Fluch der Karibik? – Aufruhr in Haiti

Am 1.1.2004 beging Haiti den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Anfang Februar stand die Staatsgewalt am Rande des Abgrundes. Langsam begannen die traditionellen Kolonialmächte USA und Frankreich, sich Gedanken zu machen, wie es mit dem Land weitergehen könne. Am 29.02. ist Präsident Aristide zurückgetreten. Im Moment scheint nur eines gewiss: Frieden und Demokratie wird es auch in Zukunft nicht geben.

Haiti hat eine Geschichte von 500 Jahren westlicher Intervention, die niemals unblutig verlaufen sind. Als Christoph Kolumbus 1494 auf der von ihm Hispaniola genannten Insel landete, wurde diese von ca. einer Million indigener Taino bevölkert. Zwanzig Jahre später waren nur noch 50.000 am Leben, der Rest wurde durch Zwangsarbeit, Willkür und Krankheit ausgelöscht. Nach diesem Genozid schafften die Kolonialherren SklavInnen aus Westafrika heran, um Zuckerrohr und Kaffee anzubauen. Der östliche Teil der Insel stand unter spanischer Herrschaft und bildet heute die Dominikanische Republik. Der westliche Teil, das heutige Haiti, wurde von Frankreich regiert, dass unglaubliche Gewinne aus seiner Kolonie herauspressen: 1780 stammten über 40% der Zucker- und 60% der weltweiten Kaffeeproduktion aus Haiti.

1791 passierte das für die Weißen Ungeheuerliche: Die Farbigen, welche mittlerweile 95% der Bevölkerung stellten, sammelten sich unter der Führung von Jean-Jacques Dessalines und besiegten die Kolonialherren. 1804 wurde Haiti unabhängig – die Hälfte der Bevölkerung bezahlte dafür mit dem Leben. Mit den einstmals inspirierenden Idealen der Französischen Revolution hatte Dessalines nichts mehr am Hut: Er ließ sich zum König ausrufen, wurde aber schon 1806 ermordet. Haiti, mittlerweile in einen nördlichen und einen südlichen Teil zerfallen, kam auch in den darauf folgenden Jahrzehnten nicht zur Ruhe.

In der Zeit von 1843 bis 1915 wechselte die Regierung nicht weniger als 22 Mal. 1915 bekamen die USA einen Grund, in Haiti einzumarschieren: Guillaume Sam, der damalige Präsident, ließ 167 politische Gefangene hinrichten, woraufhin er vom spontanen Volkszorn getroffen und aus der französischen Botschaft gezerrt wurde. Die Einzelteile des Leichnams wurden auf den darauf folgenden Demonstrationen mitgetragen.

Die Amerikaner zogen sich, nach wachsendem Widerstand, 1934 aus Haiti zurück, nach einer Reihe von Regierungswechseln schaffte es François Duvalier alias "Papa Doc" 1957 als erster, an die Macht zu kommen und sich dort länger zu halten. Taktisch geschickt stützte er sich nicht auf das Militär, sondern gründete seine eigene Privatmiliz, die VSN (Volontaires de la Sécurité Nationale), besser bekannt als Tonton Macoute. Um deren Arbeitsmoral zu heben, ließ sich "Papa Doc" etwas ganz besonderes einfallen: Die Tonton Macoutes bekamen keinen regulären Lohn, sondern durften sich lediglich das Eigentum der von ihnen Ermordeten einverleiben. Die USA stützten diese Diktatur als ein Gegengewicht zum benachbarten stalinistischen Kuba.

Papa Doc und Baby Doc

Nachdem der Papa allerdings nur Präsident auf Lebenszeit war, trat sein Sohn "Baby Doc" (bürgerlich Jean-Claude Duvalier) nach dessen Tod im Jahr 1971 die Nachfolge an. Nach 15 Jahren Schreckensherrschaft musste ihn die U.S.Air Force am 7. Februar 1986 nach Frankreich ausfliegen, wo er vor den Protesten seiner Landsleute sicher war. Nach knapp fünfjähriger Herrschaft einer Militärjunta gab es aufgrund des zunehmenden internationalen Drucks im Dezember 1990 erstmals etwas, das entfernt an freie Wahlen erinnert. Als Gewinner aus dieser Wahl ging Jean-Ber-trand Aristide, genannt Titide, mit über 67% hervor.

