Argentinien: Wegweiser im Kampf gegen die “Neue Weltordnung”

Massenproteste, die innerhalb von einer Woche zwei IWF-hörige Regierungen davonjagen – damit hat Argentinien einen deutlichen Kontrapunkt gesetzt zu den neoliberalen Angriffen in Lateinamerika in den letzten beiden Jahrzehnten, zu den Erfolgen der "Neuen Weltordnung" mit ihren Kriegen 1991, 1999 und 2001 und zur aggressiven Offensive des US-Imperialismus seit September 2001. Ob die argentinische Bourgeoisie mit ihren Versuchen die Proteste einzudämmen, erfolgreich sein wird, ist weiterhin äußerst fraglich.

Die Fingerabdrücke des IWF

In einem Kommentar in der International Herald Tribune am 23. Dezember schrieb der US-Ökonom Charles Weissbrot, dass der Sturz de la Rúas für niemanden überraschend gekommen sein könne. Die Staatsverschuldung von 132 Mrd. US-Dollar und eine Arbeitslosenrate von 18 Prozent trage die "Fingerabdrücke des IWF", der nur Stunden vor de la Rúa zurückgetretene Finanzministers Cavallo habe das Land sehenden Auges mit seiner "Nulldefizitpolitik" in eine soziale Katastrophe manövriert.

Bereits in den 90er Jahren hatte der damalige peronistische Staatspräsident Carlos Menem, der später als Korruptionist aus dem Amt gejagt worden war, unter Druck des IWF und der Weltbank den argentinischen Peso an den US-Dollar gebunden. Architekt dieser Orientierung war auch damals Cavallo. Die "Dollarisierung" der argentinischen Währung, gestützt auf tiefe Schnitte ins soziale Netz und permanente Angriffe auf die Löhne und Pensionen, sollte den ausländischen Investoren, den transnationalen Konzernen und der argentinischen Bourgeoisie optimale Verwertungsbedingungen garantieren.

Nicht zufällig war diese Aufgabe einer peronistischen Regierung übertragen worden – die Kontrolle der "Justizialistischen Partei" über die stärkste Gewerkschaft des Landes, die CGT, sollte eine reibungslose Umsetzung dieser Wirtschaftspolitik garantieren. Allerdings erholte sich die argentinische Arbeiter/innen/bewegung wesentlich rascher als erwartet von den Auswirkungen der Verfolgungen durch die Militärdiktatur und leistete Menems Politik einigen Widerstand. Der peronistischen Gewerkschaftsbürokratie gelang es jedoch nach wie vor, wenn auch unter Schwierigkeiten, das alte Postulat der "unpolitischen" Gewerkschaften aufrechtzuerhalten und damit das bestehende de-facto-zwei-Parteien-System – Justizialistische Partei und "Radikale Partei" – unangetastet zu lassen.

Die Zerschlagung des verstaatlichten Sektors (Ölindustrie, Telekommunikation, Zuckerindustrie…) und die neoliberale Marktöffnung führte zu einer deutlichen Verstärkung des Einflusses des US-amerikanischen und europäischen Kapitals (so sind etwa die wichtigsten Supermarktketten Eigentum von Konzernen wie Wal Mart oder Carrefour, der Telekom-Sektor wird von der spanischen Telefónica dominiert, an Repsol sind die wichtigsten internationalen Ölkonzerne beteiligt).

Menem geriet allerdings auch von anderer Seite unter Druck – "modernistische" Kapitalfraktionen forderten eine stärkere Förderung der heimischen, argentinischen Bourgeoisie und eine Aufhebung der Peso-Dollar-Bindung, um die Position der Exportwirtschaft am Weltmarkt zu verbessern. Die offensichtliche Unmöglichkeit, die Wirtschaft zu sanieren und die persönliche Verstrickung in Finanzmachnationen und Unterschlagungen von Staatsvermögen führten schließlich zum Sturz Menems.

