Die verratene Revolution: Der November 1918 in Österreich

Vor 85 Jahren, im November 1918, wurde die Monarchie in Österreich-Ungarn durch eine revolutionäre Erhebung gestürzt. Gleichzeitig ist diese Zeit wegweisend für die weitere Entwicklung Österreichs, der Sozialdemokratie und der Linken.

Der Anlass für den ersten Weltkrieg war die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo. Der Grund für den Krieg ist allerdings auf einer weltpolitischen und ökonomischen Ebene zu suchen. Bei der Verteilung der Welt unter den imperialistischen Ländern kamen Österreich-Ungarn und Deutschland zu kurz und hatten somit keine wesentlichen Kolonien. Die bedeutendsten Kolonialmächte waren Großbritannien und Frankreich, die USA begann, sich in Asien festzusetzen, Russland hatte den Fernen Osten kolonialisiert. Deutschland besaß gerade einige Gebiete in Afrika (Kamerun, Togo, Namibia, Tansania) und einige Inseln in Süd-Ost-Asien, Österreich war komplett leer ausgegangen.

Dieser Umstand sollte verändert werden. Es konnte nur dann ein Stück vom Kuchen für die KapitalistInnen in Deutschland und Österreich abfallen, wenn bereits kolonialisierte Gebiete der eigenen Machtsphäre zugeführt werden würden. Diese Neuaufteilung der Kolonien und somit das Ziel Deutschlands und Österreichs wurde auf Grund des verlorengegangenen Krieges nicht erreicht. Letztlich mündete diese Entwicklung später in den zweiten Weltkrieg, der von Deutschland aus den selben Bestrebungen geführt wurde.

Die ArbeiterInnenbewegung

Gleichzeitig zum Eintreten des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium, wie Lenin es nannte, wurde um die Jahrhundertwende auch die ArbeiterInnenbewegung immer stärker und gründete in allen bedeutenden Ländern sozialdemokratische Parteien. Dem war ein langer Prozess der Organisierung vorangegangen, der in der bürgerlichen Revolution von 1848 begonnen hatte. Als internationaler Zusammenschluss wurde zuerst die von Karl Marx und Friedrich Engels gegründete Internationale Arbeiterassoziation ("1. Internationale") gegründet. Nach deren Zusammenbruch wurde 1883 unter Mitwirkung von Engels die "Zweite Internationale", die als "Sozialistische Internationale" bis heute der Zusammenschluss der sozialdemokratischen Parteien ist.

Mit zunehmender Kriegsgefahr wurden Appelle gegen den Krieg ein immer wesentlicherer Bestandteil der Politik der zweiten Internationale. Noch kurz vor Beginn des Krieges wurde auf einem internationalen Kongress in Basel eine Resolution verabschiedet, worin die Sektionen aufgefordert wurden, im Falle eines Krieges die Menschen zur Erhebung zu führen und den Niedergang des Kapitalismus zu beschleunigen. Doch die zweite Internationale versagte völlig.

Versagen

Gerade die deutsche und österreichische Sozialdemokratie zählten zu den stärksten Sektionen der zweiten Internationale. Der Krieg hätte durch die Ausrufung eines internationalen Generalstreiks verhindert werden können, da die Sozialdemokratie auch die nötige Verankerung in den Betrieben und in der ArbeiterInnenklasse gehabt hätte. Statt dessen haben die sozialdemokratischen Parteien in ihren jeweiligen Parlamenten für den Krieg gestimmt.

Die sozialdemokratischen Abgeordneten Frankreichs und Deutschlands stimmten am 4. August 1914 für die Kriegskredite ihrer Regierungen. Als einziger stimmte in Deutschland Karl Liebknecht, späterer Gründer der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) dagegen – er wurde im Jänner 1919 auf Befehl der Sozialdemokratie umgebracht. Diese Politik stand in völligem Widerspruch, zu allem, was vorher beschlossen worden war. Trotzki berichtete, dass Lenin der festen Überzeugung war, dass die Ausgabe des "Vorwärts", der Parteizeitung der deutschen Sozialdemokratie, in der über die Zustimmung zu den Kriegskrediten im Deutschen Reichstag berichtet wurde, eine Fälschung wäre. Nur die russische und die serbische Sozialdemokratie votierten gegen den Krieg.

