Vom “Streik light” zur Niederlage

Drei Tage nach dem "Streiktag" der Gewerkschaften erklärte ÖGB-Präsident Verzetnitsch, dass "nun die Abgeordneten" am Zug seien. Der ÖGB werde "eine Mehrheitsentscheidung der Abgeordneten zur Kenntnis nehmen, allerdings nicht akzeptieren" Am 3. Juni hat sich immerhin nach ÖGB-Angaben eine Million Beschäftigte in 18.000 Betrieben an  Aktionen beteiligt – trotzdem wurden die Abläufe in den meisten Betrieben nicht ernsthaft gestört.

Das war kein Zufall: Eine Gewerkschaftsbürokratie, die seit ihrem Streikbeschluss vom 24. April nichts anderes tut, als alle ihre Aktivitäten auf eine "Sozialpartnerlösung" hin zu orientieren, kämpft nicht wirklich. Wie Bauern auf dem Schachbrett werden die Gewerkschaftsmitglieder herumgeschoben, und die Bürokratie, welche die Figuren bewegt, legt es nicht einmal auf ein Schachmatt an – offensichtlich hat man von Haus aus auf ein Remis gespielt. Dadurch aber öffnet man dem Gegner alle Möglichkeiten zur Gegenoffensive – und die bahnt sich bereits an.

 

Chronik einer angekündigten Kapitulation

"ÖVP-Klubobmann Molterer hat schon recht, dass sich die Bundesregierung bei der Pensionsreform bewegt hat. Er verschweigt aber, dass sie es erst tat, als der Druck des ÖGB durch seine Aktionstage am 6. Mai und 3. Juni und durch seine Groß-Demonstration am 13. Mai so groß wurde, dass sie nicht mehr anders konnte", stellte die Leitende Sekretärin des ÖGB Roswitha Bachner fest.

Hätte der ÖGB nicht bundesweit mobilisiert und aktiviert, wäre die Regierung nie bereit gewesen, über Änderungen bei der Pensionsreform überhaupt nachzudenken. Die Regierung solle jetzt nicht so tun, als ob dies ohnehin immer geplant gewesen wäre. Wäre die Bundesregierung von Anfang an einer sozial fairen Lösung interessiert gewesen, dann wären die ursprünglich vorgelegten Pensionspläne überhaupt nicht auf den Tisch gelegt worden. Was die nunmehr neuerlichen Änderungen betrifft, müsse man sich diese, wenn sie in schriftlicher Form vorliegen, sehr genau ansehen. "Denn wir haben gelernt, dass bei dieser Bundesregierung besonders genau das 'Kleingedruckte' gelesen werden muss", so die Leitende Sekretärin in der ersten Presseaussendung des ÖGB nach dem 3. Juni.

Noch acht Tage zuvor, nach dem Scheitern des x-ten Runden Tisches, hatten die ÖGB-Bürokrat/inn/en die "Kompromissvorschläge" von Schwarz-Blau völlig zurecht als ungenügend und unsozial abgelehnt. Die angebliche Deckelung der Pensionsabschläge bei 10% wurde völlig zu Recht als Taschenspielertrick denunziert – denn in Wirklichkeit führen die flankierenden Maßnahmen des Pensionsraubpakets selbst bei dieser "günstigsten aller Varianten" zu Abschlägen um die 14, 15%. Die Abschaffung der Frühpensionen wird statt bereits 2013 also "erst" 2017 stattfinden – also wenn das kein Erfolg des Drucks des ÖGB ist…

Man werde sich die Änderungen in gedruckter Form ansehen, heißt es nun. Und Fritz Verzetnitsch erklärt auf der ersten Presskonferenz nach den "Aktionen" des 13. Juni seine "Strategie": Die Kritikpunkte der Gewerkschaften blieben aufrecht. Anstelle einer ausgewogenen Pensionsreform in einem Guss plane die Regierung eine kurzfristige Geldbeschaffungsaktion zur Finanzierung der Steuerreform. In einem nächsten Schritt sollen nun die Nationalratsabgeordneten von den Forderungen des ÖGB überzeugt werden. Ziel des ÖGB bleibe weiterhin die Zurückstellung des Entwurfes und die Erarbeitung eines harmonisierten Gesamtkonzeptes. Kein Wort von weiteren Streiks, kein Wort selbst von Aktionstagen, stattdessen eine nebulose „Infokampagne“. Selbst bei einigen Spitzenbürokrat/inn/en des ÖGB hat dieser "Streiktag" einen schalen Nachgeschmack hinterlassen.

