Analyse des islamischen Fundamentalismus

Wenn heute von Fundamentalismus die Rede ist, so geht es fast immer um islamische TerroristInnen, die sich mittlerweile in allen Teilen der Welt in die Luft sprengen. Tatsächlich aber wurde der Begriff Fundamentalismus ursprünglich im Zusammenhang mit dem US-amerikanischem Protestantismus geprägt. Im frühen 20. Jahrhundert stand er für eine Allianz orthodoxer protestantischer Gruppen. Diese sahen die Bezeichnung "Fundamentalismus" dabei nicht unbedingt als etwas Negatives, schließlich berufen sie sich auf die Bibel als Fundament. Fundamentalistische Strömungen gibt es in allen Religionen. Gemein ist ihnen stets eine spezifisch religiöse Lebensführung, die sämtliche Lebensbereiche umfasst, die Idealisierung patriarchaler Autorität und Moral sowie eine zumeist klassenübergreifende soziale Zusammensetzung.

Der moderne islamische Fundamentalismus (oft auch als "Islamismus" bezeichnet(1)) entwickelte sich in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ein dabei zentrales Land war Ägypten, wo 1928 unter Führung von Hasan al-Banná die Muslimbruderschaft gegründet wurde – eine klar politische Formation die auch sehr stark im Sozialbereich tätig war. Ende der 40er Jahre waren die Muslimbrüder – die in den 30ern übrigens von den Nazis als Opposition zum britischen Imperialismus in Ägypten finanziell und organisatorisch unterstützt worden waren – bereits eine riesige Massenbewegung mit Ablegern im Sudan, in Syrien und Palästina. Eines ihrer wichtigsten Mitglieder war Sayyid Qutb, der, mit seinen hauptsächlich aus dem Gefängnis heraus verfassten Schriften, zum zentralen Theoretiker des islamischen Fundamentalismus avancierte und aufgrund seiner Hinrichtung 1966 bis heute als Märtyrer gilt.

Als zweiter wichtiger Vordenker gilt der Pakistani Sayyid Abu l-A'la Maududi. Er gründete 1941 die islamisch-fundamentalistische Kaderpartei Jama'at-e islami, welche in weiterer Folge immer wieder Einfluss auf die herrschende Politik Pakistans nehmen sollte. Ihre Theorien können stellvertretend für den modernen islamischen Fundamentalismus gesehen werden. Gott ist laut Maududi souverän, Menschen dürften sich demzufolge nach keine eigenen Gesetze machen. Alles eine Sache der Interpretation: Denn die Scharia – das "islamische Gesetzeswerk" – ist auch nur Ergebnis juristischer Auslegung von Koran und Sunna aus dem 7., 8., und 9. Jahrhundert. Sie umfasst von Bekleidungsvorschriften (besonders für die Frau) über Ehe- und Kriegsrecht bis hin zu Steinigung und Enthauptung lauter menschengemachte Regelungen. Ginge es nach islamischen FundamentalistInnen, so müsste die Scharia praktisch überall im Rahmen von "Gottesstaaten" umgesetzt werden.

Aufstieg

Wie aber konnte der islamische Fundamentalismus so stark werden und eine derartige Ausstrahlungskraft für Millionen Menschen weltweit gewinnen? Ein wesentlicher Grund dafür ist das Scheitern der bürgerlich-nationalen Befreiungsbewegungen im Trikont(2), speziell in den arabischen Staaten (Nasserismus in Ägypten, PLO in Israel/Palästina, FLN in Algerien, Baath-Partei im Irak und in Syrien …). Diese politischen Formationen waren klassenübergreifende "Volksfronten", d.h. sie umfassten auch Teile des KleinbürgerInnentums und der KapitalistInnen. Oftmals pflegten sie eine sozialistische Rhetorik und wurden durch ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes antiimperialistisches Selbstverständnis geeint. Doch schon aus ihrer sozialen Zusammensetzung heraus konnten diese Bewegungen nicht antikapitalistisch ausgerichtet sein und schafften deshalb auch keine grundlegenden sozialen Verbesserungen.

Da in vielen arabischen Staaten eine starke antikapitalistische Linke fehlte, oder sagen wir besser: blutig vernichtet worden war, konnte der islamische Fundamentalismus dieses von den gescheiterten bürgerlich-nationalen Bewegungen hinterlassene politische Vakuum füllen (wie etwa im Irak, wo die über 100.000 Mitglieder fassende KP von Saddam Husseins Baath Partei völlig aufgerieben wurde. Gleichzeitig waren die USA und Frankreich die besten Freunde der irakischen Diktatur und lieferten Waffen). Auch der Fundamentalismus machte sich den "Antiimperialismus" und eine gewisse Sozialrhetorik zu eigen. Andererseits aber wurde der Fundamentalismus auch durch das aktive Eingreifen des Imperialismus gefördert (siehe Kasten: Die USA und die Taliban).