Den österreichischen SozialdemokratInnen blieb die Peinlichkeit einer Zustimmung zu den Kriegskrediten erspart, da nicht abgestimmt wurde. Doch hat sie dem Krieg ebenfalls eindeutig zugestimmt. So war in der österreichischen "Arbeiterzeitung" zu lesen, dass der Tag der Zustimmung der deutschen Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten der "große Tag der deutschen Nation" wäre, gleichzeitig wurde gegen Russland gehetzt. Hier war die Argumentation der Sozialdemokratie, "ihnen die Demokratie zu bringen" und den Absolutismus zu bekämpfen. Der eigene Imperialismus und die Unterdrückung der anderen Nationen im Völkerkerker des Habsburger-Reiches waren ihr allerdings keine Zeile wert.

Die Mehrheit in der österreichischen Sozialdemokratie verhielt sich passiv abwartend, eine Minderheit war offen nationalistisch. Zu dieser passiven Mehrheit gehörte auch Viktor Adler, ehemaliger Marxist, Gründer und Führer der Partei. Diese Passivität äußerte sich nicht nur in mangelnden Aktionen. Große Teile der ArbeiterInnenklasse waren von nationalistischen Parolen wie "Serbien muss sterbien", "Jeder Schuss ein Russ, jeder Tritt ein Britt, jeder Stoß ein Franzos" infiziert. Der russische Revolutionär Leo Trotzki, der zu jener Zeit in Wien lebte, berichtet in seinem Buch "Mein Leben", dass sein Sohn entgegen der momentanen Stimmung "Hoch Serbien" gerufen habe, worauf er mit einer Lektion in Politik und einigen blauen Flecken heimgekehrt sei. Dieser Stimmung setzte die Sozialdemokratie nichts entgegen.

Doch auf nationaler wie internationaler Ebene gab es auch Widerstand innerhalb der ArbeiterInnenbewegung. 1915 wurde im schweizerischen Zimmerwald eine Konferenz der internationalen KriegsgegnerInnen abgehalten. Das sogenannte "Zimmerwalder Manifest" schrieb Leo Trotzki. Aus dieser Konferenz ging die Zimmerwalder Linke rund um Lenin und Trotzki hervor, sie bildete die Keimzelle der späteren Kommunistischen oder dritten Internationale.

Es brodelt …

In Österreich blieb der versprochene schnelle Sieg aus, die Versorgungslage für die Bevölkerung verschlimmerte sich. So ließ die Kriegsbegeisterung 1916/1917 nach, der Einfluss der Linken innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SdAP) wuchs. Die Stimmung der ArbeiterInnen wurde immer radikaler und die sozialdemokratische Führung änderte langsam ihre Kriegsposition. Der Friede durch Massendemonstrationen und Massenkundgebungen wurde nun propagiert.

Ein Ausdruck der Unzufriedenheit war 1916 die Ermordung von Ministerpräsident Graf Stürkh durch Friedrich Adler, dem Sohn des Gründers der österreichischen Sozialdemokratie Viktor Adler. Friedrich Adler besetzte damals schon führende Funktionen innerhalb der Sozialdemokratie, so war er Sekretär der zweiten Internationale. Adler wollte mit seiner Tat ein Signal setzen, doch tatsächlich zeigte sie nur, dass Adler mehr an seinen eigenen Revolver als an die sich radikalisierenden Massen glaubte.