Ende 1999 kam in Argentinien die Allianz-Regierung unter de la Rúa an die Macht. Da die Radikale Partei alleine zu schwach war, die Regierung zu stellen, musste sie sich auf ein Bündnis mit der FREPASO ("Front für ein solidarisches Land") stützen, die vor allem bei den gehobenen Mittelschichten, Staatsbediensteten und Student/inn/en verankert ist. Aber bereits im Mai 2000 brach die Koalition auseinander.

De la Rúa konnte die Wirtschaftskrise ebenso wenig in den Griff bekommen wie sein Vorgänger und setzte sogar noch auf eine Verschärfung des Austeritätskurses. Die von ihm mit den klassischen Methoden der Radikalen Partei – Bestechung und Ämterschacher – durch beide Kammern des Parlaments gejagte Änderung des Arbeitsrechts sah neben einer Einschränkung der Sozialleistungen vor allem Lohnkürzungen im staatlichen Sektor vor. Die FRESAPO konnte diese Maßnahmen nicht mittragen, ohne ihre eigene Basis gegen sich aufzubringen und verließ die Regierung.

Gleichzeitig sah sich de la Rúa mit dem ersten Generalstreik seiner Amtszeit konfrontiert – zehntausende Arbeiter/innen demonstrierten am 5. Mai 2000 vor dem Parlament gegen die Arbeitsrechtsänderung und den Lohnraub. Die CGT-Führung, die sich unter dem Druck der wachsenden Unzufriedenheit in den Betrieben an die Spitze der Bewegung gestellt hatte, beharrte auf ihrer "unpolitischen" Gewerkschaftslinie und erhielt prompt die Quittung: Die radikaleren Gewerkschaften der Transportarbeiter/innen und der Beschäftigten in der Automobilindustrie spalteten sich ab und bildeten die CGT (Disidente).

Eine neue Arbeiter/innen/bewegung nimmt Formen an

Bis zu ihrem Sturz erlebte die de-la-Rúa-Regierung sechs Generalstreiks, die eine aufsteigende Qualität des Kampfbewusstseins der Arbeiter/innen demonstrierten und eine Wende in der politischen Landschaft ankündigten. Gleichzeitig entstand eine militante Arbeitslosenbewegung – die "Piqueteros", die wesentlich das Bild der heutigen Bewegung mitprägt.

Nach dem Generalstreik vom 5. Mai 2000 kam es bereits im Juni zu neuen Arbeitsniederlegungen, nachdem die Regierung einseitig 10-prozentige Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor dekretiert hatte. Auch in der Industrie kam es in den folgenden Monaten laufend zu Kämpfen, wobei sich erstmals auf Betriebsebene neue, radikalere Arbeiter/innen/führer/innen profilierten, die vehement gegen die zahme Politik der CGT-Bürokrat/inn/en aufbegehrten.

Einen Radikalisierungsschub brachte der 36-stündige Generalstreik vom 23. und 24. November 2000, der mit Protesten in La Matanza, einem proletarischen Vorort von Buenos Aires, begann. Tausende Piqueteros blockierten die Straßen und forderten staatliche Beschäftigungsprogramme. Daraufhin begannen die Transportarbeiter/innen mit Streiks, da auch ihnen massive Entlassungen drohten. Im Nordosten, in Tartagal, bildeten die Piqueteros gemeinsam mit entlassenen LKW-Fahrern gemeinsam Kampfkomitees und besetzten die Nationalstraßen. Nachdem einer der Demonstrant/inn/en, Aníbal Verón, von der Polizei erschossen worden war, entwaffneten die Streikposten Polizeioffiziere und nahmen sie gefangen, vertrieben Gendarmerie und Polizei aus Tartagal und besetzten die Polizeistationen.