Die Großdemonstration am 13. Mai mit ihren bis zu 200.000 Teilnehmer/inne/n hat gezeigt, dass die Gewerkschaften in den Betrieben sehr wohl noch organisieren können; und sie hat gezeigt, dass sich die Massen sehr wohl noch mobilisieren lassen, dass sie bereit sind, gegen eine scharfe und brutale Attacke der Regierung der herrschenden Klasse auf die Straße zu gehen.

Genau das ist auch der wirklich positive Aspekt der von oben dirigierten Bewegung, die um den 20. April herum begonnen hat: Die soziale Friedhofsruhe in Österreich ist nachhaltig erschüttert worden. Streiks und Demonstrationen, über Jahrzehnte von der Gewerkschaftsbürokratie als Kampfmittel verfemt, sind nun plötzlich als Form des Widerstandes gegen unsoziale Regierungsmaßnahmen legitimiert worden – und haben gezeigt, dass Klassenkampfmethoden ein für die Bourgeoisie viel gefährlicheres Potential haben als noch so eindringliches kreatives Protestieren der linksliberalen Zivilgesellschafter/innen. Aber diese positive Seite der Streiks darf nicht überbewertet werdenn – die österreichische Arbeiter/innen/klasse ist von ihren sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Führer/inne/n nun bereits seit Generationen in einem Geist völliger Passivität erzogen worden, der nicht von einem Tag auf den anderen überwunden werden kann. Auch die Aktionen des Frühsommers 2003 wurden von oben organisiert und zwar so, dass eine eigenständige Einflussnahme von Unten her völlig abgewürgt wurde.

Das Ausmaß der Mobilisierung des 13. Mai hat tatsächlich etwas bewegt. Die Risse zwischen ÖVP und FPÖ brachen offen auf. Paradoxerweise ebnete ausgerechnet der gewerkschaftliche Protesttag Jörg Haider den Weg zurück in die bundespolitische Arena – wie immer spielte der Rechtspopulist aus dem Bärental die Karte des "Kleinen Mannes", drohte mal Schüssel, mal Haupt und brachte sich so wieder voll ins Spiel. Der Charakter der FPÖ hat sich dadurch kein Jota geändert, wie die Zustimmung der FPÖ zum "nachgebesserten" Pensionspaket Schüssels zeigt.

Bereits das Eingehen der Gewerkschaftsbürokratie auf die Idee der "Runden Tische" ließ das Schlimmste befürchten – hätte es Schüssel nicht wieder einmal darauf angelegt, seine Gesprächs"partner" so weit wie möglich zu demütigen, hätte Verzetnitsch ohne Zweifel schon viel früher das Handtuch geworfen.

Die harte Linie Schüssels hatte von Haus aus ein klares Ziel: Den Einfluss der Gewerkschaften so weit wie möglich zurückzustutzen, die einzig relevante noch verbliebene Oppositionskraft in Österreich – die auf einer "sub-politischen", nämlich rein gewerkschaftlichen,  Ebene organisierte Arbeiter/innen/klasse – so weit wie möglich zu schwächen und damit das letzte Hindernis für die Durchsetzung seiner neoliberalen Politik im Dienst des Kapitals aus dem Weg zu räumen.

Trotzdem wäre es falsch, in Wolfgang Schüssel so etwas wie die männliche Version der unseligen "Eisernen Lady" Margaret Thatcher zu sehen, die in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts generalstabsmäßig den Bergarbeiterstreik zerschlug und damit eine so bedeutende Schwächung der britischen Gewerkschaften herbeiführte, dass diese bis heute keine wirkliche Gefahr mehr für die Angriffe der Bourgeoisie auf die Arbeiter/innen/klasse darstellen. Denn auch innerhalb der österreichischen Kapitalist/inn/enklasse ist es nicht so einheitlich, welcher Weg nun gegenüber den Gewerkschaften eingeschlagen werden soll: Der offene und brutale Klassenkampf von oben, wie ihn primär die Industriellenvereinigung forciert, oder doch der integrative Weg einer "Sozialpartnerschaft neu" oder "Sozialpartnerschaft light", wie ihn vor allem das kleinere und mittlere Kapital rund um seine Galeonsfigur Christoph Leitl vorziehen würde.

