Das ärmste Land Lateinamerikas blickt zurück auf ein Jahr des sozialen und politischen Kampfes. Die seit Februar andauernden Abwehrkämpfe gegen den Neoliberalismus brachten im Oktober den Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada zu Fall. Sein Vize übernahm und versprach ein alternatives Wirtschaftsprogramm.
Bolivien ist das ärmste Land Südamerikas. Durch die anhaltende Wirtschaftskrise verschärft sich für die BolivianerInnen die soziale Lage immer mehr. 60 Prozent der Bevölkerung leben in absoluter Armut. In den ländlichen Gebieten, wo 40 Prozent der Bevölkerung leben, sind neun von zehn Menschen arm. Die Moderne, wie sie Ex-Präsident Gonzalo versprach, ist nicht spürbar. Bolivianische Bäuerinnen und Bauern leben unter vorindustriellen Bedingungen. Weder Strom noch Medizin sind vorhanden. Längst heilbare Krankheiten bedeuten weiterhin für viele Menschen den Tod. Die Einkommen sanken in den letzen 15 Jahren um 50 Prozent.
Bis zu 80 Prozent der Menschen zählen zur indigenen Bevölkerung. Die Wurzeln ihrer Vorfahren reichen bis in das Inka-Reich zurück. Sie haben eine lange Geschichte des Kampfes gegen die Unterdrückung. Bolivien ist ein Land mit einer reichen revolutionären Tradition und einer der stärksten trotzkistischen Bewegungen weltweit, die über realen Masseneinfluss verfügt. Bereits mehrmals nach dem zweiten Weltkrieg bestand in Bolivien die Möglichkeit zu einer sozialistischen Revolution.
Widerstand
Im September 2000 formierte sich im Altiplano eine Interessensvertretung der Aymará-Indianer, die mit einem gelungen Generalstreik und Straßenblockaden den damaligen Präsidenten Hugo Banzer Suàrez an den Rande des Rücktritts brachten. 2001 gründeten sie eine Partei, Movimiento Indigena Pachacuti (Indigene Bewegung Pachacuti, MIP).
Der Widerstand gegen den radikalen Neoliberalismus weitete sich rasch aus. Im April 2002 wurde der US-Multi Bechtel aus dem Land getrieben, nachdem er in der Region Cochabamba, wo das Wasser dem Privatisierungswahn zum Opfer fiel, die Preise enorm erhöht hatte. Ein halbes Jahr darauf, im Januar 2003, brachte eine protestierende Massenbewegung in La Paz, der Hauptstadt Boliviens, eine Sondersteuer zu Fall. Diese hatte der Internationale Währungsfonds vorgeschlagen und durchgesetzt. Um das Haushaltsdefizit zu senken, hieß es.
Dem neoliberalen Lager schlug in beiden Fällen ein heftiger Widerstand der Bevölkerung entgegen. Doch dies war nur ein Vorgeschmack dessen, was Staatspräsident Gonzalo in seiner kurzen Amtszeit zu erwarten hatte.
Die MAS
Parallel zum beginnenden Widerstand entstand in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre die Bewegung der Cocaleros, die sich zu einer Partei zusammenschlossen. Die GründerInnen dieser Bewegung waren arbeits- und heimatlose Bergleute, die nun Coca anbauten. Unter der Führung von Evo Morales konnte diese Partei, die Movimiento al Socialismo (Bewegung für den Sozialismus, MAS) bei den Wahlen 2002 35 Bauern und Indios ins Parlament bringen. Morales verlor die Stichwahl gegen Gonzalo um die Präsidentschaft nur knapp.