In diesem Zusammenhang muss unterstrichen werden, dass sowohl die CGT-Bürokratie wie auch die "linke" CGT-Disidente-Führung und die dritte national organisierte Gewerkschaft, die sozialdemokratische CTA, alles unternahmen, um die Bewegung einzudämmen und in einem strikt legalen Rahmen zu halten. Alle drei Führungen bekundeten ihre Kompromissbereitschaft gegenüber der de-la-Rúa.Regierung, wobei die Begründungen nur nuanciert voneinander abwichen: Nur ein Schulterschluss zwischen "nationaler" Bourgeoisie und Proletariat könne das Land aus der Krise führen. Dennoch beteiligten sich 6,5 Millionen Arbeiter/innen und Arbeitslose an den Streiks, zwischen 150.000 und 200.000 Menschen beteiligten sich an Streikposten-Aktivitäten (!), waren also zur Konfrontation mit den Repressivkräften entschlossen.

Im März 2001 stand die Regierung knapp vor dem Sturz. Das Land konnte seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen und versuchte mit einem neuen Finanzminister – Ricardo López Murphy – ein weiteres, noch schärferes Sparprogramm durchzusetzen, um die ausländischen Gläubiger zufrieden zu stellen. 2,2 Milliarden US-Dollar sollten durch die völlige Zerrüttung des Erziehungswesens, die faktische Zerstörung der Gesundheitsversorgung und massive Angriffe auf die Pensionen hereingebracht werden. Während der IWF im Falle des Gelingens einen Schuldennachlass von 40 Mrd. US-Dollar in Aussicht stellte, kam es zu einem Proteststurm an den Universitäten, der sofort die Unterstützung der Piqueteros und radikaler Arbeiterschichten fand. Am 20. März marschierten zehntausende Arbeitslose in disziplinierten Marschkolonnen zur Plaza de Mayo, dem Regierungssitz, die drei Gewerkschaftsverbände riefen in aller Eile zum Generalstreik, um die Bewegung kanalisieren zu können. Murphy musste zurücktreten, statt ihm kam der windige Finanzjongleur Cavallo – und CGT, CGT (D) und CTA-Bürokraten erklärten sich unisono bereit, ihm einen "Vertrauensvorschuss" zu geben.

Cavallo forderte und erhielt sukzessive immer mehr Vollmachten von de la Rúa. Er brauchte sie, um die Zügel strenger anzuziehen, da die Proteste nicht nachließen. Die ungebrochene Dollarisierung hatte in der Zwischenzeit nämlich auch breite Schichten des Kleinbürgertums, hauptsächlich die Händler/innen, gegen die Regierung aufgebracht. Waren sie in der Vergangenheit bei den Massenbewegungen misstrauisch abseits gestanden, machten sie nun gleichfalls ihrer Wut in Straßenaktionen Luft. Im Herbst 2001 zogen tausende von ihnen, auf leere Töpfe schlagend, zur Casa Rosada (dem Parlament) und forderten Entschuldungsprogramme und ein Ende der steuerlichen Bevorzugung der großen Supermarktketten.

"Revolutionäre Tage" in Buenos Aires

Das Zusammenfallen der Bewegungen der hungrigen Piqueteros mit den Protesten der von der Verelendung bedrohten Arbeiter/innen und den Demonstrationen einer immer stärkeren Proletarisierung unterworfenen Kleinbourgeoisie führte schließlich ab Anfang Dezember zur finalen Krise des de la Rúa-Regimes. Um wieder einmal den Staatsbankrott abzuwenden, ließ Cavallo die Konten sperren – die Banken durften teilweise nicht einmal die Pensionen auszahlen. Der Generalstreik vom 13. Dezember zeigte, dass die bisherige Eindämmungspolitik der Gewerkschaftsbürokraten nicht mehr griff. Die zentrale Parole lautete: "Weg mit de la Rúa – weg mit ihnen allen!". CGT, CGT (D) und CTA beteiligten sich nicht organisiert an den Protesten, die am 19. und 20. Dezember in der "Schlacht auf der Plaza de Mayo" kulminierten und zum Sturz der Regierung führten.

