großindustrie oder des Grundbesitzes zu verstaatlichen. Im Gegenteil garantiert sie das Privateigentum, trotz einiger Ankündigungen sind Verstaatlichungen kaum umgesetzt worden, die Industrie, die Banken, die gegen Chávez hetzenden Medien sind weiter in privater Hand und die großen Ländereien gehören weiterhin den Landlords.

Soziale Lage

Auch die soziale Lage ist durchaus diskussionswürdig: wesentliche Teile der 25,7 Millionen EinwohnerInnen des Landes leben nach wie vor unter der Armutsgrenze (die höchsten Zahlen sprechen von 70%). Rund 50% der Bevölkerung arbeiten im informellen Sektor, sind TagelöhnerInnen, StraßenhändlerInnen, … vor allem sie profitieren nicht substantiell von den Reformen. Die staatlichen Pro-Kopf-Ausgaben für Soziales stiegen zwar von 72 (1998) auf 132 US-Dollar (2004), da der Hauptanteil auf das Erziehungswesen entfiel und die Inflation stieg (2004 beispielsweise 25%!), verbesserte sich der von der UNO errechnete "Index der menschlichen Entwicklung" für diesen Zeitraum allerdings nicht.

Auch in der Frage der Landverteilung hat sich bis dato keine Lösung gefunden. Immer noch werden Bauern und Bäuerinnen, die an Landbesetzungen teilnehmen oder in der BäuerInnenbewegung aktiv sind, von Todesschwadronen ermordet, allein seit 2001 sind über 140 BäuerInnen diesem Terror zum Opfer gefallen. Die Täter und vor allem die Hintermänner könnten mit der Frage "Wem nützte dieser Mord?" leicht gefunden werden, doch Fortschritte sind kaum zu verzeichnen. Doch gerade die Frage der Landverteilung ist eine wesentliche Frage für die Zukunft Mittel- und Südamerikas. Riesigen Latifundien stehen Millionen von landlosen LandarbeiterInnen gegenüber. Revolutionäre Politik bedeutet, eine Antwort auf die drängende Frage der Landverteilung zu geben und für die entschädigungslose Enteignung der GroßgrundbesitzerInnen zu kämpfen.

Während die Armen von den Ölprofiten deutlich weniger bekommen als erhofft, konnten und können sich die reichsten Schichten der venezolanischen Bourgeoisie die Hände reiben: Durch den Ölboom wird massiv Geld ins Land geschwemmt, was auch dem privaten Kapital zu Gute kommt, 2005 betrug das Wirtschaftswachstum rund 8%, Banken, Versicherungen und die Industrie wuchsen um bis zu 25%. Die Privatbanken konnten Rekordgewinne verzeichnen (Profitrate: 47%).

Scheinbar hat sich die Mehrheit der KapitalistInnen mit den neuen Zuständen arrangiert und sieht auch keine unmittelbare Gefahr. Ende 2004 erklärte David O'Reilly, Präsident von Chevron Texaco, gegenüber Chávez: "Herr Präsident können sicher sein, dass er auf uns zählen kann, denn wir glauben an Taten, und nicht an Worte". Auch der Regionale Produktionsdirektor von Shell, Frank Gaviano, sah im August 2005 die Situation recht entspannt: "Die Gesellschaft zeigt sich bezüglich Venezuela optimistisch". Und die als Sprachrohr einflussreicher US-amerikanischer KapitalistInnenkreise sicher nicht zu unterschätzende "New York Times" resümierte am 3. November 2005 recht nüchtern: "Bislang hat es keine erkennbare Abwanderung ausländischer Firmen, die in Venezuela Geschäfte machen, gegeben. Banken und Ölgesellschaften machen Rekordprofite dank der Ölpreise, die das Land, das der fünftgrößte Ölexporteur der Welt ist, mit Petrodollars überspülen". (2)

Auch der Staatsapparat funktioniert weiterhin nach kapitalistischem Muster und hat sein grundlegendes Funktionieren nicht verändert: das Gewaltmonopol von Heer und Polizei ist aufrecht (und beim Putsch 2002 zeigte sich, das auf beide kein Verlass ist), die Verfassung und die Gesetzgebung sind bürgerlich. Chávez bildet zwar neue Institutionen, doch die grundlegenden Macht- und Eigentumsverhältnisse bleiben unangetastet.

