Krisenherd Tschetschenien – Zwischen Separatismus, Erdöl und Scharia

Seit Monaten sind Berichte über Terroranschläge in Russland und über den bereits Jahre andauernden Krieg in Tschetschenien fester Bestandteil der weltweiten Medienberichterstattung. Die TäterInnen sind schnell gefunden: "Schwarze Witwen" im Auftrag der Al-Kaida sollen Russland in Angst und Schrecken versetzen. Die wahren Hintergründe des Konflikts im Kaukasus werden aber ausgeblendet … Geiselnahme in einem Moskauer Theater, zwei Selbstmordattentate in russischen Flugzeugen mit dutzenden Toten, hunderte tote Menschen bei einer Geiselnahme in einer Schule in Inguschetien (Südrussland),…

Russland soll wiederholt unschuldig Opfer des internationalen Terrors geworden sein. Russlands Präsident, der ehemalige KP-Apparatschick Wladimir Putin, sieht sich den "Barbaren" (Zitat eines russischen Regierungsmitglieds) schutzlos ausgeliefert und beschließt, unter dem Banner "Russland gegen den Terrorismus!" eine Großdemonstration mit hundertausenden TeilnehmerInnen in Moskau zu veranstalten. Mit Hilfe der Gewerkschaften schürt er den russischen Nationalismus und treibt die Spaltung der russischen ArbeiterInnenklasse voran. "Der Terror macht nun vor niemanden mehr halt!", verkünden die Mainstream-Medien in Unterstützung für Putin. Sie vergessen dabei aber, den wahren Schuldigen zu kritisieren: den russischen Staat!

Unterdrückung im Zarismus …

Seit jeher bezeichnen sich die EinwohnerInnen des heutigen Tschetschenien als Volk der Nochtscho. Ihr Land, das im großen und ganzen das Gebiet des heutigen Tschetscheniens umfasst, nennen sie Itschkerija. Dieses war seit Jahrhunderten ein Gebiet, das von fremden HerrscherInnen besetzt war, die Nochtscho waren dementsprechend immer ein unterdrücktes Volk. Darin wurzelt auch ihr ausgeprägter Nationalismus und der Wunsch nach nationaler Autonomie. Sprich: Ein unabhängiger tschetschenischer Nationalstaat.

Im Jahr 1864 wurden die nordkaukasischen Völker (Nochtscho, TscherkesInnen, Osset-Innen, InguschInnen, Balkar-Innen und DagestanerInnen) erstmals blutig unterworfen. Sie wurden der zaristischen Herrschaft unterstellt und an das damalige feudale Russland angeschlossen. Die Bevölkerung wurde gnadenlos unterdrückt und vertrieben, die Bodenschätze wurden ausgebeutet.

Nach Jahrzehnten der Unterdrückung gab die Machtergreifung der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution 1917 den nationalen Minderheiten große Hoffnung. Die Revolution gab vielen von ihnen den Glauben an ein Leben in Demokratie, nationaler Selbstbestimmung und Anerkennung. Diese Hoffnungen hielten aber nur kurz, sie mussten bald der Realität nach der Machtergreifung Josef Stalins weichen.

… und im Stalinismus

Stalins Politik zur nationalen Frage verhinderte jegliche politische und demokratische Unabhängigkeit für die einzelnen sowjetischen Republiken. Ab Mitte der 1930er bis zu Stalins Tod verfolgte die UdSSR (Union der sozialistischen Sowjetrepubliken) einen extremen großrussischen Chauvinismus, (der auch nach Stalins Ableben, allerdings in abgemilderter Form fortgesetzt wurde).

Die unterschiedlichen nicht-russischen Völker, Nationalitäten und Minderheiten wurden unter Stalin verfolgt und unterdrückt. Einer der Höhepunkte dieser Welle war die Verschleppung von Millionen von Menschen (u.a. 400.000 TschetschenInnen) in die Steppen von Kasachstan und Sibirien. Sie alle waren Angehörige verschiedener Völker, die versuchten, während der Kriegswirren mit dem faschistischen Deutschland ihre Unabhängigkeit zu erkämpfen. Daraufhin wurden Volksgruppen wie die KrimtartarInnen, Wolgadeutschen, MeschkitInnen, InguschInnen oder TschetschenInnen als "konterrevolutionäre Verräter" denunziert und verschleppt.

