Frankreich und der Algerienkrieg – Ein Krieg, der keiner sein durfte

Vor bald 40 Jahren, am 1. Juli 1962, wurde Algerien von Frankreich unabhängig . Lange Zeit wurde um diese Unabhängigkeit gekämpft. Der militärische Befreiungskampf der AlgerierInnen begann am 1. November 1954 – in ganz Algerien explodierten etwa zwanzig Sprengsätze. Das Datum gilt als Beginn des militärisch geführten algerischen Befreiungskampfs durch die FLN (Front de Libération National/Nationale Befreiungsfront Algeriens) gegen die Kolonialherrschaft Frankreichs.
Im November 1954 waren etwa 57.000 französische Soldaten in Algerien stationiert. Die französische Regierung Mendès-France lehnte Verhandlungen ab und verstärkte die Truppen, fünfzehn Monate später waren es schon über 400.000 Mann. Bis zur Unabhängigkeit des Landes 1962 verbrachten rund 1,7 Millionen Wehrdienstpflichtige Teile ihrer 27 Monate dauernden Dienstzeit in Algerien – fast 25.000 von ihnen starben, 60.000 wurden verletzt. Weitaus höher war die Zahl der Toten auf algerischer Seite. Nach Schätzungen starben etwas eine Million Menschen in den acht Jahren. Ab August 1955 weitete sich der Konflikt aus. Die FLN erhielt Waffen und Geld von den arabischen Nachbarstaaten, die auch die in Kairo sitzende provisorische Regierung Algeriens anerkannten.

Die Unterdrückung hatte bis dahin eine lange Geschichte. In den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts hatte Frankreich Algerien zur Kolonie erklärt und später ein Departement daraus gemacht, ohne jedoch den „Einheimischen“ BewohnerInnen die Staatsbürgerschaft und andere Grundrechte zu gewähren. Schon seit den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde von AlgerierInnen verstärkt die Unabhängigkeit gefordert – jedoch war Algerien französisches Siedlungsgebiet – zehn Prozent der Einwohner Algeriens waren französische Siedler (etwa 800.000 Menschen). Diese wiederum kontrollierten ein Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche und die gesamte, wenn auch wenig ausgebaute Industrie des Landes. Für die weitere Entwicklung Algeriens zeigte sich die Stärkung des Militärs während des Krieges entscheidend. Die Position wurde so gestärkt, dass es fortan bis heute nicht mehr möglich ist, ohne seine Erlaubnis zu regieren

Foltern, aber richtig

Die französische Armee hatte in Algerien umfassende Sondervollmachten, am 7. Januar 1957 übertrug man ihr die „Polizeigewalt“, die sie zur Errichtung von Lagern und zur Folterung von Zivilisten nützte, um aus diesen die Namen von UntergrundkämpferInnen herauszupressen. Die pensionierten Generäle Massu und Aus-saresses haben zugegeben, dass Gefangene systematisch gefoltert, misshandelt und „ohne Formalitäten“ exekutiert worden wären. Aussaresses räumte ein, dass er persönlich 24 algerische Widerstandskämpfer liquidiert habe und dass rund 3.000 „verschwundene“ Gefangene in Wirklichkeit „eliminiert“ worden waren – gleichwohl sehen sie noch heute die Notwendigkeit für die damals begonnenen Gräuelta-ten. Für den ehemaligen Militärgeistlichen Maurice Cordier ist die generelle Verurteilung der Folter während des Algerien-kriegs „leider nicht realistisch“. Zur Bekämpfung von Terroristen eingesetzt, sei sie nur „ein Übel, das der Vermeidung eines schlimmeren Übels dient.“ Auch der Führer der rechtsextremen FN, Le Pen, war nach Berichten der Zeitung Le Ca-nard enchaîné, als Fallschirm-jägerleutnant in Algerien aktiv an Folterungen beteiligt.

Psychologie

Zur psychologischen Kriegsführung gegen die Bevölkerung bediente sich die Armee der SAS („Sections administratives spéciales“), den ausser-halb legaler Kontrolle operierenden „administrativen Son-dereinheiten“. 1958 – der Krieg dauerte schon vier Jahre lang – wurde nach fünf Jahren Unterbrechung General De Gaulle wieder französischer Präsident und versprach „den Moslems“ (um das Wort Algerier, die es offiziell nicht geben durfte, zu umgehen) Selbstbestimmung, „gleiche Rechte und Pflichten als Franzosen“, Frieden und Gerechtigkeit. Er sprach nicht von „Krieg“, sondern vom „Bruderkampf“, und „kolonialer Strafaktion“ und dankte „der Armee, die hier ein großartiges Werk der Verständigung und Befriedung vollbringt“. Um die Unabhängigkeit zu umgehen, bemühte sich de Gaulle um Verhandlungen. Am 8.1.1961 lies er ein Referendum zur Einführung der Selbstbestimmung für Algerien in Frankreich abhalten, bei dem 75,2% mit „Ja“ stimmten.