Widersprüchlichkeiten

Diese Zwiespältigkeiten der venezuelanischen Realität spiegeln sich auch in den Reden von Chávez wieder: Erklärte er zu Beginn noch, einen "dritten Weg" zwischen Sozialismus und Kapitalismus suchen zu wollen, erklärt er nun, dass die Losung "Sozialismus oder Tod" heiße und führt – richtigerweise – aus, dass der Kapitalismus diesen Planeten zerstört und es notwendig wäre, eine weltweite Bewegung für einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" aufzubauen.

Auch in seiner Rede am Weltsozialforum in Porto Allegre 2005 bekannte er, dass er den Sozialismus für die richtige Lösung hält. Doch Chávez ist in seinen Aussagen indifferent: während er dies sagt, spricht er gleichzeitig davon, dass sich die südamerikanischen Länder nicht spalten lassen sollten und erzählt über den gemeinsamen Kampf mit Brasiliens Präsident Lula. In der zitierten Rede am Weltsozialforum lobte er Lula, den sozialdemokratischen Vorsitzenden der PT (Arbeiterpartei), der in Brasilien wegen seines Sozialabbaus, seiner Pensionskürzungen und seiner gebrochenen sozialen Versprechen heftig unter Beschuss steht und gegen den es Massenstreiks gibt. Wörtlich erklärte Chávez vor einem protestierenden Publikum: "Lula ist ein guter Mann und ein Freund von uns".

Letztendlich dürfen uns diese Schwankungen aber nicht verwundern. Natürlich finden wir von Chávez auch Zitate, die sehr zustimmend Marx, Trotzki oder Luxemburg zitierten. Doch Chávez zitiert auch Jesus Christus oder sogar zustimmend einzelne Passagen von rechtsextremen Theoretikern wie Giovanni Papini (was aber keineswegs bedeutet, dass Chávez selbst politisch rechts steht). Er dürfte stattdessen eher willkürlich immer das herausheben, was gerade gut klingt oder passend scheint.

Zur grundlegenden Thematik gibt es aber eine sehr eindeutige Aussage von Chávez: "Ich glaube nicht an die dogmatischen Postulate der marxistischen Revolution. Ich akzeptiere es nicht, dass wir in einer Periode proletarischer Revolutionen leben. All das muss zurückgewiesen werden. Die Wirklichkeit sagt uns das jeden Tag. Versuchen wir, in Venezuela heute das Privateigentum abzuschaffen und eine klassenlose Gesellschaft aufzubauen? Ich denke nicht." Statt dessen geht es laut Chávez darum, "den Armen zu helfen", den Reichtum umzuverteilen und die "Oberklassen" zu zwingen, ihre Steuern zu zahlen.(3)

Chávez und seine Partei, die MVR, stehen für wesentliche Reformen, aber nicht für einen grundlegenden Bruch mit dem Kapitalismus. Über das Ziel einer fortschrittlichen bürgerlichen Demokratie gehen sie derzeit nicht hinaus. Tatsächlich lavieren Chávez und die mit ihm verbündeten Parteien zwischen den Wünschen der Massen auf der einen Seite und ihrem Wunsch, den Rahmen des Kapitalismus nicht zu verlassen andererseits, hin und her.

Die ArbeiterInnenklasse wird heute in ihren substantiellen Interessen von der MVR und den chavistischen Parteien nicht vertreten. Orlando Chirino, ein jahrzehntelanger trotzkistischer Arbeiteraktivist, der einer der Vorsitzenden der UNT und der PRS ist, meint dazu: "Das sind Parteien, die dieselben Traditionen, Methoden und selbst dieselbe Korruption verkörpern wie die traditionellen Parteien der Bourgeoisie, wie die AD oder die COPEI. Die meisten von ihnen haben nichts mit ArbeiterInnen zu tun. Sie sind keine echten VertreterInnen." Die PRS positioniert sich in ihrem Gründungsdokument ebenfalls klar: "Keine der Parteien, die momentan Minister in der Regierung stellt oder über Parlamentsabgeordnete verfügt, hat bewiesen, dass sie bereit wäre, einen ernsthaften Kampf für die 2. Unabhängigkeit vom Imperialismus, für die Beseitigung der sozialen Beziehungen der kapitalistischen Produktion, für sozialistische Besitzverhältnisse und eine gemeinsame Regierung der Arbeiter/innen und des Volkes zu führen."

