Der Brite George Orwell gilt nicht nur aufgrund seiner beiden weltberühmten Parabeln "Animal Farm" und "1984" als einer der wichtigsten Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine über 700 gesellschaftskritischen, teils autobiografischen Essays geben ein genaues und klares Bild der politischen Lage der 1930er und 1940er nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Europa und den vom britischen Empire regierten Kolonien.
Der am 25. Juni 1903 in Motihari (Nordost-Indien) als Eric Arthur Blair geborene Sohn eines Kolonialbeamten zog als Einjähriger mit seiner Mutter und seiner Schwester zurück nach England, wo er später dank eines Stipendiums das Elitecollege von Eton besuchen musste. In der Schulzeit erlebte George Orwell die "größte Grausamkeit, die einem Kind angetan werden kann, nämlich, es auf eine Schule unter lauter Kinder zu schicken, die reicher sind als es".
Obwohl seine Eltern ständig mit finanziellen Problemen konfrontiert waren, erzog ihn seine Mutter nach den vornehmen bürgerlichen Werten der Oberschicht: Ehre, anständiges Englisch, Soldatentugend, Patriotismus und Hass gegen die ArbeiterInnenklasse. Seine einzige Zuflucht war die heimliche Dichtung, aber er "bezweifelte nicht die herrschenden Regeln. Wie konnten die Reichen, die Starken, die Eleganten, die Schicken, die Mächtigen Unrecht haben?" Das Dilemma seiner Jugendzeit notierte er 1948 im Krankenhaus in einem "Gedicht über die Klempnerkinder", die Spielkameraden seiner Kindheit: "Wie lange währt das Paradies / … / Ich darf nicht länger mit euch spielen / meine Mutter sagt: Ihr seid gewöhnlich. // … // Doch seit jenem Tag hab ich niemals geliebt / nur solche die mich nicht liebten."
Tage in Burma
Orwells Abschlussnoten reichten für keine großartige Karriere in England und so schloss er sich 1922 der "Indian Imperial Police" in Burma an. Dort, in Mandalay und wenig später im Irawadi-Delta rund um Ragoon, sah er, wie die Menschen zu Gunsten des Wohlstandes der herrschenden Klasse in seinem Heimatland ausgebeutet wurden.
"Unter dem kapitalistischen System müssen, damit in England relativ komfortabel gelebt werden kann, hundert Millionen InderInnen auf dem Existenzminimum vegetieren." Dieses Erlebnis war der erste große Einschnitt in Orwells Leben. Er bemerkte zum ersten Mal "die Existenz einer Arbeiterklasse". "Der Job in Burma gab mir eine Aufschlüsselung über die Natur des Imperialismus." Und er wollte nicht mehr Teil davon sein. Seine Eindrücke von den Jahren bei der Kolonialpolizei in Burma schrieb er später in "Tage in Burma" (1934) oder u.a. in den Essays "A Hangin" (1931) und "Shooting an Elephant" (1936) nieder. Beim ersten Heimaturlaub vom Polizeidienst in Burma 1927 bat er um seine Entlassung, denn "die Gesichter haben mich verfolgt, ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen." Orwell war in Burma ein anderer Mensch geworden. Das einzige Gefühl, das er nun gegenüber dieser Gesellschaft empfand, war Hass.
Von nun an lebt er in den ArbeiterInnenviertel von Paris und London als Hopfenpflücker, Kellner, Hilfslehrer oder Buchhändler. 1928 schrieb er seinen ersten professionellen Artikel für die französische Tageszeitung "Le Monde" über die Zensur in England. In seinem literarischen Debut "Erledigt in Paris und London" (1933) resümierte er die Erfahrungen der Jahre in den Armutsvierteln.
Im Auftrag von Victor Gollancz, seinem Verleger, reiste er ins Revier der arbeitslosen BergarbeiterInnen nach Nordengland. Daraus entstand die Reportage "Der Weg nach Wigan Pier" (1937), eine moralische Kritik an der Mittelschicht. Er schrieb: "Es sei für unsereinen beschämend zuzusehen, wie arme Teufel unter Tag dafür sorgen, dass Sie und ich und der Herausgeber des ‚Times Literary Supplement' und die Schöngeister und der Genosse X, Verfasser des ‚Marxismus für Minderjährige', es ein wenig warm haben."
Gegen Faschismus und Stalinismus
Auch später veröffentlichte er immer wieder Essays über das erschreckende Elend des Industrieproletariats in den europäischen Metropolen, wie etwa 1946 "How the poor Die". Darin beschrieb er seinen Aufenthalt im Armenkrankenhaus "Hospital X" in Paris. Das Hospital X war ein Platz, "an dem Medizinstudenten ihre Kunst lernten, an den Körpern der Armen herumzutesten".