Den ÖGB-Bürokrat/inn/en wiederum ging es primär um eines: Um jeden Preis die Sozialpartnerschaft am Leben zu erhalten – und sei es unter Einsatz des Kampfmittels Streik. Daher das ewige Lamento nach einer Pause bis September, um den Sozialpartnern die Möglichkeit zu einem "gemeinsamen Vorschlag für eine sozial gerechte Pensionsreform" zu geben.

 

Der Weg zum "Streikerl"

Verzetnitschs Spielraum jedoch war von Haus aus eingeengt – immerhin stehen am ÖGB-Bundeskongress organisatorische Umstrukturierungen und seine Wiederwahl auf der Tagesordnung. Und neben der Pensionsreform lag einigen Gewerkschaftsführern noch einiges anderes am Herzen und im Magen:

➢ Die Postgewerkschaft sieht sich im Vorfeld der völligen Privatisierung des Unternehmens einer neuen, massiven Rationalisierungswelle gegenüber – bis zu 6.000 Postler/innen werden diesmal ihre Arneitsplätze verlieren.

➢ Die Umstrukturierung der ÖBB nach streng betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten wird zu Kündigungen, einer Erhöhung des Arbeitsdrucks und der "Auslagerung" von Beschäftigten in neugegründete Firmen führen, wodurch soziale Ansprüche und Löhne deutlich gedrückt werden sollen.

➢ Die Sparpolitik der Regierung stellt das gesamte Bildungswesen in Frage – Stundenreduktionen an den Schulen, die Vollrechtsfähigkeit für die Unis, die Privatisierung der Bibliotheken – das alles gefährdet nicht nur Tausende Arbeitsplätze im Bildungsbereich, sondern gefährdet zugleich die Qualifikationschancen der Jugend.

➢ Die ÖIAG-Betriebe stehen samt und sonders vor der völligen Verscherbelung an das Privatkapital – das wird im Falle der voestalpine und der VATech Filetierung und Zerschlagung bedeuten und ganze Regionen in Industriefriedhöfe verwandeln.

Kein Wunder also, dass besonders aus diesen  gewerkschaftlichen Bereichen deutlicher Druck auf den ÖGB ausgeübt wurde, die asozialen Maßnahmen der Regierung zu stoppen.

Die höhere gewerkschaftliche "Kampfbereitschaft" spiegelt natürlich die wachsende Empörung an der Basis, in den Betrieben und Dienststellen, wider. Von ihrer ganzen Logik der "Partnerschaft" mit dem Kapital her jedoch sind auch die Herren Fritz, Haberzettl und schon gar nicht Neugebauer daran interessiert, wirkliche Kämpfe zu beginnen oder zu führen.

Wurde also aus sehr verständlichen Gründen eine sofortige und offensichtlich blamable Kapitulation vor der Regierung vermieden, wurde zugleich an einer Methode gearbeitet, ohne allzu großen Gesichtsverlust nachgeben und dennoch seinen Wert als Garant der "Sozialpartnerschaft" (d.h. der Kontrolle über die Arbeiter/innen und Angestellten) beweisen zu können.

Damit war der Kurs auf das "Streikerl" am 3. Juni vorgegeben. Mit dem fadenscheinigen Argument, man wolle ja nicht "die Bevölkerung" treffen, scherten ganze Gewerkschaften de facto aus der [theoretischen] Streikfront aus: Die Gemeindebediensteten bestreikten zwar die öffentlichen Verkehrsmittel – flankierende Maßnahmen wie Straßenblockaden, zu denen etwa die GPA sehr wohl fähig gewesen wäre, blieben aber aus. Im Gesundheitsbereich beschränkte man sich auf symbolische Protestaktionen, die lediglich ein paar hundert Beschäftigte zu Alibikundgebungen auf die Straßen brachten. Bei den ÖBB bestreikte die GdE den Personenverkehr – der wirklich profitable Güterverkehr allerdings wurde auch am 13. Juni lückenlos aufrecht erhalten. Auch im Flugverkehr gab es kaum echte Beeinträchtigungen. In der Industrie wurden keine strategisch wichtigen Produktionsbereiche lahmgelegt, die Hochöfen wurden nicht heruntergefahren; die GPA beschränkte sich in der Regel auf mehrstündige Betriebsversammlungen.  Alles ging irgendwie seinen normalen Gang.

