Skizze der internationalen Lage 2004

Ein Diskussionsbeitrag von Maria Pachinger

1. Ökonomische Entwicklung

Die Entwicklung der Weltwirtschaft im vergangenen Jahr war wie schon in den gesamten 1990er Jahren von der Vorherrschaft des US-Imperialismus geprägt. Japan befindet sich seit mehr als einem Jahrzehnt in einer strukturellen Krise. Und der dritte im Bunde, die EU, kann ihr ökonomisches Potenzial aufgrund ihrer politischen Inhomogenität und ihren im Vergleich zu den USA schlechteren Ausbeutungsbedingungen nicht wirklich voll entfalten. Die militärische Schwäche der EU gewinnt als weiterer Faktor zunehmend an Bedeutung.

Bedingt durch seine politisch-militärische Hegemonie kann sich der US-Imperialismus in ökonomischer Hinsicht Wettbewerbsvorteile schaffen auf Kosten seiner imperialistischen Rivalen, vor allem aber auf Kosten derer halbkolonialer Länder, die sich vollkommen im Würgegriff des Imperialismus befinden.

Auch wenn es beide imperialistischen Blöcke in den letzten Jahren nur zu dahindümpelnden Wachstumsraten brachten, waren die USA der EU immer etwas voraus, sowohl beim BIP-Wachstum, das 2002 bzw. (geschätzt für) 2003 in der EU 1,0% bzw. 0,7% und in den USA 1,4% bzw. 1,5% betrug, als auch beim Produktivitätswachstum, das 2002 in der EU bei 1,1% und in den USA bei 1,7% lag. Gewaltig vergrößerte sich der Abstand im 3. Quartal 2003: In den USA zog das Wirtschaftswachstum auf 7,2% an, in der EU stagnierte es dagegen bei 0,4%.

Historisch niedrige Wechselkurse, tiefe Zinssätze und enorm hohe Staatsausgaben haben geholfen, das Wirtschaftswachstum der USA anzukurbeln. Allein das Rüstungsbudget machte 2003 379 Mrd. US$ aus, für 2004 sind über 400 Mrd. US$ anvisiert; dazu kommen noch extra Besatzungskosten im Irak. Gemeinsam mit den massiven Steuersenkungen (natürlich zu Gunsten der Bourgeoisie und auf Kosten der Arbeiter/innen/klasse) und den Unsummen für den Irak-Krieg (55,8 Mrd. Euro) sorgt das für ein ansehnliches Defizit im US-Haushalt.

Neben den fiskalischen Impulsen sind es vor allem die hohen Verbraucherausgaben und nicht eine gesteigerte Produktivität! auf denen der US-Wachstumsschub basiert. Die niedrigen Zinssätze regten dazu an, sich für private (u.a. Autokäufe) und geschäftliche Investitionen (plus 14%) in Schulden zu stürzen. Der niedrige Wechselkurs des Dollars konnte die US-Exportindustrie pushen und das Leistungsbilanzdefizit etwas ausgleichen.

Auch wenn von der jüngsten Entwicklung der US-Ökonomie voraussichtlich positive Impulse auf die Weltwirtschaft ausgehen werden, kann daraus auf keinen nachhaltigen Aufschwung im kapitalistischen System auf globaler Ebene geschlossen werden. Temporäre hohe Wachstumsraten sind nur e i n Indikator für den Zustand des kapitalistischen Systems. Sie dürfen nicht darüber hinweg täuschen, dass sich die kapitalistische Weltwirtschaft in einer strukturellen Überakkumulation befindet. Seit 1997 sind die absoluten Profite trotz temporärer Aufschwünge, um 60% gesunken. Die durch billige Kredite künstlich angeregte Investitionstätigkeit verschlimmert die Problematik der Überkapazitäten nur noch. Schon jetzt beträgt die Kapazitätsauslastung in den USA nur 74%.