Aber auch Aristide, ein linker Befreiungstheologe, der unter anderem in Europa studiert hat, schaffte es nicht, länger an der Macht zu bleiben bzw. auch nur eines der gewaltigen sozialen Probleme des Landes (60% sind AnalphabetInnen und leben von weniger als 1 Dollar am Tag) zu lösen. Nach mehreren Putschversuchen der Duvalieristen (von denen behauptet wird, sie seien mit Unterstützung der Regierung Bush sen. geschehen) wurde Aristide im September 1991 ins Exil nach Venezuela gezwungen. Als Clinton an die Macht kam, emigrierte er in die USA.

Die neue Regierung der USA sah ihre Interessen mit einem stabilen Haiti besser gewahrt. Unter dem Druck der Öffentlichkeit (Clinton hatte Bush sen. im Wahlkampf wegen seiner Politik in Haiti kritisiert), aber auch nicht zuletzt auf Grund der zehntausenden Flüchtlinge, die als "Boat People" die USA erreichten, zeigte das Lobbying Aristides erste Erfolge: Die USA zwangen die Militärjunta zu Verhandlungen mit Aristide. Als das Militär sich aber weigerte, mit den USA zu kooperieren, entschloss sich die USA, das in solchen Fällen Übliche zu tun: Es wurde militärisch interveniert – und die Wiedereinsetzung Aristides dabei als demokratisches Feigenblatt vorgeschoben.

Aristide selbst musste den Preis für seine Abhängigkeit vom Wohlwollen der USA bezahlen. Seine Zeit im Exil wurde seiner Amtszeit zugerechnet, so musste er schon zu Beginn des Jahres 1996 seinen Amtssitz räumen. Aber auch in den beiden Jahren davor musste er nach der Pfeife der US-Regierung tanzen. Die wichtigsten Eckpunkte seiner Politik wurden von Zusatzverträgen reguliert, welche er vor der US-Invasion, genannt "Operation Restore Democracy", unterzeichnen musste. Diese sahen, neben den üblichen Restrukturierungsmaßnahmen des Internationalen Währungsfonds, die Privatisierung der Staatsbetriebe sowie die Aufgabe aller Import- und Exportbeschränkungen vor.

Nicht unerwähnt sollte auch bleiben, dass die Militärjunta, nachdem diese die Übermacht der USA anerkannt hatte und keinen Widerstand leistete, von den US-Truppen höchstpersönlich ausgeflogen wurde. Als kleines Dankeschön wurden alle Akten und Archive, welche die Verbindungen zwischen der Diktatur und dem CIA belegten, in die US-Botschaft gebracht.

Auch sonst wurde die "Demokratisierung" von den USA nur halbherzig unterstützt. Die Auflösung der Armee wurde zwar gebilligt, die US-Truppen unternahmen allerdings keine Anstalten, eine Entwaffnung zugunsten der neu gegründeten Polizeitruppe zu unternehmen. So ist es kein Wunder, dass ein Großteil der Armeeausrüstung im jetzigen BürgerInnenkrieg von DuvalieristInnen hinübergerettet wurde. Aber auch in wirtschaftlichen Belangen war Aristides Rosskur in Kooperation mit den USA und IWF nicht sonderlich hilfreich. Ende der Neunziger war knapp jedeR zweite der 7,5 Mio. HaitianerInnen ohne reguläre Arbeit. Konnte Haiti noch vor zehn Jahren zumindest seinen Eigenbedarf an Reis selbst decken, geschieht dies heute nur noch zu 50%. Mittlerweile wurde auch die letzte Eisenbahnlinie zugunsten des desolaten Straßennetzes eingestellt.