Orwell hatte nun den Imperialismus und das Elend des Proletariats selbst miterlebt. Das nächste einschneidende Erlebnis für ihn und eine ganze Generation von SozialistInnen war der Aufstieg des Faschismus, sein Sieg in Deutschland, Österreich und einer Reihe weiterer Länder. Ende des Jahres 1935 war er in einer großen, ihn selbst zermürbenden Krise. Er konnte keine Lösungen und Gründe für diese "evil time" finden. Als aber 1936 in Spanien faschistische Militärs gegen die Republik putschten, beschloss er, neben weiteren bedeutenden SchriftstellerIn-nen seiner Zeit, wie Heming-way, Auden oder Day Lewis zusammen mit seiner Frau auf Seiten der Spanischen Republik gegen den Faschismus zu kämpfen. Er schloss sich den von StalinistInnen geführten Internationalen Brigaden an.
Schnell erkannte er aber das wahre Gesicht des Stalinismus (Orwell selbst benützte "Kommunismus" und "Stalinismus" gleichwertig und setzte sie in Gegensatz zu den "positiven" Begriffen Sozialismus, Trotzkismus und Anarchismus). Bald schloss er sich den Milizen der POUM, einer mit dem russischen Revolutionär Leo Trotzki sympathisierenden linksoppositionellen Partei, an. In ihrem Dienst wurde er 1937 schwer verletzt. Die POUM wurde bald von den Stalinist-Innen blutig unterdrückt, Orwell und seine Frau konnten nur mit Mühe über die Pyrenäen nach Frankreich flüchten. Noch im selben Jahr brachte er seine Trauer und Wut über den Verrat an der spanischen ArbeiterInnen-klasse mit dem Essay "Spilling the Spanish Beans" erstmals zu Papier. "Der Einfluss der Kommunistischen Partei wächst – offensichtlich wächst – je mehr die kapitalistische Klasse merkt, dass an einem späteren Moment der Kommunismus [Stalinismus] ihr Spiel weiterführen wird." Eine erste Abrechnung mit der KP in Spanien erfolgte ein Jahr später mit der Veröffentlichung des Buches "Homage an Katalonien".
Seine Hauptabrechnung mit dem Stalinismus sollte er allerdings erst später umsetzen. In der "Farm der Tiere" (1945) kämpfen die beiden Schweine Napoleon (Stalin) und Schneeball (Trotzki) nach einer Revolution auf einem Bauernhof um die Vorherrschaft, nachdem der Revolutionsführer, der alte Major (eine kombinierte Marx/Lenin-Gestalt) gestorben ist. Napoleon setzt sich durch, Schneeball muss flüchten und mit dem Sieg Napoleons werden die alten Sitten, die vor der Revolution herrschten, bald wieder Alltag, nun allerdings mit den Schweinen statt den Menschen als neuer herrschender Kaste.
"Totalitarismus"
"Der spanische Bürgerkrieg und andere Events 1936/37 verschoben die Skala und von nun an wusste ich, wo ich stand. Jede Zeile seriöser Arbeit, die ich seit 1936 geschrieben habe, wurde verfasst, direkt oder indirekt, gegen Totalitarismus und für den demokratischen Sozialismus, wie ich ihn verstehe." Sozialismus war für Orwell vor allem anderen eines: Würde. Er kritisierte den Stalinismus, die "von Verantwortung korrumpierte Sozialdemokratie", den Pazifismus, und die "Bubi-Linken in den Londoner Salons (…), welche die Arbeiterklasse kulturell heben wollten". Daneben beschrieb er in "Gedanken über die gemeine Kröte " (1946) die Wünsche, Sehnsüchte und Träume des britischen Proletariats und zeigte den britischen Antisemitismus, insbesondere den der Intelligentia, auf. ("Antisemitism in Britain", 1946)
Doch zeigte sich in dieser Periode auch eine Schwäche Orwells. Immer stärker verglich er den Stalinismus mit dem Kommunismus und begann, beide gleich zu setzen. Allerdings wusste Orwell selbst immer, wo er stand. Sowohl die "Farm der Tiere" wie auch sein Hauptwerk, "1984", sind spezifische Anklagen gegen den Stalinismus. In "1984" (geschrieben 1948, Orwell drehte die letzten beiden Zahlen um) wird sogar die stalinistische Hetze gegen Trotzki (im Buch "Goldstein") nochmals beleuchtet. Die heute oft gehörte Idee, Orwell sei letztlich ein Vertreter der sogenannten "bürgerliche Mitte", der sich gleichermaßen gegen "Links" und "Rechts" gewandt hätte, ist schlicht nicht haltbar.
Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er, wegen den Spätfolgen der Verletzung aus dem spanischem BürgerInnenkrieg, schwerkrank in London. Da-mals erklärte er: "Das einzige, das ich die letzten 10 Jahre [seit 1937, Anm. ] wollte, war politisches Schreiben zu einer Kunst zu machen. Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann vor allem das Recht, anderen das zu sagen, was sie nicht hören wollen. (…) Aber ich könnte weder ein Buch schreiben, noch einen Artikel verfassen, wenn es nicht auch ein künstlerisches Erlebnis wäre." Orwell starb am 21. Jänner 1950 im Alter von 56 Jahren an Tuberkulose. George Orwell verdient vor allem eines: vom kapitalistischen System nicht in einer Form für Dinge missbraucht zu werden, die er so nie gewollt hätte