27 Menschen kamen in ganz Argentinien in diesen Tagen ums Leben – so wie die 11-jährige Eloisa Gómez in Parana, die durch einen Kopfschuss getötet wurde, als sie Lebensmittel aus einem Supermarkt schleppte. Die hungrigen Massen nutzten die offensichtliche Lähmung des Staatsapparates, um auf ihre Art, wenngleich unorganisiert und daher chaotisch, ihre Versorgungsprobleme zu lösen: Sie stürmten die Supermärkte, die verhassten Symbole der sozialen Ungleichheit, die den Begüterten alles und den Armen nichts bieten.

Noch einmal versuchte die Regierung, die Bewegung zu spalten: Um die sich radikalisierenden kleinbürgerlichen Schichten von der Arbeitslosen- und Arbeiter/innen/bewegung loszubrechen, stellte sie die "friedlichen Demonstranten" den "gewalttätigen Plünderern" gegenüber – umsonst. Hatten noch in den 80er Jahren mitunter bewaffnete Kleinbürger ihre Läden gegen demonstrierende Arbeiter/innen "geschützt", um ihr "Eigentum" zu verteidigen, gingen diese Appelle diesmal ins Leere.

Auch der letzte Ausweg – die Verhängung des Ausnahmezustandes – fruchtete nichts. Hunderttausende Menschen strömten ins Zentrum von Buenos Aires und forderten den Sturz der Regierung. Sie leisteten der Polizei, die Tränengas und schließlich auch scharfe Munition einsetzte, erbitterten Widerstand. Die Flucht de la Rúas im Hubschrauber aus der Casa Rosada bedeutete einen bedeutenden Schritt vorwärts für die Massenbewegung: Erstmals war eine gewählte argentinische Regierung unter dem Druck des außerparlamentarischen Protests gestürzt worden!

Und bereits eine Woche nach dem Sturz der Regierung Fernando de la Rúas hat auch die vom Interimspräsidenten Rodriguez Sáa eingesetzte Regierung – nach dem Sturm des Parlaments und unter dem Duck von Massenprotesten – in der Nacht vom 28. zum 29. Dezember ihren Rücktritt bekannt gegeben. Sie hatte zwar einige Zugeständnisse gemacht – beispielsweise wurde die Amnestie für Militärs, die während der Diktatur für Verbrechen verantwortlich waren, aufgehoben. Insgesamt aber hatte die Regierung Sáa keine Perspektive anzubieten. Der IWF und die USA waren zu keinerlei Zugeständnissen bereit und beharrten auf einem weiter verschärften Kurs der sozialen Einschnitte – in der angespannten weltwirtschaftlichen Situation sieht der Imperialismus, anders als in Mexiko Mitte der 90er Jahre oder in Russland Ende der 90er Jahre, bezüglich Argentinien nicht zu politisch-ökonomischen Rücksichtsnahmen veranlasst. Sáa setzte dann auch noch berüchtigte Korruptionisten in seine Regierung. Und die Massen waren nicht so leicht bereit, der alten politischen Kaste eine Blankovollmacht auszustellen.

Die von der herrschenden Klasse neu installierte Regierung unter dem Peronisten Eduardo Duhalde muss sich dementsprechend wesentlich populistischer geben. Duhalde, Vize unter Menem, hatte sich schon zuvor als Kritiker des Neoliberalismus profiliert – und als jahrelanger Gouverneur der Provinz Buenos Aires neue Sozialprogramme eingeführt. Er gilt als Gegner der Privatisierungen und der Öffnung für den Weltmarkt. Er hat nun ein Ende der Dollarbindung angekündigt, einen Zahlungsstop der Zinsen an die imperialistischen Banken und eine wieder stärkere staatliche Abschottung der argentinischen Wirtschaft. Wie weit das konsequent durchgezogen wird, ist zu bezweifeln. Real handelt es sich dabei wohl eher um einen Versuch der argentinischen Bourgeoisie, durch Reformversprechungen und neue Gesichter die Proteste der fünf Millionen Arbeitslosen, der Arbeiter/innen, der um ihre Existenz bangenden Mittelschichten, der Jugend ohne Perspektive und der hochverschuldeten Kleinbauern einzudämmen. Ob sie damit durchkommen, ist allerdings fraglich.