Im Gegensatz dazu politisierten und radikalisierten sich vor allem Frauen und Jugendliche, die – nachdem die Männer an die Front mussten – in den Rüstungsfabri-ken arbeiteten, und drängten in Gewerkschaft und Sozialdemokratie. Für die revolutionäre Linke war diese Radikalisier-ung eine Chance, neue Schichten für ihre Politik anzusprechen. Aber auch die Sozialdemokratie reagierte auf die geänderten Verhältnisse, es entstand das Phänomen des "Austromar-xismus" (mehr im Kasten seitlich), der sich durch radikale Worte, aber reformistische Politik ausdrückte.

Der bedeutendste Führer dieser Strömung war Otto Bauer, der auch ihren linken Flügel repräsentierte. Am rechten Rand stand vor allem Karl Renner, der spätere Staatskanzler.

Drei getrennte politische Linien entwickelten sich 1916/1917 innerhalb derjenigen, die in Opposition zum Parteivorstand standen. Die Strömung um Otto Bauer wurde bald mehrheitsfähig, auf sie bezog sich Viktor Adler, als er 1918 erklärte, dass "die Linke nicht siegen konnte über die Rechte, da es gar keine Rechte mehr gab".

Eine zweite Strömung bildete sich rund um Friedrich Adler. Doch versöhnte sich diese 1918 mit der Parteiführung und wurde zum linken Aushängeschild der Sozialdemokratie für all jene ArbeiterInnen, die sich radikalisiert hatten. Eine bedeutende Rolle in diesem Reintegrationsprozess spielte Friedrich Adler selbst, der sich, nachdem er 1918 aus dem Gefängnis entlassen wurde, ebenfalls für die Sozialdemokratie aussprach. Durch diese erfolgreiche Integration wurde die Gründung einer stark kommunistischen Partei im Keim erstickt.

Die dritte Strömung, das "Aktionskomitee der Linksradikalen" – die sogenannten "Linksradikalen" -, orientierte auf die Zimmerwalder Linke. Sie distanzierte sich immer mehr von der Parteiführung und den nun reintegrierten "Linken" und betrieb eine kompromisslose Antikriegs-Politik. Mit dieser Politik konnten sie vor allem unter jungen ArbeiterInnen und StudentInnen hohe Zugewinne erzielen, im Frühjahr 1917 erhielten sie für kurze Zeit sogar die Oberhand in der Parteijugend. Die revolutionären Ereignisse in Russland im Februar und Oktober 1917 verstärkten diese Radikalisierung der ArbeiterInnen in Österreich. Immer wieder wurden ArbeiterInnen aufgefordert, sich an Russland ein Beispiel zu nehmen. So schrieben die "Revolutionären Sozialisten" in einem Aufruf "Lernet Russisch, lernet von Petersburg!".

Jännerstreik

Die erfolgreiche Oktoberrevolution (nach westlichem Kalender der 7. November) in Russland hatte massive Auswirkungen auf die internationale ArbeiterInnenbewegung. In Russland propagierten die Bolschewiki nach ihrer erfolgreichen Revolution den Frieden, international wuchs die Unterstützung für diese Politik. Das Bedürfnis nach einem Ende des Krieges stärkte in allen Ländern jene Organisationen, die dies forderten. So waren bei den Friedensverhandlungen in Wien am 11. November 1917 Parolen wie "Gebt uns den Frieden wieder oder wir legen die Arbeit nieder" zu hören.

Aus dieser Situation und dem damit verbundenen internationalen Aufschwung für die radikale Linke begann am 14. Jänner 1918, ausgelöst durch eine 50%ige Kürzung der Mehlrationen, im Daimler-Motorenwerk in Wiener Neustadt eine riesige Streikwelle, der sogenannte Jännerstreik. Am Höhepunkt beteiligten sich 750.000 ArbeiterInnen in der gesamten Monarchie am Streik. Bereits am Tag nach dem Beginn dehnte sich der Streik über das südliche Niederösterreich und Wien aus. Bald waren alle Industriegebiete der Monarchie von der Streikwelle ergriffen. Vor allem im Wiener Neustädter Gebiet war der Wunsch nach einer sofortigen Annahme des russischen Friedensangebotes zu einer zentralen Forderungen erhoben worden.