15 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges wird nun der islamische Fundamentalismus, oder oft gar nur der Islam, zum neuen Hauptfeind von Marktwirtschaft, bürgerlicher Demokratie und "westlicher Zivilisation" hochstilisiert. Hier ist in mehrerlei Hinsicht Vorsicht geboten. Erstens gibt es eine lange Tradition der Zusammenarbeit zwischen dem Imperialismus und diversen islamisch-fundamentalistischen Regimes. Das erdölreiche Saudi-Arabien etwa, wo in den 90er Jahren US-amerikanische Truppen installiert waren und das sich auch heute noch als williger Lakai des "Westens" gibt. Der angebliche "Krieg gegen den Terror" erweist sich an dieser Stelle angesichts des unglaublichen saudi-arabischen Staatsterrors (z.B. Todesstrafe für Homosexuelle) als verlogene Propaganda. Zweitens sind die islamischen FundamentalistInnen nur bedingt FeindInnen der "westlichen Kultur", da sie zwar einige ihrer Aspekte ablehnen, andere, etwa die kapitalistische Systematik oder die moderne Technik durchaus annehmen und nutzen.

Zusammensetzung

Betrachten wir an dieser Stelle die soziale Zusammensetzung des islamischen Fundamentalismus. Nach den Anschlägen des 11. September wurde bekannt, dass die meisten der Attentäter aus reichen, bürgerlichen Haushalten stammten. Vor allem die führenden Kader islamisch-fundamentalistischer Organisationen kommen fast ausschließlich aus höheren Schichten. Osama Bin-Laden, Spross einer saudischen Milliardärs-Dynastie, ist das bekannteste Beispiel.

Allerdings hat diese Strömung in traditionell islamisch dominierten Ländern auch unter den verarmten Massen einerseits, und dem, durch die Umwälzung vorkapitalistischer Produktionsverhältnisse deklassierten KleinbürgerInnentum (HandwerkerInnen, kleine Gewerbetreibende, etc.) andererseits, viel Rückhalt. Wenig Anhang hat der politische Islam hingegen unter IndustriearbeiterInnen, die, in jenen Ländern in denen das möglich ist, zumeist in ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften organisiert sind. Denn in zahlreichen arabischen Ländern bildeten sich im Zuge der Industrialisierung (v.a. der aufkommenden Ölindustrie) große ArbeiterInnenbewegungen. Diese werden und wurden vom islamischen Fundamentalismus wiederum heftig bekämpft.

In jüngster Zeit werden islamisch-fundamentalistische Strömungen häufig mit dem klassischen europäischen Faschismus verglichen. Unsägliche Begrifflichkeiten wie "Islamofaschismus" machen die Runde. Eine US-amerikanische Zeitung war sich nicht zu blöd, den Anschlag auf das World Trade Center als "Freiluft-KZ" zu bezeichnen. Und die bürgerliche Feministin Alice Schwarzer hält die Fundis für "noch gefährlicher als die Nazis, weil sie wirklich im Weltmaßstab operieren."(3) Ohne uns jetzt mit dem offensichtlich mangelhaften Geschichtswissen von Frau Schwarzer auseinander zusetzen, wollen wir betonen, dass der Begriff Faschismus nicht inflationär und für alles, was uns nicht gefällt, verwendet werden sollte.(4)

Trotzdem wollen wir die Gemeinsamkeiten beider Strömungen nicht leugnen, sondern herausarbeiten, um die Unterschiede verständlich zu machen. Natürlich teilen beide verschiedene Aspekte wie autoritäre, patriarchale Herrschaftsformen oder die extreme Ungleichbehandlung der Geschlechter. Gleichzeitig aber ist der islamische Fundamentalismus viel irrationaler als der europäischer Faschismus, welcher als die konsequente Weiterführung eines aggressiven Imperialismus betrachtet werden kann. Die historische Mission des Faschismus war es, die damals starke ArbeiterInnenbewegung zu zerschlagen um das krisengeschüttelte kapitalistische System am Leben zu erhalten.(5) In Italien z.B. war 1919 eine sozialistische Revolution zu jedem Zeitpunkt möglich – die Machtergreifung Mussolinis 1922, der von zahlreichen italienischen KapitalistInnen unterstützt wurde, war eine direkte Reaktion darauf.