Die hohen Verbraucherausgaben zeugen von keiner gesteigerten Kaufkraft, da die Käufe auf Kreditbasis, also Verschuldung, basieren. Sie können nur kurzfristig für einen Aufschwung sorgen. Tendenziell verschärfen auch sie die systemimmanenten Widersprüche. Was das Wachstumsmittel -niedriger Dollarkurs anbelangt, so ist der US-Imperialismus in den letzten Jahren damit durchwegs gut gefahren. Tatsächlich birgt es aber auch ein nicht unbeträchtliches Risiko in sich.

Die USA sind bei der Finanzierung ihres in den letzten eineinhalb Jahren kumulierten Leistungsbilanzdefizits von 750 Mrd. US$ auf ausländische Direktinvestitionen (FDI) angewiesen. So stehen diesen 750 Mrd. US$ fast 1.000 Mrd. US$ an Zuflüssen von Auslandskapital gegenüber. Wenn die ausländischen Anleger nun durch eine zu starke Entwertung des Dollars eine Vernichtung ihres Kapitals befürchten und dieses in weiterer Folge abziehen (wie das 2001 teilweise der Fall war), gerät die US-Ökonomie gehörig unter Druck.

Mit der weiteren Herausbildung der EU und der Einführung des Euro ist in der internationalen Währungskonstellation ein leicht verändertes Bild entstanden. Zwar hat sich an der Funktion des Dollars als Weltwährung (70% aller Währungsreserven waren 2000 in Dollar angelegt) nichts verändert, doch spielt der Euro auf manchen Handelsplätzen auch außerhalb Europas nun eine größere Rolle (sein Anteil am Welthandel ist ungleich größer). Zum anderen gab es in den letzten Jahren verstärkt Tendenzen nicht zuletzt aus politischer Motivation auf stärkere Diversifizierung der Währungen zu setzen. Saudi-Arabien, der Irak und Venezuela hatten etwa ernsthaft überlegt, ihre Erdölexporte in Zukunft in Euro abzuwickeln. Der US-Imperialismus hat diesen Plänen mit dem Irak-Krieg einen Strich durch die Rechung gemacht. Saudi-Arabien, das mit 500-700 Mrd. US$ ein Rieseninvestor in den USA ist, ging dann zumindest soweit, einige MRD US$ nach Europa zu transferieren.

 

2. Internationale politische Entwicklung

Kristallisationspunkt für die internationalen Beziehungen im letzten Jahr, vor allem zwischen den imperialistischen Mächten, war der Irak-Krieg. Er stellt einen gravierenden Bruch mit dem Konsens über die Einflusssphären in der halbkolonialen Welt dar. Innerhalb der EU legte er sowohl zentripetale als auch zentrifugale Kräfte frei.

Einerseits ist es dem US-Imperialismus gelungen in die EU reinzuspalten und Großbritannien, Italien, Spanien und osteuropäische Erweiterungsländer gegen die Achse Frankreich-Deutschland auszuspielen. Andererseits hat sich erstmals in der Nachkriegsordnung ein imperialistisches Bündnis (eben Frankreich-Deutschland) offen gegen den US-Imperialismus aufgelehnt. Ob der Blockbildungsprozess voranschreiten wird, hängt maßgeblich davon ab, welche Kräfte in der EU (und in den USA und Japan) die Oberhand gewinnen werden. Ob die EU im Laufe der nächsten Jahrzehnte den USA ihre weltpolitische und militärische Vormachtstellung streitig machen kann, ist derzeit nicht abzusehen.

Noch und das wird in jedem Falle eine Zeit lang so bleiben ist der US-Imperialismus die unangefochtene Nr. 1 was die militärische Potenz anbelangt. Allein ihr Militärbudget von 2003 war so groß wie das der 19 darauffolgenden Ländern. Auch wenn die gemeinsame europäische Verteidigungspolitik mit Maßnahmen wie der Formierung einer 60.000 Mann starken Eingreiftruppe und der Schaffung eines europäischen Rüstungskonzerns EADS schön langsam konkrete Formen annimmt, ist sie vom US-Potenzial noch weit entfernt.