Zusammenbruch der UdSSR

Nachdem Chruschtschow 1958 u.a. den TschetschenInnen erlaubte, zurückzukehren und sie mit marginalen Rechten ausgestattet wurden, gab es lange Zeit keine wesentlichen Unabhängigkeitsbewegungen. Erst der Zusammenbruch der Sowjetunion gab den BewohnerInnen neuen Auftrieb und abermalige Hoffnung auf ein Ende der nationalen Unterdrückung und Ausbeutung. 1991 erklärte der ehemalige sowjetische Luftwaffengeneral Dudajew die Unabhängigkeit Tschetscheniens.

Der Versuch der Erlangung der Unabhängigkeit Tschetscheniens war ungleich schwieriger, als der anderer Gebiete der UdSSR. Die Sowjetunion bestand aus 15 Republiken, die alle in den Jahren 1989 und 1990 ihre Unabhängigkeit erklärten. Für Tschetschenien gab es im Vergleich zu anderen Kaukasusprovinzen wie Georgien, Armenien oder Aserbaidschan jedoch zwei essentielle Probleme: Einerseits fand die Ausrufung der unabhängigen Republik Tschetschenien im Jahr 1991 statt, als sich die politische Situation in Russland bereits wieder großteils stabilisiert hatte, andererseits war Tschetschenien nie eine formal unabhängige Sowjetrepublik gewesen, sondern immer ein Teil Russlands.

Die Stabilität im Kaukasus war und ist für das Bestehen Russlands enorm wichtig und so begann der damalige russische Präsident (und ebenfalls ehemalige KP-Spitzenbürokrat) Boris Jelzin 1994 den ersten Krieg gegen die aufständische Republik. Der Angriff sollte andere Provinzen abschrecken, denn "russische Soldaten sind in Tschetschenien, um die russische Einheit zu verteidigen. Kein einziges Territorium hat das Recht, sich von Russland zu lösen", so Jelzin.

Doch der Angriff hatte auch andere Gründe: so wollte Jelzin, nachdem der US- und EU-Einfluss am Balkan ständig stieg und schließlich mit Jugoslawien ein Staat mit einem Naheverhältnis zu Russland bombardiert wurde, nicht die nächste Einflusssphäre an den "Westen" verlieren. Tschetschenien hat aber auch enorme ökonomische Bedeutung für Russland. So besitzt es, mit Ausnahme eines kleinen Ölfeldes um die Hauptstadt Grosny, zwar keine Ölreserven, aber es hat große Raffineriekomplexe, die u.a. Flugzeugtreibstoff für Russland produzieren. Vor allem aber quert die einzige Pipeline, die Russland mit den riesigen Ölfeldern des kaspischen Meers verbindet das Land. Die Ölfelder in dieser Region zählen heute zu den größten unerschlossenen Energiequellen der Welt.1 Dementsprechend wichtig ist es für Russlands Stellung in der Weltpolitik, diese Einflusssphäre nicht eben-falls an die USA oder eine andere Macht zu verlieren.

Internationalismus

Ähnlich wie in der restlichen ehemaligen Sowjetunion konnten sich in Tschetschenien Anfang der 1990er eine Handvoll ehemalige KP-Bürokraten mit Staatsbesitz bereichern, unter ihnen einer der späteren Präsidenten Tschetscheniens, Maschadow. Eine weitere Schlüsselfigur im Kampf gegen die russischen UnterdrückerInnen ist der islamistische Rebellenführer Bassajew, der als Drahtzieher des Terroranschlages auf eine Grundschule im inguschetischen Beslan Anfang September gilt. Diese zwielichtigen Figuren wollen einen Staat im Kaukasus errichten, dessen rechtliche Grundlage die islamische Rechtsordnung, die Scharia, sein soll. Gleichzeitig haben das organisierte Verbrechen, Prostitution, Drogenhandel und Waffenschmuggel Hochkonjunktur, die Inflation wütet, die Arbeitslosigkeit steigt und die Lebenserwartung sinkt. Obwohl die IslamistInnen bei alldem durchaus ihre Hand im Spiel haben, lässt das Wüten der russischen Truppen ihre Agitation auf fruchtbaren Boden fallen.