Es kann aber auch vorkommen, dass in einem bereits (zumindestens einigermaßen) industrialisierten Land eine islamisch-fundamentalistische Massenbewegung mit sozialer Basis v.a. im KleinbürgerInnentum und den Arbeitslosen und Armen als Rammbock gegen eine starke, möglicherweise revolutionär gesinnte ArbeiterInnenbewegung eingesetzt wird, wie dies etwa 1979 im Iran der Fall war. Die Parallelen zum Faschismus sind hier gegeben.

Der islamische Fundamentalismus ist jedenfalls eine streng reaktionäre Bewegung, der wir als fortschrittlich denkende Menschen in kompromissloser Opposition gegenüber stehen. Gleichzeitig dürfen wir uns nicht vor den Karren von Konservativen, neuen Rechtsextremen, KatholikInnen oder "liberalen" PolitikerInnen spannen lassen, die den Islam zur größten Gefahr für die Menschheit auserkoren haben (siehe Kasten: Islamophobie). Denn in Ländern wie Österreich oder den USA gilt es zu erst einmal gegen den christlichen Fundamentalismus und den heimischen Imperialismus aufzutreten (siehe Kasten: Christlicher Fundamentalismus) und MuslimInnen gegen diverse reaktionäre Angriffe zu verteidigen. "Die Politik, worauf es ankommt, muss eine proletarische Politik sein" wusste schon Friedrich Engels. Denn um wirklich effektiv gegen den kapitalistischen Wahnsinn und imperialistische Kriege und für eine friedliche und soziale Zukunft kämpfen zu können, müssen wir uns eigenständig organisieren und versuchen, unterdrückte Menschen, die bisher in der Religion ihr Heil gesucht haben, auf unsere Seite zu ziehen. Denn die Religion und damit auch ihre fundamentalistische Auslegung ist "der Geist geistloser Zustände" (Marx) und nur der Kampf gegen Armut und Unterdrückung und für eine menschengerechte, sozialistische Gesellschaft kann FundamentalistInnen ein für alle Mal das Wasser abgraben.

Fußnoten:

(1) Die Verwendung dieses – relativ neuen – Begriffes lehnen wir ab. Indem aus der Bezeichnung der Religion, nämlich Islam, Islamismus wird, bringen wir den Islam direkt in Verbindung mit einem anderen Wort, dem Fundamentalismus. Das Wort ist also bereits negativ besetzt. Für den katholischen Fundamentalismus müsste es demnach schon sehr lange das Wort Katholizismusmus geben – tut es aber nicht.
(2) Mit Trikont (hergeleitet aus Drei Kontinente) werden die Kontinente Asien, Lateinamerika und Afrika bezeichnet. Im engeren Sinn sind damit die ärmeren Staaten der Welt gemeint.
(3) Schweizer Zeitung "Sonntagsblick", 14. November 2004
(4) Auch die Bezeichnung faschistisch für rechtsextreme Parteien wie die FPÖ ist schlicht falsch und eine schwere Verharmlosung des tatsächlichen Faschismus.
(5) Mehr dazu in: "Was ist Faschismus", MR 28/04, www.sozialismus.at

Die USA und die Taliban

Nachdem 1978 der Widerstand gegen die stalinistische "Demokratische Volkspartei Afghanistans", die eine fortschrittliche Politik (Bildungsprogramme, Bodenreform, Säkularisierung, Befreiung der Frau, etc.) betrieb, in einen BürgerInnenkrieg ausgeartet war, marschierten sowjetische Truppen im Land ein. Neben Saudi-Arabien und Pakistan erhielten die sogenannten Mudschaheddin (arabisch für "diejenigen, die den heiligen Kampf betreiben") von den USA finanzielle und organisatorisch-logistische Unterstützung gegen die Rote Armee nicht nur 6 Mrd. US-Dollar, auch Boden-Luft-Raketen wechselten die BesitzerInnen, während im CIA-Trainingslager Williams-burg eifrig islamische Gotteskrieger ausgebildet wurden.

Nach dem Abzug der UdSSR 1988/89 und nach der Niederlage des stalinistischen Nadji-bullah-Regimes 1992 entwickelte sich der Konflikt zu einem inner-fundamentalistischen BürgerInnenkrieg.

Scharia stört nicht

"Ein bisschen Scharia stört uns nicht, solange unsere Interessen gesichert sind" meinte ein führender US-Diplomat. Und so erhielten die 1996 aus dem BürgerInnenkrieg siegreich hervorgegangenen Taliban insgesamt 450 Mio. US-Dollar an Unterstützung, auch wenn sie sich in weiterer Folge nicht als verlässliche Partner erweisen sollten. Die nach 1989 in ihre Heimatländer zurückgekehrten Afghanistan-Kämpfer wurden in diesen Staaten hingegen zu Keimzellen des islamischen Fundamentalismus (z.B. in Algerien).