Problematisch für die militärische Entwicklung (Emanzipation) der EU könnte auch die Tatsache werden, dass die USA mit der NATO-Osterweiterung ihren Einflussbereich auf Teile einer gestärkten EU, die ostmitteleuropäischen Länder, ausweiten konnten. Polen, Ungarn und Tschechien wurden schon 1999 in das US-dominierte Militärbündnis integriert und die Erweiterungsländer Estland, Lettland, Litauen, die Slowakei, Slowenien plus die strategisch wichtigen Rumänien und Bulgarien sollen bis Mai 2004, also zeitgleich mit der EU-Mitgliedschaft, ihre NATO-Mitgliedschaft ratifizieren. Der Vorstoß Rumsfelds, eine 21.000 Mann starke NATO-Eingreiftruppe für Europa zu installieren (mit dem selben Aufgabenbereich wie die EU-Eingreiftruppe) muss ebenfalls als Warnung an die Befürworter eines starken EU-Blocks verstanden werden, keine eigene Suppe zu kochen.

Mit dem Irak-Krieg haben die USA ihren potentiellen Rivalen und allen nicht ganz willfährigen Regimes in den halbkolonialen Ländern aufs Neue demonstriert, wer auf dieser Welt etwas zu melden hat. Was wir in unserer "Skizze der internationalen Lage 2002" für den Afghanistan-Feldzug eingeschätzt haben, gilt auch für den Irak-Krieg:

"Der US-Imperialismus signalisierte damit, dass Unbotmäßigkeit mit Bomben und Granaten in den Boden gestampft wird. Die USA zeigten der Welt auch seinen imperialistischen Partnern , dass sie die einzig verbliebene Supermacht sind, dass sie die Spielregeln diktieren und sie in der imperialistischen Rangordnung, wo es um Einflusszonen, Stützpunkte, Zugriff auf strategische Ressourcen geht, an erster Stelle stehen."

Knapp ein Jahr nach dem Irak-Krieg muss bilanziert werden, dass sich der politische Preis für den kurzfristigen militärischen Erfolg als hoch herauszustellen droht. Seit dem Ende des Krieges gibt es auf Seiten der Besatzungsmacht mehr Tote durch Angriffe als beim Krieg selbst gefallen sind. Und die Zahl der gefallenen US-Amerikaner erhöht sich täglich, sodass Bush in den USA wegen seiner Irak-Politik zunehmend unter Druck gerät. Das Eingeständnis einer auch nur teilweisen Niederlage ist für den US-Imperialismus heute jedoch sehr unwahrscheinlich.

Bei vielen Leuten weckt die Situation im Irak Erinnerungen an Vietnam je nachdem bei wem im positiven oder negativen Sinn. Was wir bereits in unserer "Bilanz der NATO-Aggression gegen Jugoslawien" 1999 festgestellt haben, trifft jedoch auch hier zu:

"Die Hoffnung mancher Linker, dass aus Jugoslawien für den Imperialismus ein neues Vietnam werden könnte, war von Anfang an trügerisch. Staaten oder nationale Befreiungsbewegungen, die sich mit dem Imperialismus anlegen, haben nicht mehr die Möglichkeit sich an die Sowjetunion anzulehnen und sind, auf sich allein gestellt, dem imperialistischen Zugriff mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Schon linke nationale Befreiungsbewegungen wie in Kuba oder Vietnam hatten es – auch wesentlich aufgrund des stalinistischen Etappenkonzepts – nicht geschafft, eine internationalistische Perspektive der systematischen Ausweitung der Revolution zu entwickeln, und waren in Abhängigkeit der Sowjetunion und in einer bürokratischen Sackgasse gelandet. Reaktionäre nationalistische Regimes wie in Serbien, im Irak oder im Iran sind zu einer internationalistischen Ausrichtung noch weniger in der Lage. Sie kämpfen in Wirklichkeit auch lediglich für eine illusionäre bessere Position ihrer herrschenden Klassen innerhalb des imperialistischen Systems. Für einen tatsächlichen Kampf gegen die imperialistische Ordnung der Unterdrückung und Ausbeutung haben solche Regimes oder Bewegungen nur Perspektivlosigkeit anzubieten."