 

Die Bourgeoisie holt zum Schlag gegen gewerkschaftliche Rechte aus

 

Die offensichtliche Kampfunlust des Gewerkschaftsapparates spielt den Scharfmachern im Lager der Bourgeoisie in die Hände. Seit Beginn der gewerkschaftlichen Proteste gibt es eine aufsteigende Linie der Repression:

➢ in Salzburg wurden bei der Post Betriebsräte entlassen (entlassen, nicht gekündigt, wohlgemerkt!) und mit Schadenersatzforderungen überschüttet;

➢ bei der ÖIAG hetzt Vorstandsvorsitzender Michaelis die Wirtschaftspolizei auf die Postgewerkschafter, die im Aufsichtsrat sitzen, weil sie angebliche "Interna" verraten hätten;

➢ im öffentlichen Dienst werden "Schwarze Listen" von Streikenden angelegt und Finanzminister Grasser kündigt ein zwischen ÖVP und FPÖ akkordiertes Gesetz an, das Beamt/inn/en generell das Streikrecht nehmen soll;

➢ in Wien klagt der ÖVP-Pensionistenbund die Wiener Linien auf Schadenersatz, da Zeitkartenbesitzer wegen des Streiks die Öffis nicht benutzen konnten – mit dem klaren Hintergedanken, dass die Gemeinde Wien in weiterer Folge die Gewerkschaft der Gemeindebediensteten klagen wird, um den Schaden gering zu halten.

Wenn man vom ÖGB als Reaktion zumindest Protesterklärungen oder gar Straßenproteste erwartet, täuscht man sich – das Abwieglertum geht weiter, sogar dann, wenn substanziell gewerkschaftliche Freiheiten angegriffen werden.

Wenn wir das Ensemble dieser Angriffe betrachten, drängt sich ein Verdacht auf: Die Bourgeoisie scheint durch eine Reihe juristischer Maßnahmen den derzeitigen Zustand beenden zu wollen, dass Österreich kein kodifiziertes Streikrecht kennt. Eine Reihe von Präzedenzurteilen könnte einer Entwicklung den Weg bahnen, die eine gesetzliche Reglementierung von Streiks vorbereitet. Was das bedeutet, sieht man im Nachbarland Deutschland, wo Stillhaltefristen und einstweilige Verfügungen von Landgerichten "legale" Streiks vom Kampfmittel zum bürokratischen Hürdenlauf machen. Diesen Tendenzen müsste auf das schärfste entgegengetreten werden – und der ÖGB schweigt.

 

Einen Streik, der niemandem wehtut, kann es nicht geben

Unisono konnten die bürgerlichen Medien am 4. Juni vom "Streik, der niemandem wehtut" berichten – und sie haben nur teilweise unrecht. (Im Gegensatz zum 6. Mai hatte der ÖGB diesmal auf einen Streik bei den Tageszeitungen verzichtet – mit dem formal-demokratischen Argument, man habe "einen Fehler" gemacht, indem man die "freie Information" behindert habe. Dass die "freie Information" der Presse immer die Information im Dienste der Zeitungsherausgeber ist, sagte man wohlweislich nicht dazu…).

Dieser Streik hat weh getan – und zwar all jenen Arbeiter/inn/en, Angestellten und Jugendlichen, die wirklich den Pensionsraub verhindern wollten. Denn nicht viel besser als gar kein Streik ist ein halbherziger Pseudostreik, der sich als Theaterdonner entpuppt, und bei dem diejenigen, die ihn letztlich tragen sollen das Gefühl bekommen, nichts anderes als Marionetten in einem undurchschaubaren Machtspiel zu sein.