Rätebewegung

In diesem Streik spielte das "Aktionskomitee der Linksradikalen" eine wesentliche Rolle. Die "Linksradikalen" hatten unter fortschrittlichen ArbeiterInnen vor allem in den Industriezentren im Wiener Becken und in Wiener Neustadt einen gewissen Masseneinfluss. Ihr Vorbild war die russische Rätebewegung und sie forcierte den Streik in diese Richtung. In Wiener Neustadt wurde eine Streikleitung gewählt, in den Betrieben gründeten sich nach russischem Vorbild ArbeiterInnenräte.

Der Jännerstreik wurde zur entscheidenden Auseinandersetzung zwischen den Organisationen der radikalen Linken und der Sozialdemokratie. Der Streik wurde sehr bald von der sozialdemokratischen Führung abgewürgt, die sich auf eine Mehrheit in den neuen Räten stützen konnte (die Räte existierten sogar noch bis 1924). Die Reaktionen der ArbeiterInnen auf das Abwürgen des Streiks wurde von wütenden und vereinzelt sogar militanten Protesten begleitet, so wurde Karl Renner in Wiener Neustadt von Streikposten festgenommen.

Die Unerfahrenheit der Linksradikalen und der massive Einfluss der verräterischen Sozialdemokratie waren die Hauptgründe für die Niederlage. Es folgte eine Repressionswelle. Ein Großteil der wenigen überzeugten Linksradikalen wurden an die Front abkommandiert oder in Gefängnisse geworfen. Dadurch fand eine Zerschlagung der "Linksradikalen" statt. Nach einigen weiteren – ebenfalls erfolglosen – Streikwellen, die größte davon im Juni 1918, war auch die Demoralisierung bei den übrigen Linksradikalen sehr hoch. Viele der im Jänner und Juni aktiven Linksradikalen zogen sich bis in den Herbst teilweise völlig aus der politischen Arbeit zurück.

Nach der Niederschlagung der Jännerstreiks begannen im Februar 1918 in Cattaro, dem Kriegshafen der österreich-ungarischen Monarchie, die Matrosen zu meutern. Schiffe wurden besetzt, Offiziere festgenommen und die rote Fahne wurde gehisst. Zuvor hatten schon die Arbeiter des Geräte- und Waffendepots gestreikt. Eine weitere Streikwelle erfasste im April Graz und Bruck an der Mur. In Wien wurde nochmals im Juni gestreikt, in der Armee gab es einen weiteren Aufstand Ende Mai.

Bei allen Streiks verwendete die Sozialdemokratie ihr Gewicht in den Räten, um eine weitere Politisierung der Streiks zu verhindern und die Forderungen auf ökonomische Fragen zu beschränken. Dies ermöglichte den Habsburgern eine Verlängerung ihrer Herrschaft. Gleichzeitig erkannten führende Kreise, dass sie auf die Hilfe der Sozialdemokratie angewiesen waren, um die ArbeiterInnen in Schach zu halten und diese auch gern bereit war, diese Hilfe zu geben.

Ende des Krieges und Ausrufung der RepublikAm 3. November 1918 wurde ein Waffenstillstand zwischen Österreich-Ungarn und den Mächten der Entente, Großbritannien, Frankreich und den USA, geschlossen. Deutschland und Österreich-Ungarn hatten den Krieg verloren. Sie waren dabei nicht nur an militärischen Fragen gescheitert. Gerade in Österreich-Ungarn spielte die Nationalitätenfrage eine wesentliche Rolle. Gegen Ende des Krieges erstarkten Selbstbestimmungsbewegungen der einzelnen Völker, letztlich zerfiel die Monarchie in eine Reihe von Nationalstaaten, die sich als unabhängig von Österreich erklärten. Die Monarchie selbst überlebte den Zerfall Österreich-Ungarns nur um wenige Tage, am 12. November wurde die Republik ausgerufen.