Aus der halbkolonialen Welt haben der US-Imperialismus und das kapitalistische System insgesamt als keine reale Bedrohung zu befürchten auch wenn die Verhältnisse in Kuba, Venezuela, dem Iran, Nordkorea und auch China nicht ganz nach ihrem Geschmack sind und die dortigen Regierungen grundsätzlich weiterhin auf der Abschusslinie stehen.

 

3. EU-Osterweiterung

Hinter der -Integration von acht mittel- und osteuropäischen Ländern (Slowenien, Ungarn, Slowakei, Tschechien, Polen, Litauen, Lettland, Estland) in die EU steht das strategische Interesse des europäischen und dabei besonders des deutschen Kapitals, sich einen Hinterhof zu schaffen einen Hinterhof, der billige Arbeitskräfte und neue Absatzmärkte bietet, politisch stabil und dem Einfluss des US-Imperialismus einigermaßen entzogen ist.

Mit der ökonomischen Durchdringung von Mittel- und Osteuropa hat das europäische Kapital freilich nicht erst auf den Beitritt der -Erweiterungsländer gewartet. Was es an profitablen Unternehmen zu holen gab, ist bereits fest in westlicher, vor allem in westeuropäischer Hand. Ganz deutlich zeigt sich dies im Finanzbereich: mit dem Jahr 2002 war die Übernahme von osteuropäischen Geldinstituten und ihren Filialnetzen weitgehend abgeschlossen.

Mit dem Lockmittel der baldigen EU-Mitgliedschaft (von der sich die mittelosteuropäischen Länder einen regen Fluss von Fördermitteln erwarten) setzten die EU-Imperialismen die herrschenden Eliten in den Beitrittsländern unter Druck, staatliches Eigentum zu Schleuderpreisen zu verkaufen und ihren Außenhandel ganz nach den EU-Bedürfnissen auszurichten. Die EU-15 waren mit dieser Politik unterschiedlich erfolgreich; vor allem für die Ökonomien von Ungarn, Tschechien, Lettland und Estland lässt sich sagen, dass sie zu einem substantiellen Teil von außen gelenkt werden. So beträgt etwa in Ungarn der Anteil der ausländischen Eigentümer in der Nahrungsmittelindustrie bereits über 90%.

Die Kosten für die Osterweiterung fallen für das EU-Kapital relativ gering aus. Die "Hilfsgelder", die bisher (unter Namen wie "Phare") in die ostmitteleuropäischen Länder geflossen sind, waren erstens nicht besonders hoch und dienten zweitens vornehmlich der Ausbildung von EU-kompatiblen Fachkräften des Verwaltungs- und Bildungsapparates.

Auch für die Zukunft hat sich hat sich das westeuropäische Kapital (besonders in der Landwirtschaft, wohin der Großteil der Fördermittel fließt) abgesichert: Es lässt sich die Subventionierung der Landwirtschaft der ostmitteleuropäischen Landwirtschaft gerade mal etwas mehr als ein hunderstel Prozent des BIP der EU-15 kosten. Das sind gerade mal 3% der Mittel, mit denen die westeuropäischen Bauern subventioniert werden. Erst 2013 soll die -Fördergerechtigkeit bei Agrarsubventionen wirksam werden. Bis dahin sorgen Produktionsquoten und Flächenstilllegungsprogramme in den mittelosteuropäischen Ländern dafür, dass die hochsubventionierte westeuropäische Landwirtschaft keine allzu relevante Konkurrenz bekommt und die Überproduktion eingedämmt wird.