Glaubt die Gewerkschaftsbürokratie tatsächlich, dass viele der schlecht bezahlten, oft auf Teilzeit arbeitenden, weiblichen Handelsangestellten böse gewesen wären, wenn ihnen der Weg zur Arbeit blockiert worden wäre? Oder ist es nicht eher so, dass gerade im Handel viele nicht streiken konnten, obwohl sie wollten, bloß weil es im Handel einen wirklich starken Druck auf die Beschäftigten gibt? Wären die Voestler wirklich darüber schockiert gewesen, wenn die Walzstraßen für einen Tag gestanden wären?

Der Pseudostreik vom 3. Juni kann zu einer gefährlichen Demoralisierung der Arbeiter/innen/klasse führen. "Da streikt eine Million, und die Regierung fahrt trotzdem über uns drüber. Streiks bringen also eh auch nichts" – das kann die  Schlussfolgerung aus dem Schattenboxen der Gewerkschaftsbürokrat/inn/en sein.

Gerade deshalb ist es wichtig, dass die fortgeschrittensten Arbeiter/innen, Angestellten und Gewerkschaftsaktivist/inn/en eine realistische Bilanz der Ereignisse der vergangenen Wochen ziehen. Weder ist uns mit euphorischen Einschätzungen gedient, in denen die ÖGB-Streik-Inszenierung sogar mit der Streikwelle in Frankreich verglichen wird – denn in Frankreich gibt es tatsächlich massive Beeinträchtigungen der Produktion, gibt es tatsächlich massiven Druck aus den Betrieben auf die Gewerkschaftsführungen, kommt der Ruf nach einem Generalstreik nicht von kleinen Minderheiten in der Bewegung, sondern aus kämpfenden Sektoren der Klasse selbst. Noch ist uns mit defätistischem Gejammer geholfen – "In Österreich kann man halt nix machen, weil die Leute so passiv sind", wie es manche mittlere Gewerkschaftsfunktionäre jetzt anstimmen. Wir müssen wiederholen, was wir am Schluss unserer letzten Flugschrift formuliert haben (mit der wir im Rahmen unserer Möglichkeiten in die Bewegung gegen das Pensionsraubpaket interveniert haben):

"In Österreich ist der Weg zur Schaffung eines kämpferischen ÖGB, einer selbstorganisierten Streikbewegung bis hin zum unbefristeten Generalstreik und der Bruch mit der kapitalistischen Logik nach Jahrzehnten Sozialpartnerschaft und Passivität natürlich schwierig – gerade weil sozialdemokratische Reformist/inn/en die Arbeiter/innen/bewegung dominieren. Eine echte Änderung der Situation der Lohnabhängigen ist nur möglich, wenn diese Dominanz gebrochen wird. Deshalb ist der Aufbau einer revolutionären Arbeiter/innen/partei heute die zentrale Aufgabe."

 

Kurt Lhotzky, 7. Juni 2003

 

Sind die Abgeordneten am Zug, kommen die Arbeiter/innen unter die Räder

Geht es nach dem Willen des ÖGB-Präsidiums sind nun also "die Abgeordneten am Zug". Mit geradezu panischer Angst haben Verzetnitsch & Co in den vergangenen Wochen alles vermieden, was den ÖGB-Aktionen den Anstrich einer politischen Betätigung der Gewerkschaften geben hätte können. Und als von Dichand bis Klestil so ziemlich alles in dieser Republik, was dumpf und reaktionär ist, vor dem "Druck der Straße" warnte, beeilte sich Verzetnitsch sofort, das Hohelied der bürgerlichen Demokratie anzustimmen.

Die bürgerliche Demokratie mit ihren auf vier Jahren gewählten "Volksvertreter/inne/n" ist eine spezifische politische Ausformung des bürgerlichen Staates; und der Staat ist in seiner historischen Entwicklung der Ausdruck der Trennung der Gesellschaft in einander feindlich gegenüberstehende Klassen, Instrument der jeweils herrschenden Klasse, die ausgebeuteten Klassen und Schichten der Bevölkerung zu unterdrücken, die Ausbeutung so reibungslos wie möglich zu gestalten. Der Staat zeichnet sich nach Friedrich Engels aus durch "besondere Formationen bewaffneter Menschen und ihren materiellen Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller Art".