Und bereits am Tag der Ausrufung, dem 12. November 1918, kam es zu Schüssen und Toten. Einige kommunistische Arbeiter, Mitglieder der "Roten Garde", holten die gerade frisch aufgezogene rot-weiß-rote Fahne wieder vom Parlament, trennten den weißen Teil heraus und hißten die rote Fahne, worauf es zu Tumulten kam und ein Schusswechsel zwischen den Rotgardisten auf der einen Seite, der Polizei und der sozialdemokratischen "Volkswehr" auf der anderen Seite begann. Doch der Wille der Mehrheit der Wiener Bevölkerung war klar. Eines der bekanntesten Bilder dieses Tages zeigt ein Transparent mit den Worten "Hoch die sozialistische Republik" vor dem Parlament. Dieses Transparent symbolisiert am besten die Stimmung jener Tage.

Für die meisten Bürgerlichen war klar, dass nun die Revolution ausbrechen würde. Sie waren daher bereit, in der Sozialpolitik gewisse Zugeständnisse zu machen. So wurden der Achtstundentag und das Betriebsrätegesetz eingeführt (weitergehende Umwälzungen wie die Vergesellschaftung der Industrie wurden hinausgezögert und verschoben und schließlich stillschweigend ad acta gelegt).

Unterstützt wurde diese Angst der Bürgerlichen etwa durch die Besetzung der "Neuen freien Presse" (heute "Die Presse") durch Rote Garden kurz nach der Ausrufung der Republik. Die Führer der Roten Garden waren der später als "rasender Reporter" bekannt gewordene Egon Erwin Kisch, der Schriftsteller Franz Werfel und Leo Rothziegel, der später bei der Verteidigung der ungarischen Räterepublik fiel (die KPÖ entsendete 1200 Freiwillige nach Ungarn). Später vereinigten sich die Garden mit der Kommunistischen Partei Österreichs. Real waren solche ultralinken Aktionen wie die Besetzung der Presse aber wohl eher nutzlos. Militärische Aktionen konnten die Verankerung in der Klasse nicht ersetzen.

Hätte sich die Sozialdemokratie an die Spitze der Bewegung gestellt, wäre eine Weiterführung der bürgerlichen Revolution zu einer sozialistischen möglich gewesen. Statt dessen tat die Sozialdemokratie alles, um die Revolution im bürgerlichen Rahmen zu halten und ging sogar eine Koalitionsregierung mit den Christlich-Sozialen ein. Staatskanzler wurde der rechte Austromarxist Karl Renner.

"Sozialdemokraten"

Als die revolutionäre Bewegung 1919 abgeflaut war, wurde die Sozialdemokratie wieder aus der Regierung gedrängt. Motto: "Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen." Doch was möglich gewesen wäre, wusste auch Otto Bauer. Er meinte später in einer Rede: "Keine bürgerliche Regierung hätte diese Aufgabe [Anmerkung: die Massen zu beruhigen] bewältigen können. Sie wäre binnen acht Tagen durch Straßenaufruhr gestürzt, von ihren eigenen Soldaten verhaftet worden. Nur Sozialdemokraten konnten diese Aufgabe von beispielloser Schwierigkeit bewältigen. Nur Sozialdemokraten konnten wild bewegte Demonstrationen durch Verhandlungen und Ansprachen friedlich beenden, die Arbeiterklasse von der Versuchung zu revolutionären Abenteuern abhalten".

Und Otto Bauer hatte leider absolut recht mit seiner Einschätzung. Sogar der spätere austrofaschistische Diktator Schuschnigg nennt in seinem Buch "Im Kampf gegen Hitler": die "erfolgreiche Abwehr der kommunistischen Parolen und kommunistischer Brachialgewalt im Jahre 1919 ein ausschlaggebendes Verdienst der Sozialdemokraten, das unbestritten bleibt", ist.