Trotz der Anbindung an die EU-Imperialismen werden ostmitteleuropäischen Länder auf absehbare Zeit -Schwellenländer bleiben. Nachdem die profitablen Bereiche ihres Industrie- und Finanzsektors bereits in ausländischer Hand sind, wird es nach der offiziellen Freigabe von Grund und Boden in diesem Bereich ähnlich aussehen. Die ausländischen Direktinvestitionen (FDI) nach bürgerlicher Diktion die Wachstumsbringer schlechthin kommen vorwiegend den eigenen Unternehmen, also denjenigen in ausländischer Hand, zu Gute, die daraus erwachsenen Renditen fließen zurück in die ökonomischen Zentren der EU.

Ein Indikator für eine fortgeschrittenes Industrieland ist nicht zuletzt die Existenz einer mehr oder weniger eigenständigen nationalen Bourgeoisie. Zu deren Herausbildung wird es in den ostmitteleuropäischen Ländern nicht so schnell kommen. Wohl hat die westeuropäische Bourgeoisie ein Interesse an einem verlässlichen kapitalistischen Partner, wenn es zu sozialen Auseinandersetzungen kommt, nicht aber ein einem potentiellen Konkurrenten.

Als eine Möglichkeit, sich aus der völligen Abhängigkeit von der EU-Bourgeoisie zumindest partiell heraus zu manövrieren, haben die herrschenden Eliten in der ostmitteleuropäischen Ländern zuletzt beim Irak-Krieg die Verbindung mit dem US-Imperialismus gesucht. Auf welche Seite sie sich in Zukunft schlagen werden, oder besser: geschlagen werden, hängt nicht zuletzt von der weiteren Entwicklung der EU-Imperialismen ab.

 

4. Kräfteverhältnis zwischen den Klassen

Die strategischen Niederlagen der Arbeiter/innen/klassen seit den 1980er Jahren zunächst in den USA und Großbritannien, seit den 1990er Jahren auch die verstärkten Angriffe auf dem europäischen Kontinent und schließlich die Restauration des Kapitalismus in den ehemaligen bürokratisierten Arbeiter/innen/staaten haben das Kapital klar in die Offensive gebracht. Zwar ist es den nationalen Bourgeoisien in Europa im unterschiedlichen Ausmaß gelungen, der Arbeiter/innen/klasse schwere Niederlagen zuzufügen (v. a in Deutschland und in erster Linie im öffentlichen Dienst und in den "geschützten" Sektoren der Privatwirtschaft), vom Niveau der angelsächsischen Länder sind sie noch weit entfernt. Dieser Wettbewerbsnachteil wird sie auch in den nächsten Jahren zu weiteren Angriffen gegen die Arbeiter/innen/klasse und deren erworbene Errungenschaften zwingen. Diese im bourgeoisen Jargon ganz treffend bezeichneten -Strukturschwächen betreffen vor allem den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme.

Der Bourgeoisie ist es in den zentralen EU-Ländern Deutschland, Frankreich schon zu einem Gutteil gelungen, ihre Zielsetzungen zu verwirklichen. Bevorzugte Zielscheibe ihrer Angriffe waren neben den öffentlich Bediensteten (die teilweise den lohnbeziehenden Mittelschichten zuzurechnen sind) die Arbeiter/innen in den so genannten "geschützten Bereichen".

Der Kapitalist/innen/klasse ging es in den letzten Jahren um die Reduzierung der arbeiter/innen/aristokratischen Schichten bzw. um die Beschneidung ihrer Standards zu Gunsten einer Ausweitung von prekär Beschäftigten, so genannten "working poor". Da Teilzeitarbeit, Leiharbeit, befristete und geringfügige Beschäftigung das Kapital von lästigen arbeitsrechtlichen Bestimmungen befreien, die "Flexibilität" der Arbeiter/innen/klasse erhöhen und in ideologischer Hinsicht der Individualisierung und Entsolidarisierung Vorschub leisten, konnte das Kapital seine Ausbeutungsbedingungen wesentlich verbessern.