Um eine Eskalation des auch in Frankreich geführten Kampfes (Bombenattentate) der FLN zu vermeiden, beugte er sich schliesslich der FLN. Algerien wurde gestattet, einen unabhängigen, souveränen Staat in den Grenzen der bisherigen französischen Verwaltung zu gründen – jedoch wurden den ehemaligen Kolonialherren Öl-konzessionen sowie das Recht auf Atomversuche im algerischen Teil der Sahara gestattet und den Algerien-FranzösIn-nen der Erhalt ihres Eigentums und der politischen Freiheit. Trotzdem verließen die meisten von ihnen fluchtartig das Land.

Französische Ignoranz

Über 40 Jahre lang blieb es für das offizielle Frankreich bei dieser Sprachregelung, obwohl der allgemeine Sprachgebrauch und selbst jener der Schulbücher die vernebelnde Redeweise bereits in den 70er Jahren aufgaben. Offiziell durfte der Krieg nach wie vor keiner gewesen sein. Erst vor kurzem beschloss die französische Nationalversammlung einstimmig ein Gesetz, in dem erstmals in einem offiziellen Dokument von „Algerienkrieg“ gesprochen wird. In der Sache werden durch das Gesetz die Veteranen des Algerienkriegs mit ehemaligen Teilnehmern an anderen Kriegen gleichgestellt. Faktisch genossen die Veteranen des Kriegs in Algerien freilich schon bisher gleiche Rechte wie alle anderen Veteranen. Aber die Lobby der Algerien-FranzösInnen („pieds -noirs“) vermochte die Lebenslüge vom Nichtkrieg lange Zeit erfolgreich als offizielle Sprachregelung aufrechtzuerhalten.

Die Sprache des offiziellen Frankreich weigerte sich also bis vor zweieinhalb Jahren, diese geradezu bilderbuchmäßige Eskalation des kolonialen Konflikts zum richtigen Krieg einzugestehen. Statt dessen sprach man verschleiernd von „antiterroristischen Kampf-massnahmen“, „Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“, von „Operationen gegen Rebellen“ oder, besonders verlogen, von „Befriedungsoperationen“. Faktisch führte die französische Armee, durchdrungen von ihrer Ideologie der „mission civilisatrice“ („zivilisatorische Sendung“) einen Krieg gegen die FLN, aber auch gegen das algerische Volk – immer mehr kommen die schon oben angesprochenen von der französischen Armee verbro-chenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu Tage. Auch sind etliche Parallelen zu heutigen Militäraktionen sichtbar. Ausschlaggebend dafür waren auch einige Abgeordnete, die selbst zum Wehrdienst nach Algerien eingezogen worden waren und dort plötzlich merkten, dass sie „lernten, wirklich zu töten“ (so der Sozialdemokrat Jacques Floch).

Frankreich unternimmt immer noch alles, um die Wahrheit nicht ganz ans Tageslicht kommen zu lassen. Das Nationalarchiv und das über Charles de Gaulle bleiben weiterhin für Geschichtsforscher gesperrt, ebenso die Dokumentation der französischen Armee. Paradoxerweise hat jedoch die Französische Nationalversammlung den Völkermord der Türkei an den Armeniern anerkannt. Mit einer Bestrafung muss dabei sowieso keine beteiligte Person mehr rechnen, erließ de Gaulle 1962 schon eine vollständige Amnestie für alle Taten französischer Soldaten.

Deutschland: die andere Front

Der Krieg wurde nicht nur in Afrika ausgefochten, die FLN agierte auch in Europa. Franzosen und Deutsche bauten UnterstützerInnennetze für die FLN auf, sammelten Geld und schleusten Untergrundkämpfer über die Grenzen. AlgerierInnen fanden Zuflucht in Deutschland, der europäische Arm der FLN verlegte seine Führung in die Bundesrepublik, französische Geheimdienstler organisierten in Deutschland Attentate auf Unterstützer und Waffenlieferanten der FLN. Französische Wehrpflichtige, die nicht länger an dem grausamen Kolonialkrieg teilnehmen wollten, desertierten. Deutsche nahmen direkt am Krieg teil, denn in der Fremdenlegion, die die Hauptlast der Kämpfe trug, dienten damals zu 70 Prozent Deutsche. Der Grund dafür: Nach dem Krieg warb die Fremdenlegion intensiv gefangene Deutsche an, um sich für die bevorstehenden Kolonialkriege zu rüsten. Ein Deutscher organisierte aber auch ein Netz, das rund 4.000 Legionären zur Flucht und zur Rückkehr in die Heimat verhalf.