Destabilisierung

1996 waren erneut Präsidentschaftswahlen angesetzt, Aristide musste allerdings aufgrund der Verfassung eine Pause einlegen, und so wurde sein Vertrauter René Préval für die nächsten fünf Jahre Präsident. Aristide geriet daraufhin zunehmend politisch unter Druck, er spaltete sich von seinem ehemaligen Wahlbündnis ab und gründete eine eigene Partei. Die Opposition warf ihm wiederholt Wahlbetrug vor. Zudem verlor Aristide zunehmend an Unterstützung in der Bevölkerung – bei Senatswahlen im Jahre 1997 nahmen nur 5% der HaitianerInnen teil.

Der Abzug der letzten ausländischen Truppen, die mittlerweile im Rahmen einer UN-Mission stationiert waren, destabilisierte das Land weiter. Trotz alledem schaffte es Jean-Bertrand Aristide 2001, wieder zum Präsidenten von Haiti gewählt zu werden. Die Situation eskalierte immer weiter, Aristide ließ immer öfter Oppositionelle verhaften oder ermorden und setzte unter anderem auf ethnische Vorurteile gegen die Elite, welche vornehmend aus MulattInnen besteht. Weder das noch die Zustimmung zu Neuwahlen halfen. Am 200. Unabhängigkeitstag Haitis, dem 1.1.2004, begann der Aufstand gegen Aristide.

Die Unruhen wurden in Gonaïves von ehemaligen UnterstützerInnen Aristides, der sogenannten "Kannibalenarmee" begonnen, nachdem Aristide ihren Führer Amiot Metayer ermorden ließ. Mittlerweile werden sie unter anderem von ehemaligen Todesschwadronen der Militärjunta namens FRAPH (Front for the Advancement and Progress of Haiti) unterstützt. Diese Gruppierung hat zu diesem Zeitpunkt bereits den Namen "National Revolutionary Front for the Liberation of Haiti" angenommen, nachdem sie kurz als "Revolutionary Artibonite Resistance Front" firmierte.

Auch Guy Philippe, ein ehemaliger Polizeichef, dem Drogenhandel nachgesagt wird, und der 2001 gegen Aristide putschte, wird als ein Anführer der Rebellion gehandelt. Diese Gruppe, zusammengesetzt aus ehemaligen Terrorgruppen Aristides, Militär, Drogenbossen und lokalen Gangs, verzeichnete rasch militärische Erfolge. Schon am 22. Februar konnte sie Haitis zweitgrößte Stadt, Cap Haitien, einnehmen, womit der gesamte Norden Haitis nicht mehr unter Kontrolle der Regierung stand, am 29.02. musste Aristide zurücktreten.

Die Opposition

Außenstehenden erschienen die Unruhen oft mehr als ein Kampf zwischen den verschiedenen Cliquen, welchen es hauptsächlich um den eigenen Zugang zu Macht und Geld ging. Politisch bestand das Programm der Rebellen hauptsächlich aus dem Sturz Aristides, der nun vollzogen ist.

Die offizielle (bisherige) Opposition, welche zu einem guten Teil aus ehemaligen Militärs, UnternehmerInnen und rechtsgerichteten Kreisen besteht, aber auch linke Kritiker Aristides beinhaltet, will offiziell nichts mit dem bewaffneten Aufstand zu tun haben. Das lässt sich aber hauptsächlich auf die versuchte Positionierung als "demokratische Alternative" in der Weltöffentlichkeit interpretieren. Fraglich bleibt, wie die Opposition nach dem Sturz Aristides diese unterschiedlichen Konzepte unter einen Hut bringen möchte. Es scheint allerdings, dass die wenigen fortschrittlichen KritikerInnen Aristides innerhalb der Opposition eher eine Feigenblattfunktion hatten und der Sturz des Präsidenten einen klaren Rechtsruck einleiten wird.

Aristides Tage sind gezählt. Nachdem Aristide und seine Clique von den USA eingesetzt wurden, und deren Politik umsetzten, fehlt es ihnen jetzt an der Unterstützung der Massen, die sie einst für den Westen so interessant gemacht hat. Anscheinend sollen jetzt andere die Interessen der KapitalistInnen gegen die haitianische Bevölkerung verteidigen.