USA

In den USA hat die Regierung ihre kapitalistischen "Hausaufgaben" mustergültig erledigt. Bei den staatlichen Versicherungssystemen ist die US-Bourgeoisie ihren Klassenkolleg/inn/en in Europa ohnehin weit voraus: Insgesamt sind in den USA 43 Mio. Menschen ohne Krankenversicherung (45% davon sind vollzeitbeschäftigt).

Auch auf dem Arbeitsmarkt hat das US-Kapital richtig "aufgeräumt": In der Amtszeit von Bush jun. sind als Folge der Rationalisierungen und des fortschreitenden Aufbrechens der "sicheren Arbeitsverhältnisse" weitere Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit gedrängt worden. Offiziell gibt es 9 Mio. Arbeitslose in den USA. Gewerkschaften sprechen jedoch von einer Zahl um die 18 Mio. eine Zahl, die sich ergibt, wenn man die 4,8 Mio. geringfügig Beschäftigten und die 4,4 Mio. Langzeitarbeitslosen, die in der offiziellen Statistik gar nicht mehr geführt werden, dazu rechnet. Insgesamt ist in den vergangenen Jahren die Kampfbereitschaft der Arbeiter/innen/klasse im Vergleich zu den 1980er Jahren etwas angestiegen, was am nach wie vor defensiven Charakter der Kämpfe aber nichts ändert. Auch der gewerkschaftliche Organisierungsgrad ist weiter zurückgegangen.

Als Legitimation für ein zunehmend repressives Vorgehen des Staates gegen jeden Widerstand, diente das bereits bewährte Argument des "Krieges gegen den Terror". Demzufolge richte sich jeder Protest gegen das "nationale Interesse" der USA und spiele damit dem "internationalen Terrorismus" in die Hände.

Deutschland

Im zentralen EU-Staat Deutschland geht die sozialdemokratisch geführte Regierung mit ihrer -Reformoffensive zügig voran. Mit der "Riester-Rente", dem "Hartz-Papier" und der "Agenda 2010" macht der Genosse der Bosse einen bedeutenden Schritt in Richtung Privatisierung der Pensionsvorsorge, Lockerung des Kündigungsschutzes, Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, dessen Zusammenlegung mit der Sozialhilfe etc. Mit den massiven Kürzungen der Sozialleistungen einher gingen stagnierende und 2000/2001 sogar (leicht) sinkende Reallöhne.

Die organisierte Arbeiter/innen/klasse hielt dieser Offensive wenig entgegen und verhalf damit dem Kapital zu einer weiteren Stärkung. Neben Resignation bei Teilen der Arbeiter/innen/klasse und den Früchten der breit propagierten "Spar"-Ideologie der Bourgeoisie in der Arbeiter/innen/klasse ("Wir müssen eben alle den Gürtel enger schnallen.") spielten die Gewerkschaften eine wichtige Rolle beim Abwiegeln des Widerstandes. Indem sie in Loyalität zur regierenden SPD agieren und damit den Sozialabbau direkt unterstützen, bestätigen sie, dass der Reformismus für das Kapital weiterhin nützlich ist.

Zwar gab es innerhalb der Gewerkschaften Auseinandersetzungen um die Ausrichtung, aber es setzten sich die SPD-Loyalen durch und außerdem stellten auch die "Kritiker/innen" keine wirkliche Alternative dar. Tatsächlich liegen die beiden Gruppierungen in ihrer Politik nicht soweit auseinander; die Standortlogik wird auch von der "Kritiker/innen" in keinster Weise hinterfragt. Und doch handelt es sich dabei nicht bloß um eine reine innerbürokratische Angelegenheit, die Flügelkämpfe sind auch Ausdruck eines Drucks der Basis. So undemokratisch die Gewerkschaften heute auch sind, wenn ihnen die Basis abhanden kommt, verlieren sie ihre Existenzberechtigung. Wenn die IG Metall als eine der größten Einzelgewerkschaften der Welt in den letzten 15 Jahren ein Drittel ihrer Mitglieder verloren hat, so geht das schon an die Substanz der Kampfkraft der Gewerkschaft ebenso wie der Privilegien die Bürokratie.