Quelle: AGM: "Der Westen und der Islamismus", zu finden unter www.agmarxismus.net

Islamophobie und Rassismus

Mit Islamophobie wird eine Form der Fremdenangst bezeichnet, die sich speziell gegen Muslime oder gegen den Islam richtet. Zu einem Aufflammen islamophober Handlungen und Äußerungen kam es unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September (und wieder verstärkt nach jenen in Madrid und London). Sofort begannen bürgerliche Medien und Parteien, gegen den Islam zu hetzen und schürten damit Misstrauen und Vorurteile innerhalb der Bevölkerung in Verbindung mit der Angst vor dem "internationalen Terror".

Die Darstellung einer neuen Bedrohung "von innen", die den Anschein gibt, überall und zu jeder Zeit in die Luft gesprengt werden zu können, ist in Wirklichkeit völlig irrational. Die Gefahr, von einem Auto überrollt zu werden, ist unendlich höher und trotzdem greifen die Herrschenden dieses Problem nicht in solcher Intensität auf. Kein Wunder, denn ist die Bevölkerung erst in Angst und Schrecken versetzt, fällt es leicht, vermehrt staatliche Repression und Überwachung (z.B. sogenannte biometrische Daten wie Fingerabdrücke im Reisepass) durchzusetzen und die ArbeiterInnenklasse entlang ethnischer und religiöser Linien zu spalten. Tatsächlich aber ist der Anteil radikal islamisch-fundamentalistischer AktivistInnen unter den Muslimen überaus gering. Laut dem deutschen Verfassungsschutz wären dies in der Bundesrepublik etwa 1%.

Doch gerade Rassismus und Islamophobie sind ein nicht unwesentlicher Mitgrund für das Erstarken des islamischen Fundamentalismus. Bedeutet er doch eine Rückbesinnung auf die vermeintliche eigene Kultur und die Verteidigung der "eigenen" Werte – attraktiv für immigrierte Menschen, die hierzulande nur Repression und Ausgrenzung zu spüren bekommen. So ist bemerkbar, dass in Bezug auf Kultur und Religion der Anteil der Konservativen bei den MigrantInnen höher ist, als der in der Bevölkerung in den Herkunftsländern. Das gilt auch für die zweite und dritte Generation der EinwandererInnen.

Islamophobie kann nicht nur plump rassistisch, sondern auch scheinbar liberal-intellektuell in Erscheinung treten. Also z.B. als Forderung nach einem Kopftuchverbot für muslimische Frauen.1 Aber der Ruf nach einem Eingreifen des Staats zur Durchsetzung "westlicher Werte" (Demokratie, Freiheit, Menschenrechte …) ist falsch. Denn durch seine rassistischen Gesetze treibt der bürgerliche Staat viele muslimische Frauen noch weiter in die Abhängigkeit ihrer Männer. Mit dem offiziellen Status als "Angehörige" eingewandert, dürfen sie hier nicht arbeiten und bleiben so das ewige Anhängsel ihrer Patriarchen.

1) Mehr dazu in:
Viel Zoff um den Stoff
Zur Debatte um das Kopftuchverbot (MR 28/04)

Christlicher Fundamentalismus

Der Einfluss der katholischen Kirche auf die Moral- und Wertvorstellungen unserer Gesellschaft, das gesamte öffentliche Leben, ist unschwer zu dementieren. Dabei wird die katholische Kirche von allen SteuerzahlerInnen (also auch von denen, die aus der Kirche ausgetreten sind) subventioniert. Allgemeine Steuermittel erhalten den kirchlichen Religionsunterricht an staatlichen Schulen, die Priester- und TheologInnenausbildung an den Universitäten, die "kirchliche Seelsorge" z.B. beim Militär und in Gefängnissen, kirchliche Sendungen im öffentlichen Rundfunk und vieles mehr.

Weiters gehen Subventionen an von Kirchen betriebene Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Altenheime, … Dazu kommen die Mittel aus der Kirchensteuer, die von allen Menschen geleistet wird, die durch ihre Zwangstaufe der katholischen Kirche beigetreten wurden.

Opus Dei

Der Begriff des christlichen Fundamentalismus kann an Beispielen greifbar werden: sei es die Tatsache, dass extrem rechte bis offen faschistische Gruppen wie Opus Dei (wo Papst Benedikt XVI. Ehrenmitglied ist), Opus Angelorum oder die Priesterbruderschaften St. Petrus und St. Pius X. immer mehr Einfluss gewinnen, sei es der Versuch, den christlichen Glauben in die Verfassung aufzunehmen oder der Kampf gegen die Evolutionstheorie, der sich in 2 US-Bundesstaaten bereits im Verbot äußert, sie im Unterricht zu verbreiten (und durch den Kreationismus, die Lehre von Adam und Eva, ersetzt wird).