Unruhe machte sich in der Oberschicht breit. Fast ein Drittel der Sitze im Parlament konnten von Indios belegt werden. Eine zentrale Rolle darin, Gonzalo Sanchez Lozada als Präsident zu installieren, spielten die Vereinigten Staaten, die Mittel- und Südamerika traditionell als Hinterhof betrachten und in den meisten Ländern der Region entscheidenden Einfluss haben. Die USA zimmerten eine Koalition zwischen der Nationalistisch-Revolutionären Bewegung (MNR), der Linksrevolutionären Bewegung (MIR), der Nationaldemokratischen Aktion (ADN) des ehemaligen Präsidenten und Diktators Hugo Banzer und zwei weiteren kleineren Parteien. Washington fürchtete, den Führer der Cocabäuerinnen- und bauern. Die USA wollten einen Präsidenten, der alle diktierten Maßnahmen und Forderungen des IWF und der USA bereitwillig akzeptierte, beispielsweise neue Steuern, die drastische Senkung des Einkommens- und Rentenniveaus, den Abbau staatlicher Subventionen für Gas und Benzin, die Senkung der Staatsausgaben und vermehrte Exporte. Sanchez wurde von der US-Botschaft und den transnationalen Ölkonzernen mit Unterstützung der bolivianischen Armee an die Macht gebracht. Doch auch die Führer der bolivianischen ArbeiterInnen, Bäuerinnen und Bauern waren letztendlich eine tragende Säule des Regimes.
Nach einer Massenerhebung im Jänner/Februar 2003, die das Ende der Regierung bedeuten hätte können, unterzeichneten die Führer der MAS und der Gewerkschaft COB einen Sozialpakt. Damit verschafften sie ihr die dringend benötigte Atempause. Im Gegenzug bedeutete dass aber den Verrat an der kämpfenden Arbeiterklasse, die gegen die von der IWF geforderten Einkommenssteuer und anderen Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung protestierte. Sogar die Polizei streikte. Die Bewegung hatte sich schnell radikalisiert, im "Schwarzen Februar" wurden mindestens 33 Menschen von Soldaten niedergeschossen.
Da nach einigen Monaten relativer Ruhe kein Versprechen des Sozialpaktes verwirklicht wurde, traten Teile der ArbeiterInnen wieder in den Kampf ein. Am 19. September marschierten 150.000 Menschen in einem Demonstrationszug durch die Hauptstadt La Paz. Landesweit kam es zu Protesten, Straßenblockaden und Aufständen. Ein weiterer Faktor für diesen Widerstand war der Plan, die letzte Ressource, die noch in der Hand des Staates liegt, die Gasvorkommen, zu verkaufen. Der Weltmarktpreis lag um das vierfache höher als der Preis, um den Gonzalo die Vorkommen verkaufen wollte.
"Ahora sí, guerra civil"
Dieser 19. September war ein erfolgreicher Tag für die Opposition. Doch tags darauf kam es in Warisata zu einer Schießerei. Der Verteidigungsminister Sànchez Berzaìn griff an der Spitze einer Armeeeinheit ein, um einen Aufstand niederzuschlagen. Sechs DorfbewohnerInnen wurden getötet, darunter ein achtjähriges Mädchen. Das war der Funke, der das Feuer entfachte. Eine Welle der Solidarität ging durchs Land. Die indigenen Gemeinschaften beschlossen, der Regierung offen den Krieg zu erklären: "Ahora sí, guerra civil". Der Verband der Gemeinderäte von El Alto rief den Generalstreik aus, dem sich auch die Gewerkschaft COB anschloss.
Die Revolte breitete sich rasch aus. Durch die Streiks und Blockaden von El Alto gelangten keine Brennstoffe und Nahrungsmittel mehr nach La Paz. Die Regierung antwortete mit Repression und befahl die Einnahme der Stadt. Am Wochenende des 11/12 Oktober wurde um jede Straße gekämpft. Mit Steinen und Stöcken setzte sich die Bevölkerung zur Wehr. 20 Tote Zivilisten und ein toter Soldat, der durch die Kugel eines Hauptmanns starb, da er sich weigerte, auf die unbewaffnete Menge zu schießen.