Frankreich

Eine bedeutende Streikbewegung fand im Mai/Juni 2003 in Frankreich statt. Für die französische Bourgeoisie war dieser Streik die brisanteste Klassenauseinandersetzung seit 1995. Die Proteste richteten sich gegen Bildungsabbau und die geplante Rentenreform. Die bürgerliche Regierung gab sich durchwegs kompromisslos, obwohl sie den Druck der Straße mit dem Streik von 1995 im Hinterkopf, der Juppe die Regierung kostete als nicht ungefährlich erachtete. Der Protest war relativ breit (gestreikt wurde bei der Post, der EDF, in den Schulen, bei der Eisenbahn und der Metro) und trotz der Medienhetze gegen die Streikenden auch von 2/3 der französischen Bevölkerung unterstützt. Letztlich konnte sich die Regierung aber auf die Gewerkschaften verlassen, die die teilweise spontanen bzw. selbst organisierten Proteste schließlich doch unter Kontrolle halten und die Streikenden erfolgreich spalten konnten.

Auch in Frankreich, wo Teile der Arbeiter/innen/klasse mehr Erfahrungen mit Klassenkämpfen und Selbstorganisation haben als im deutschsprachigen Raum (auch wenn man/frau sich auch da vor Idealisierungen hüten muss), hat die Unzufriedenheit von immer mehr Arbeiter/innen mit der Politik der Gewerkschaften die Kontrolle der Bürokratie über die Gewerkschaften weiterhin nicht substanziell in Frage stellen können. Auch wenn die aus trotzkistischer Tradition kommende radikale Linke (LO und LCR) in Frankreich teilweise von der Unzufriedenheit profitiert und auf Wahlebene immer größeren Zulauf haben, so sind die Gewerkschaften doch noch immer in der Hand von reformistischen Funktionär/inn/en. Ein Teil des Unmuts wird auch von Strömungen wie ATTAC in einen neu verpackten Reformismus kanalisiert. Aber trotzdem und auch wenn natürlich nicht alle Wähler/innen von LO und LCR eine revolutionäre Haltung haben, so sind viele davon doch offen für eine marxistische Systemkritik, so stellte Frankreich eines der weniger Länder dar, in dem die radikale Linke ein relevanter gesellschaftlicher Faktor ist.

 

5. Schluss

Die Erfolge im Kampf gegen die organisierte Arbeiter/innen/bewegung und die weitere Stärkung im Kräfteverhältnis mit der Arbeiter/innen/klasse dürfen nicht darüber hinweg täuschen, dass die Bourgeoisie mit sich zunehmend verschärfenden systemimmanenten Widersprüchen und den damit enger werdenden Spielräumen für das Kapital zu kämpfen hat. Die verstärkte Repression nach außen und nach innen mit damit einher gehenden Zunahme von autoritären Elementen darf nicht als bloße Machtdemonstration interpretiert werden. Sie zeugt gerade von diesem ökonomischen Druck. Doch noch und das wird sich wohl nicht ganz so schnell ändern schafft es die Bourgeoisie in den imperialistischen Ländern ohne größere Probleme, diesen Druck an die Arbeiter/innen/klasse und die halbkolonialen Länder weiterzugeben.

Insgesamt ist die Kapitalist/innen/klasse international weiterhin in der Offensive, auf ökonomischer, politischer und militärischer Ebene. Die Desintegration von Teilen der Bevölkerung in das politische System führte auch zuletzt nur ausnahmsweise zu einer relevanten Stärkung einer antikapitalistischen Linken. Gleichzeitig gelingt es dem System auch, Teile einer scheinbar radikaleren Linken einzubeziehen. Das gilt etwa für die brasilianische PT und ihre Regierungsübernahme. Das gilt aber auch für die globalisierungskritische Bewegung, die sich zwar weiter gehalten hat, die aber weiterhin stark von der jeweiligen Linken in den verschiedenen Ländern geprägt ist und von der Teile zunehmend institutionalisiert werden.

 

18. Januar 2004