MarxistInnen sind InternationalistInnen und stehen daher für die Abschaffung aller Grenzen. Dennoch ist es verständlich, wenn gerade unterdrückte Völkergruppen das Recht auf nationale Selbstbestimmung einfordern. Dabei ist aber zu beachten, dass dieses Recht nicht ausschließend wird und selbst wieder nationale Minderheiten schafft oder ausgrenzt (so wie etwa die Unabhängigkeit der baltischen Staaten zur Unterdrückung der bevölkerungsstarken russischen Minderheiten geführt hat).

Es gibt allerdings auch Situationen, wo die Forderung nach dem Recht auf nationale Selbstbestimmung direkt reaktionär ist. So wurde mit der Zerschlagung Jugoslawiens aus dem einst multiethnischen Land eine Reihe von national scharf getrennten Territorien geschaffen, was dem Nationalismus Vorschub geleistet hat.

Der nationale Befreiungskampf kann ein entscheidender Faktor für den Kampf gegen den Kapitalismus werden. Dazu muss er aber in Händen von Gruppen sein, die diesen Kampf auch führen wollen – also keine reaktionären, islamistischen Gruppen. Selbstverständlich unterstützen MarxistInnen das Recht auf Unabhängigkeit, gleichzeitig kämpfen wir aber dafür, dass die Führung der Befreiungsbewegung den IslamistInnen entrissen wird, die Bevölkerung Russlands die demokratischen Grundrechte der TschetschenInnen unterstützt und somit eine internationalistische Perspektive möglich wird.

Die letztendliche Perspektive ist aber klar: es ist natürlich nicht unser primäres Ziel, einen "Fleckerlteppich" voller nationaler Kleinstaaten zu schaffen. Das Ziel kann nur eine Überwindung aller nationaler Grenzen im Zuge einer sozialistischen Umgestaltung sein.

Die Oktoberrevolution und die nationale Frage

Die Oktoberrevolution im Jahr 1917 in Russland und die Machtergreifung der Bolschewiki gaben den nationalen Minderheiten Russlands neue Hoffnung. Die Bolschewiki erkannten, dass die Befreiung der nationalen Minderheiten wesentlich war und ohne deren Unterstützung eine erfolgreiche Revolution unmöglich wäre. Sie stellten die Forderung nach dem "Recht auf Lostrennung bzw. Selbstbestimmung" der verschiedenen nationalen Minderheiten, die vom Zarismus unterdrückt wurden, auf.

Allerdings hatte diese Politik auch schwere Konsequenzen für die junge Sowjetunion, so lösten sich 1917 Finnland und 1918 Polen von Russland. Mit Hilfe Deutschlands siegte die Konterrevolution, mit dem Blut der ArbeiterInnenklasse wurden kapitalistische Nationalstaaten errichtet. Als Konsequenz erklärte Lenin, dass die "Interesse[n an] der Erhaltung der sozialistischen Republik höher stehen, (…) [als] die Frage der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts einiger Nationen [wie Litauen oder Kurland]." Trotzki warnte, dass "ein Volk dem der Sozialismus von außen gegen seinen Willen aufgezwungen wird, nichts anderes als eine Karikatur des Sozialismus darstellen [kann], die unvermeidlich zur bürokratischen Entartung führt."

Lenin verlangte, dass nationale Unabhängigkeitsbestrebungen unterstützt werden müssen, aber immer mit dem Nachsatz, dass "diese Forderung unerfüllbar ohne eine sozialistische Revolution [sei]". Das "Recht auf Selbstbestimmung" wurde aber bald durch das "Recht auf freie Lostrennung" ersetzt, da Selbstbestimmung oft falsch ausgelegt wurde. Denn natürlich wollten die Bolschewiki, dass auch in einem von Russland losgetrennten Staat Proletariat und Bauern/Bäuerinnen gemeinsam weiter für die Errichtung einer sozialistische Gesellschaft kämpfen. Eine Föderation der Sowjetrepubliken sollte die Übergangsform zur sozialistischen Gesellschaft sein.