In den Tagen darauf kam es zu dutzenden Aufständen, die sich bald zu einer vorrevolutionären Situation steigerten. Am 17. Oktober musste Gonzalo schließlich zurücktreten, nachdem La Paz von den aufständischen Massen überrannt war. Seine US-Freunde halfen ihm, aus dem Land zu fliehen. In den Massenrevolten starben ca. 90 Menschen.
"Taktischer Rückzug"
"Kein Führer und keine politische Partei führten diesen Volksaufstand an. Weder Evo Morales, noch Felipe Quispe [Anmerkung: ein Bauern/Bäu-erinnenführer], noch wir selbst führten diese Rebellion an, in diesem Konflikt fehlte es leider an einer geeigneten Führung. Die entrüsteten Massen verabreichten dem amerikanischen Imperialismus eine schallende Ohrfeige. Niemand, kein Individuum, keine Partei kann den Anspruch erheben, diese Bewegung angeführt zu haben!" erklärte Jaime Solares, der Exekutivsekretär der COB, in seiner Zusammenfassung der vergangenen Rebellion.
Mit diesen Worten kommentiert er auch gleichzeitig die Unfähigkeit der politischen Oppositionsführer, die bereitwilligen Massen zu einer sozialistischen Revolution zu führen. Dass eine solche möglich gewesen wäre, zeigt sich deutlich an den vorangegangenen Ereignissen. Bereits seit Jänner dieses Jahres gelang nicht nur eine starke Mobilisierung der ArbeiterInnenschaft, auch die Bäuerinnen und Bauern, andere unterdrückte Schichten der Gesellschaft und die unteren Ränge von Polizei und Armee begannen den Kampf gegen die Regierung aufzunehmen. Mit dem Beginn des unbefristeten Generalstreiks trat der Kampf in eine entscheidende Phase ein. Es kam in der darauffolgenden Zeit zu Straßenblockaden, spontanen Demonstrationen und Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt. Nach dem Massaker von Warisata liefen örtliche Bauern zu Hunderten auf die Straße, hielten alte Gewehre aus der Zeit der Revolution von 1952 hoch und riefen: "Bürgerkrieg, Bürgerkrieg!"
In der Millionenstadt El Alto kam es nach den Straßenschlachten vom 11. und 12.10. zu wesentlichen Elementen von ArbeiterInnendemokratie, die Regierung hatte die Kontrolle über die Stadt verloren. Diese lag in den Händen eines ArbeiterInnenrates, der Vereinigung der Stadtteilräte (FEJU VE), die auch die bewaffnete Verteidigung der Stadt durch ArbeiterInnenmilizen organisierte und kontrollierte.
Gleichzeitig zeigte sich die fortgeschrittene Situation auch im Gewerkschaftsverband. Der Bergarbeiter Jaime Solares wurde zum Generalsekretär des COB gewählt. In einem seiner ersten Interviews erklärte er: "Wir appellieren an alle Arbeiter und die gesamte bolivianische Bevölkerung sich zusammenzuschließen, sich zu organisieren und bis zur Beseitigung des neoliberalen Modells und der kapitalistischen Ausbeuterordnung zu kämpfen und eine Arbeiter- und Bauernregierung einzusetzen." Doch auch die Linke im COB gab im entscheidenden Moment nicht das Signal zum Aufstand.
Die Situation in Bolivien erinnert an die Zeit vor der russischen Oktoberrevolution von 1917. Für viele in der Bewegung ist klar: "Unser Ziel muss es sein, dass die Arbeiterklasse gemeinsam mit unseren Brüdern, den Bauern, die Macht erobert.", wie einer der Bergarbeiterführer in der nationalen Versammlung der COB am 18.10.2003 erklärte. Was fehlt, ist eine Partei, die wie die russischen Bolschewiki die Möglichkeiten erkennt und die Bewegung in eine tatsächliche Revolution führt. Oder, wie es Kollege Alvares von der LehrerInnengewerkschaft La Paz in der selben Versammlung ausführte: "Deshalb brauchen wir eine Perspektive, die es uns ermöglicht, die Macht zu erobern und in der Folge eine revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung zu organisieren."