Mit ihrer radikalen Sprache schaffte es die Sozialdemokratie, die Bewegung vollständig zu vereinnahmen und zu kanalisieren. Obwohl es, wie in vielen anderen europäischen Ländern, eine starke Rätebewegung gab, führte diese nicht zu einer Revolution, ja nicht einmal zu einer kurzfristigen Rätere-gierung wie in Bayern oder Ungarn im Jahr 1919. Die dortigen Räteregierungen wurden zwar in Worten unterstützt, doch dazu, sich die dortige revolutionäre Umgestaltung als Vorbild für das eigene Handeln zu nehmen, konnte sich die Sozialdemokratie nicht durchringen. Doch gerade sie hätte hier eine Schlüsselrolle gespielt. Geographisch liegt Österreich in der Mitte zwischen Bayern und Ungarn, gemeinsam hätten die drei Länder einen mächtigen revolutionären Block in der Mitte Europas gebildet.

Doch die Sozialdemokratie beschränkte sich auf Solidaritätsschreiben und Solidaritätsbekundungen, obwohl die ArbeiterInnen die Unterstützung Räte-Ungarns und Räte-Bayerns forderten und zeitgleich in Österreich ein neuer revolutionärer Aufschwung mit einer großen Streikbewegung einsetzte. Entgegen diesen Forderungen blieben die beiden Räteregierungen isoliert und wurden niedergeschlagen – in Konsequenz bedeutete das auch die Isolation der jungen Sowjetunion. Und Lenin und Trotzki warnten schon damals davor, dass diese Isolation in die Niederlage führen würde. Die spätere Entwicklung hin zum Stalinismus hat diese Ahnung bestätigt.

Anders als in Rußland fehlte in Österreich eine starke revolutionäre Partei wie die Bolschewiki, die bereit gewesen wäre, die Revolution und den Aufbau des Sozialismus auch durchzuführen. Die ArbeiterInnen erwarteten, dass "ihre" Partei, die SDAP, sie ebenfalls zum Sozialismus führen würde, wie diese versprach. Die SDAP hatte die ArbeiterInnen unter Kontrolle, die ArbeiterInnenräte bekamen hauptsächlich Versorgungsaufgaben, bis sie Anfang der 20er schließlich jede Relevanz verloren. Ab einem gewissen Zeitpunkt war die Mitgliedschaft im ArbeiterInnenrat sogar an das Abonnement der Arbeiterzeitung, der Zeitung der SDAP, gebunden.

Die revolutionären Kräfte waren zu klein, zu schwach und zu unerfahren. In der Novemberrevolution selbst konnten sie kaum intervenieren, nach dem Jännerstreik waren die meisten ihrer Kader an der Front. Diejenigen, die schließlich die KPDÖ (Kommunistische Partei Deutsch-Österreichs) gründeten, hatten kaum Verankerung in den Betrieben. Die KPDÖ (später KPÖ-Kommunistische Partei Österreich) galt von Anfang an als Partei der Arbeitslosen, der Kriegsheimkehrer (1921 erreicht die KPÖ bei der Wahl der Soldatenräte 22.5 Prozent der Mandate) und des "Lumpenproletariats" (TagelöhnerInnen, BettlerInnen,…). Bis 1934 blieb die KPÖ eine Randerscheinung. Die Meinung vieler SDAP-Mitglieder war: "in Deutschland wäre ich natürlich in der KPD, aber in Österreich ist das nicht notwendig".

Möglicherweise wäre es auch für die jungen revolutionären Kader sinnvoller gewesen, länger in der Sozialdemokratie zu bleiben und dort für die Unterstützung revolutionärer Ideen zu werben ("Entrismus"). Dies versuchte etwa die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft Revolutionärer Arbeiterräte (SARA) unter dem Vorsitzendes des Wiener Arbeiterrates und späteren Führer des österreichischen Trotzkismus, Josef Frey, die sich erst 1921 mit der KPDÖ vereinigte. Gerade im neuerlichen revolutionären Aufschwung 1919 hätte sie hier möglicherweise mehr Einfluss nehmen können. Die KPDÖ stieg zwar in der Bewegung von 10.000 auf 40.000 Mitglieder, doch nach dem Abflauen der Bewegung hatte sie Ende 1919 wiederum nur 10.000 Mitglieder, 1927 waren davon noch ca. 3.000 übrig.