Der Kern der Debatte sind jedenfalls nicht ausgewählte Zitate von Chávez in die eine oder andere Richtung, der Kern ist ein anderer: Der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" von Chávez ist ein Sozialismus, mit dem die Bosse durchaus leben können, denn es ist einer, der ihnen ihre Betriebe nicht wegnimmt. Das Gründungsdokument der PRS meint dazu sehr klar: "Der Sozialismus ist unvereinbar mit der Vorstellung, dass nationale oder internationale Unternehmer/innen existieren, die sich der Entwicklung des Landes verpflichtet haben. Die Interessen der Ausgebeuteten und der Ausbeuter sind unversöhnlich; auf diesem Wege kommen wir höchstens zu einer Karikatur der Revolution."

Das alles sind keine theoretischen Fragen. Menschen erwarten sich von den geänderten politischen Umständen in Venezuela zurecht eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Offensichtlich gibt es diese keineswegs in erwünschtem Ausmaß. Währenddessen profitierten die privaten Betriebe vom Ölboom. Die großen Betriebe sind weiter in privater Hand und produzieren für den Profit einiger weniger. Wesentliche Teile der Bevölkerung, vor allem jene, die in der Schattenwirtschaft arbeiten, profitieren verhältnismäßig wenig von den Chávez-Reformen und leiden unter der enormen Inflation.

Chávez fordert propagandistisch die Streichung der Auslandsschulden der kolonialisierten Länder, doch Venezuela selbst zahlt brav an die internationalen Banken – mit diesem Geld könnte zahllosen Menschen geholfen werden. Chávez spricht von einer Landreform, gleichzeitig sind die großen Latifundien in ihrer Substanz unangetastet und landlose BäuerInnen werden ermordet. Chávez lässt die PutschistInnen ungeschoren, doch gerade in Mittel- und Südamerika musste die Linke ein falsches Verständnis des Staatsapparates und seiner Funktion oft blutig bezahlen. Zehntausende Tote nach der Niederlage der reformistischen Volksfront-Regierung in Chile im Jahr 1973, die versucht hatte, einen Ausgleich mit dem Staat und den kapitalistischen Eliten zu finden, sprechen eine deutliche Sprache.

Vor allem aber – und das wissen wir aus Österreich sehr gut – können alle erzielten Reformen relativ schnell wieder zurückgenommen werden. Nur ein grundlegender Bruch mit dem Kapitalismus kann diese Reformen langfristig absichern.

Fußnoten:
1) Zit n: Sozialistische Perspektive, Nr. 5
2) Zit n: Sozialistische Perspektive, Nr. 8
3) http://www.counterpunch.org/ tariq08162004.html

 

Mitbestimmung oder Kontrolle?

"Cogestión": Probleme und Chancen der ArbeiterInnenmitverwaltung

Eine wesentliche Debatte in Venezuela bildet jene um die sogenannten "Cogestión", die ArbeiterInnenmitverwaltung. Die Cogestión bedeutet die Mitgestaltung der Belegschaft bei der Führung des Betriebes und wird mittlerweile in einer ganzen Reihe von Betrieben angewandt. Ein sehr wichtiger Schritt dabei war die Verstaatlichung einzelner Betriebe, für die Zukunft schließt Chávez weitere Privatisierung aus und überlegt künftige Verstaatlichungen (betont allerdings gleichzeitig, dass in "Einzelfällen" Privatisierungen weiterhin möglich wären und hat es bis dato bei der Ankündung von Verstaatlichungen belassen). Es dürfte heute allerdings sehr verschiedene Fälle geben, die alle unter dem Titel der Cogestión laufen.

Eine gebräuchliche Verwendung für Cogestión ist, den EigentümerInnen maroder Unternehmen Kredite für eine Umschuldung zu gewähren. Dies geht einher mit der Übernahme von Aktien durch die Belegschaft und eventuell der mehrheitlichen Beteiligung des Staates an diesen Unternehmen. Die Clasistas, der klassenkämpferische Gewerkschaftsflügel, kritisieren an diesem Modell zurecht, dass es dazu führen kann (und in der Praxis auch führt), dass individuelle Gruppen von ArbeiterInnen dann die neuen Bosse werden, wie es laut Clasistas etwa im Stahlwerk Sidor passiert. Orlando Chirino erklärt: "In diesem Betrieb wird am Ende der Geschäftsperiode der Profit an die ArbeiterInnen verteilt, da diese gleichzeitig auch die TeilhaberInnen sind. Dies ist eine Beleidigung für den Rest der ArbeiterInnen im Land."