Die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, die den Feudaladel stürzten und die kapitalistische Produktionsweise absichern sollten, gaben sich in ihrem Anspruch demokratisch und egalitär: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" – Schlagworte, die jedoch für die arbeitenden Massen immer nur hohle Phrasen blieben. An den Eingängen zu den kapitalistischen Betrieben ist die bürgerliche "Demokratie" abzugeben. Dahinter herrscht blanke Diktatur. Die Besitzer/innen bestimmen, die Führungskräfte exekutieren und die Beschäftigten parieren und kuschen – oder fliegen raus. Auch die Erkämpfung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechtes durch die Arbeiter/inn/enbewegung änderte das nicht grundsätzlich.

Wahlen dienen im Kapitalismus dazu, die wahren Herrschaftsverhältnisse zu verschleiern. Bunte Plakate und infantile Sprüche sollen den Eindruck vermitteln, dass die arbeitenden Menschen durch ihr Kreuzchen auf dem Stimmzettel etwas entscheiden oder verändern können. Das bürgerliche Parlament ist eine „Quatschbude“ (Lenin) zur Verarschung der Lohnabhängigen. Die Wähler/innen, zumindest die, die nicht z.B. als Migrant/inn/en davon ausgeschlossen sind, dürfen am Ende einer Wahlkampagne, bei der die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ihre Finanzkraft in die Waagschale geworfen haben, darüber entscheiden, welche bürgerlichen Figuren den Staat in den nächsten Jahren repräsentieren sollen. Die Gewählten haben dann für diese Zeitspanne einen Blankoscheck, während die Wähler/innen nichts mehr zu melden haben. Die wirklichen Entscheidungen treffen die Konzerne, Kapitalistenverbände und ihre politischen Handlanger freilich hinter den Kulissen.

Gerade die Pensionsraubpläne von Schwarz-Blau sind ein schlagendes Beispiel dafür: Was haben Schüssel und Haider nicht alles den Wähler/inne/n versprochen – es werde zwar eine "Pensionsreform" geben, aber diese werde von massiven steuerlichen Entlastungen begleitet sein, für die Ärmsten würden Milch und Honig fließen… Nach den Koalitionsverhandlungen, in denen Grüne und SPÖ geradezu darum bettelten, in ein Kabinett Schüssel II aufgenommen zu werden und damit signalisierten, dass sie keinerlei prinzipielle Kritik an der neoliberalen Ausrichtung der ÖVP haben, waren all diese Wahlversprechen vergessen.

Die Regierungen kommen und gehen, die Polizei und die Armee bleiben immer die gleiche. In diesem französischen Spruch steckt eine tiefe Einsicht – man müsste sie noch ergänzen: Die Ministerialbürokratie und die Richter bleiben die gleichen. Bürgerliche Demokratie ist formale Demokratie. Vor dem Gesetz sind angeblich alle gleich, tatsächlich sind die Richter in keinster Weise demokratisch legitimiert, sondern vom bürgerlichen Staat ernannt, gehören in der Regel selbst der herrschenden Klasse an und sind meist entsprechend borniert und reaktionär. Das haben die Salzburger Post-Betriebsräte bereits am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Der bürgerliche Parlamentarismus kann nicht zur Transformation der Gesellschaft benutzt, der bürgerliche Klassenstaat kann nicht reformiert, sondern nur zerschlagen werden – und ersetzt durch eine proletarische Demokratie, einen Halbstaat (Lenin), der nicht wie der bürgerliche Staat von der Gesellschaft abgehoben ist, sondern direkt mit den Werktätigen verbunden ist, durch Delegierte, die jederzeit abwählbar sind und nicht besser bezahlt als normale Arbeiter/innen.

Jetzt die arbeitende Bevölkerung auf eine "Besinnung" bei den Abgeordneten einzuschwören, ist falsch, zynisch und neben dem Sozialpartnerschaftsgeschwafel der ÖGB-Bürokratie ein weiterer Stützpfeiler bei der Verteidigung der bestehenden gesellschaftlichen Zustände durch den Gewerkschaftsapparat.