Anders als in Deutschland, wo eine starke kommunistische Partei entstand, dominierte in Österreich der sozialdemokratische linksreformistische Flügel, der es verstand, eine radikale Sprache zu entwickeln. Doch dieser Druck und die Angst vor einer Massenabspaltung machte die österreichische Sozialdemokratie zur wahrscheinlich am weitesten links stehenden sozialdemokratischen Partei nach dem Ersten Weltkrieg. Und bis 1934 ging die Rechnung auf. Allerdings griff die Sozialdemokratie trotz aller radikalen Reden hin und wieder auch zu anderen Mitteln. 1919 überfiel die Polizei mit Billigung der SDAP eine kommunistische Demonstration, Resultat waren 17 Tote und 84 Schwerverletzte.

Die Niederlage und ihre Rechtfertigung

Nach der stillschweigenden Zustimmung der österreichischen Sozialdemokratie zum Ersten Weltkrieg war der Verrat an der Revolution bereits die zweite schwere Niederlage der ArbeiterInnenbewegung innerhalb weniger Jahre. Diese Weigerung, die Revolution durchzuführen, die Weigerung, die Macht, die in der Hand der SDAP lag, auch zu übernehmen, wurde auch theoretisch untermauert. Österreich allein sei zu schwach, um es mit dem ganzen europäischen Kapital aufzunehmen. Die Folgewirkung für ganz Europa allerdings, die ein sozialistisches Österreich gehabt hätte, dass die Lücke zwischen Rätebayern und Räteungarn gefüllt hätte und sich auf die Seite dieser Länder und der revolutionären Sowjetunion gestellt hätte, blieb unerwähnt. Vor allem die deutsche Revolution hätte dadurch einen enormen Auftrieb erhalten.

Statt dessen stellte Otto Bauer die ,,Klassengleichgewichtstheorie" auf: ,,Ist keine Klasse mehr imstande, die andere niederzuwerfen und niederzuhalten, dann hört die Staatsgewalt auf, ein Herrschaftsinstrument einer Klasse zur Beherrschung einer anderen Klasse zu sein." Der Staat wäre also auf einmal von einem Instrument der KapitalistInnen zu einem neutralen Etwas geworden. Im BürgerInnenkrieg des Februar 1934 bekam die SDAP die Rechnung für diese Theorie präsentiert. Denn diese fatale Fehleinschätzung, die auch alle Theorien von Marx und Engels über den Haufen warf, auf die sich Bauer ja immerhin bezog, läutete nicht nur einen weiteren theoretischen Niedergang ein, sondern führte auch praktisch direkt in den Austrofaschismus.

Die Schlussfolgerung aus diesem Artikel überlassen wir der Arbeiter-Zeitung, der langjährigen Parteizeitung der SPÖ. 1951 meinte sie: "das österreichische Bürgertum […] müßte täglich seinem Gott auf den Knien danken und beten, daß die österreichische Sozialistische Partei recht stark bleibe." Manche Dinge ändern sich eben nicht …

Quellen:
*AGM, Die Föderation revolutionärere Sozialisten "Internationale" (Kleine Schriftenreihe zur österreichischen ArbeiterInnengeschichte)
*Der Weg in den Februar
*Morgenrot 14, Josef Frey
*Bucharin, Das ABC des Kommunismus
*Kurze Chronik zur Geschichte der KPÖ,
http://www.klahrgesellschaft.at/Chronik.html *Trotzki "Mein Leben"
*Vorwärts Nr. 5