Eine weitere Verwendung des Wortes steht für die Verstaatlichung des Betriebes. Die zwei Beispiele dafür sind die Papierfabrik Venepal (heute Invepal) und die Ventilfabrik Inveval. Vor allem Invepal wird dabei in Teilen der europäischen Linken hochgelobt, tatsächlich gab es aber innerhalb des Betriebes und in der venezuelanischen Gewerkschaftsbewegung sehr kritische Anmerkungen, da bei Invepal nach der Verstaatlichung die Gewerkschaftsstrukturen aufgelöst wurden und die Gewerkschaftsbosse sich teilweise mit dem Management verbündet hatten. Als daraufhin im November 2005 die ArbeiterInnen der Fabrik mit 260 gegen 20 Stimmen die alte Gewerkschaftsführung abwählten, wurde diese Entscheidung bis jetzt (Stand: März 2006) von der Regierung nicht anerkannt.

Fortschrittlich

Eine dritte Verwendung des Begriff findet sich in bereits seit längerem verstaatlichten Betrieben wie dem staatlichen Aluminiumwerk Alcasa, wo ArbeiterInnenversammlungen die ManagerInnen für jede Abteilung wählen, die jederzeit abwählbar sind und es generell wesentliche Elemente der Mitbestimmung gibt.

Schlussendlich werden unter dem Titel der Cogestión auch noch verschiedenste Erfahrungen in den zahlreichen besetzten Betrieben in Venezuela (die von Chávez die Verstaatlichung ihrer Betriebe verlangen) zusammengefasst.

Tatsächlich ist die Cogestión zweifellos etwas fortschrittliches. Sie ist entstanden unter dem Druck der ArbeiterInnenklasse und stellt in vielen Betrieben die Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln. Gleichzeitig vermittelt sie den ArbeiterInnen Erfahrungen und ein Gefühl für die eigenen Möglichkeiten und die eigene Stärke.

Dennoch sollten die Probleme der Cogestión nicht übersehen werden. Sozialistische Inseln können im Kapitalismus niemals funktionieren, denn solange die verstaatlichten Betriebe mit solchen der Privatwirtschaft, die ihre ArbeiterInnen ausbeuten, konkurrieren müssen, werden sie sich immer selbst den Wirtschaftsregeln des Kapitalismus unterwerfen müssen. Die österreichischen Erfahrungen des "Roten Wien", aber auch des Konsum und anderer Betriebe sind ein gutes Beispiel dafür. Es ist auch hoch problematisch, wenn ArbeiterInnen selbst AktionärInnen werden und so selbst Unternehmer- Innen werden, auf einmal mit ihren Bossen (scheinbar) im selben Boot sitzen.

Die Cogestión ist in vielen Betrieben eine Form der Doppelherrschaft zwischen den alten UnternehmerInnen auf der einen Seite und den ArbeiterInnen auf der anderen Seite. Sie wirft gute und wichtige Fragen auf, doch sie selbst ist nicht die Antwort. Auch die Clasistas und die Mehrheit der UNT unterstützen die Cogestión, sehen aber gleichzeitig die Probleme. Sie stellten auch fest, dass für sie richtig verstandene, also "revolutionäre Cogestión" nichts zu tun hat "mit dem System der Klassenzusammenarbeit in anderen Ländern", also etwa wie in Österreich. Orlando Chirino erklärt: "Unserer Ansicht nach ist Cogestión, obwohl es im Rahmen des kapitalistischen Systems entstanden ist, eine fortschrittliche Entwicklung. Natürlich ist es nicht das gleiche wie Sozialismus, aber es werden viele wichtige Fragen aufgeworfen. Eine davon ist die Frage der Doppelherrschaft sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor."

Sozialismus!

Im Februar 2006 wurde eine Revolutionäre Front der ArbeiterInnen von Betrieben, die besetzt sind oder unter Cogestión stehen, gegründet. In ihrem Gründungsmanifest erklärt die Front: "Im Kapitalismus können die Menschen in Venezuela nur Elend, Armut und imperialistische Ausbeutung erfahren." Die Probleme der Ökonomie könnten nur durch "demokratische Planung der nationalen Ökonomie" gelöst werden."

Schlussendlich erklärt das Manifest: "Die Zukunft der bolivarischen Revolution liegt im Sozialismus, durch die Enteignung der Industrie und der Banken unter der Kontrolle der ArbeiterInnen und der KonsumentInnen." Und nur so können die aufgeworfenen Fragen auch beantwortet werden.