Nationale Frage und marxistische Theorie, Teil 2 (M 24)

 Die letzten zwanzig Jahren waren weltweit von einem Wiederaufleben nationaler, ethnischer und kultureller Konflikte begleitet. Trotz Globalisierung und Internet und entgegen der Erwartungen auch „linker“ Modernisierungstheoretiker/innen war das imperialistische Weltsystem nicht in der Lage, die Konflikte zwischen den Großmächten auszugleichen und den „verspäteten“ Nationen und ethnischen Gruppen durch kapitalistische Entwicklung einen Ausweg aus Armut und Rückständigkeit zu ermöglichen. Die sogenannten nationalen Befreiungsbewegungen scheiterten an letzterem Anspruch.

Die Folgen dieser ungleichen und kombinierten Entwicklung, wie Leo Trotzki das globale kapitalistische System beschrieb, waren auf der politisch-ideologischen Ebene vielerorts eine Flucht in die jeweiligen vorkapitalistischen ethnisch-kulturellen Traditionen, beispielsweise in den Islamismus oder den Hindu-Chauvinismus. Aber auch die Stärkung von nationalistischen und migrant/inn/en-feindlichen Ressentiments in Westeuropa oder der aggressive Patriotismus in den USA zeigen, dass der Kapitalismus neben der Tendenz zur weltweiten wirtschaftlichen Integration immer wieder nationalen Partikularismus und nationalistischen Hass reproduziert.

Auch die Sowjetunion war nicht zu einer Überwindung der nationalen Feindschaften in der Lage. Vielmehr haben nationale Konflikte wesentlich zu ihrem Zusammenbruch beigetragen. Während Marxist/inn/en heute auf die Bekämpfung einer sich auf Nationalismus stützenden herrschenden Ordnung zurückgeworfen sind, war die die frühe Sowjetunion auch von dem Bemühen von Revolutionär/inn/en geprägt, als regierende, sich auf eine proletarische Revolution stützenden Macht nationale Gegensätze zu überwinden. Auch wenn diese Versuche schließlich von der Bürokratisierung erstickt wurden, so ist es für eine marxistische Positionierung zur nationalen Frage dennoch unerlässlich, sich mit diesem ersten und gleichzeitig riesigen proletarisch-revolutionären „Feldversuch“ zur Lösung dieser Frage eingehend zu beschäftigen.

Nach unserem ersten Band zum Thema Nationale Frage und marxistische Theorie, der sich mit den Positionsentwicklungen der marxistischen „Klassiker“ beschäftigte, legen wir deshalb hier einen zweiten Band vor, der sich mit der sowjetischen Erfahrung auseinandersetzt, mit all ihren positiven Ansätzen, Problemen, Fehlern und schlussendlich ihrem bürokratischen Scheitern. Dieser Marxismus-Band ist mit 640 Seiten der bisher umfangreichste und er besteht aus drei großen Teilen.

Der erste Teil behandelt die Zeit von der Oktoberrevolution bis zur Gründung der UdSSR Ende 1922. Untersucht wird die Konkretisierung der Politik der Selbstbestimmung bis hin zur Lostrennung in den ersten Jahren der Sowjetmacht, die durch jahrelange imperialistische Interventionen und Bürgerkriege erschwert wurde. Diese ersten Erfahrungen, die auch durch Unsicherheiten und Fehler geprägt waren, werden von Manfred Scharinger nicht nur in ihren allgemeinen Zügen aufgearbeitet, sondern auch anhand von Beispielen, besonders anhand der Ukraine und des Kaukasus, aber auch anhand des Baltikums, Zentralasiens und Sibiriens.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit der sowjetischen Nationalitätenpolitik von der Gründung der UdSSR bis zum Beginn der 1930er Jahre. Es geht dabei um den Konflikt zwischen W.I. Lenin und Josef Stalin in der georgischen Frage ebenso wie um die sogenannte Korenisazija ab 1923, die „Verwurzelung“ der Sowjetmacht in den verschiedenen nichtrussischen Nationen. Es wird gezeigt, dass diese Linie zwar gewisse Erfolge brachte, aber gleichzeitig immer stärker von der Bürokratisierung von Staat und Partei überlagert wurde. Behandelt werden auch Stalins Entdeckung von sozialistischen Nationen und die auch immer wieder kritikwürdigen Positionierungen von Trotzki und der Opposition.

Der dritte Teil beschreibt zuerst das Ende der Korenisazija 1934 und die Wende der stalinistischen Bürokratie hin zum russischen Nationalismus 1937/38, der schließlich im Großen Vaterländischen Krieg und danach seinen Höhepunkt erlebt. Eingegangen wird auch auf Trotzkis Einschätzungen der nationalen Frage in der bürokratisierten Sowjetunion, besonders auf seine Forderung nach einer unabhängigen Sowjetukraine 1939/40. Abschließend gibt Scharinger einen Überblick über die sowjetische Nationalitätenpolitik von Nikita Chruschtschow über Leonid Breschnew bis hin zu Michail Gorbatschow und dem Auseinanderfallen der Sowjetunion.

Mit dem vorliegenden zweiten Band ist der theoretische Arbeitsschwerpunkt der AGM zum Thema Nationale Frage und marxistische Theorie aber noch nicht abgeschlossen. An einigen weiteren Aspekten wird gearbeitet. Die eine oder andere Veröffentlichung wird daraus noch hervorgehen.

 

Nationale Frage und marxistische Theorie Teil 2: Die sowjetische Erfahrung
Oktoberrevolution · Bürgerkrieg · Gründung der UdSSR · Bürokratisierung Stalinismus · Zweiter Weltkrieg · Chrustschow · Breschnew · Gorbatschow
Marxismus Nr. 24
Oktober 2004, 646 Seiten A5, 24 Euro
ISBN 3-901831-20-7
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