Der Schlüssel zur Lösung der Krise liegt bei den Arbeiter/innen

Auch wenn wir mit größter Sympathie und Solidarität die Bewegung der argentinischen Arbeiter/innen, der Piqueteros, der Jugend und der nach links schwenkenden kleinbürgerlichen Schichten verfolgen, müssen wir vor übergroßen Optimismus warnen. Nach wie vor ist das spezifische Gewicht der traditionellen verräterischen Führungen in der Bewegung – Peronisten aller Schattierungen, Gewerkschaftsbürokraten, linksnationalistische Reformer – bedeutend größer als der Einfluss der radikalen Linken. In der Arbeitslosenbewegung haben sich Ansätze einer links-bürgerlichen, reformistischen Sammlung gezeigt (etwa der Polo Social [sozialer Pol], an dem sich auch "fortschrittliche" Pfaffen beteiligen).

Auch wenn der Staatsapparat teilweise paralysiert ist, gibt es als Alternative bisher keine relevanten Doppelmachtorgane der arbeitenden Bevölkerung. Die radikale Linke in Argentinien ist sich dieser schmerzlichen Problematik voll bewusst. Die aus trotzkistischer Tradition kommende "Partido de Trabajadores por el Socialismo" PTS (Partei der Arbeiter für den Sozialismus), die sich aktiv an den Bewegung zum Sturz de la Rúas beteiligt hat, spricht von "revolutionären Tagen" im Dezember und bemüht sich um eine realistische Bewertung der Situation und der vor den Revolutionären liegenden Aufgaben.

Die PTS, die bei den letzten Wahlen über 100.000 Stimmen bekam und deren Zeitung eine Auflage von etwa 20.000 Stück hat, schlägt – unserer Meinung nach richtigerweise – den Aufbau einer gesamtargentinischen Versammlung der Arbeiter/innen und Arbeitslosen vor, um die Arbeiter/innen/macht zu organisieren. Diese rechenschaftspflichtigen und jederzeit abwählbaren Komitees sollen sich dann mit den Studentenorganisationen, den Vereinigungen der Kleinhändler/innen und der Kleinbauern koordinieren, um einen neuen, mächtigen Generalstreik vorbereiten, der die Forderungen der ärmsten Schichten der argentinischen Bevölkerung durchsetzen soll.

Diese Forderungen sind unter anderem die entschädigungslose Enteignung von Betrieben, die Kündigungen aussprechen, unter Arbeiter/innen/kontrolle; die Beschlagnahme und Verteilung der Lebensmittelvorräte der Supermarktketten unter Aufsicht von gewählten Stadtteil- und Verbraucher/innen/komitees; die Verstaatlichung der Banken unter Arbeiter/innen/kontrolle, um die Kapitalflucht zu stoppen; die Einstellung der Zahlungen an den IWF. Die PTS verknüpft ihr Programm mit der Perspektive der Wahl einer freien und souveränen Konstituierenden Versammlung, welche die Trennung von legislativer und exekutiver Gewalt aufheben und damit die Machtübergabe in die Hände der Arbeiter/innen vorbereiten soll.

Die PTS fordert die anderen Organisationen der radikalen Linken auf, sich zu einem revolutionären Block auf der Grundlage der Klassenunabhängigkeit des Proletariats von der Bourgeoisie zusammen zu schließen (auch das scheint uns – soweit wir das hier in Mitteleuropa beurteilen können – richtig). Diese Aufforderung richtet sich insbesondere an die ebenfalls aus trotzkistischer Tradition kommende "Partido Obrero" PO (Arbeiterpartei), die bei den letzten Wahlen in einem Bündnis über 300.000 Stimmen bekommen hat, und mit der die PTS bei dem Demonstrationen am 19./20. Dezember einen gemeinsamen Block gebildet und bei der Schlacht auf der Plaza de Mayo gemeinsam einen Angriff der berittenen Polizei zurückgeschlagen hatte.

Die Unterschiede der beiden Organisationen sind allerdings, dass die PO etwas klassenunspezifisch für den Aufbau von "Volkskomitees" eintritt, die PTS hingegen für den von "Arbeiterkomitees". Darüber hinaus hat sich die PO zuletzt taktisch stärker an der IU (Vereinigte Linke) orientiert, einem reformistischen Bündnis u.a. aus der ehemaligen KP Argentiniens und der ex-trotzkistischen MAS (Bewegung für Sozialismus), die mittlerweile einer Etappentheorie anhängt, nicht auf eine proletarische Revolution, sondern auf "eine Reihe von demokratischen Revolutionen" setzt.

Die Lehren aus Argentinien ziehen

Die "Antiglobalisierungsbewegung" hat bisher kaum erkannt, welche politische Bedeutung für den Kampf gegen die kapitalistische Globalisierung im Sturz der neoliberalen Regierungen in Argentinien liegt. Der Internationale Bund Freier Gewerkschaften hat sich mit der ihm angehörenden peronistischen CGT solidarisiert und in einer hohlen Resolution den Kurzzeitpräsidenten Sáa aufgefordert, nicht durch "Kurzsichtigkeit" das "Chaos zu fördern"; der ÖGB hat vage den Neoliberalismus als Schuldigen geortet und fordert von der neuen Regierung in Buenos Aires eine "menschengerechte Wirtschaftspolitik". ATTAC Österreich möchte den "Fall Argentinien" zum Anlass für ein "Staatsinsolventrecht" machen, das der – IWF vorbereiten soll.

Einige linke Strömungen kapitulieren vor der liberalen öffentlichen Meinung inklusive dem von ihr verordneten Pazifismus bei Protesten und hoffen auf einen "disziplinierten Generalstreik ohne Ausschreitungen und Plünderungen". Andere Strömungen zeigen sich primär begeistert, weil ja "die Massen" endlich die Straßen zurückerobern – wie die Bewegung siegen kann, wird allerdings von vielen weder diskutiert noch überhaupt thematisiert. Übertriebene Revolutionseuphorie scheint uns in der derzeitigen Situation ebenfalls inadäquat zu sein.

Wir glauben, dass nur eine möglichst nüchterne Herangehensweise an die Ereignisse in Argentinien dazu beitragen kann, die Situation richtig zu beurteilen und die Lehren aus der argentinischen Krise zu ziehen. Es scheinen sich jedenfalls immer mehr unsere Einschätzungen der letzten Jahre zu bestätigen, dass der Imperialismus versucht, seine Krise auf die "Schwellenländer" abzuwälzen (nach Südkorea, Brasilien und der Türkei u.a. ist nun besonders Argentinien betroffen) und dass sich (neben den imperialistischen Zentren) Ost- und Südostasien einerseits und die industrialisiertesten Länder Lateinamerikas andererseits zu Zentren des internationalen Klassenkampfes entwickeln werden.

Hier auf eine "friedliche Kompromisslösung" zu bauen, die vom "guten Willen" und der "Vernunft" einer aufgeklärten Bourgeoisie in Argentinien oder in den imperialistischen Metropolen abhängig sein soll, ist sicher völlig deplaziert. Die kapitalistische Profitlogik mit all ihren barbarischen Auswirkungen wird durch Umschuldungsprogramme oder andere Steuermodelle (wie es den ATTAC-Reformist/inn/en vorschwebt) nicht angekratzt. Reformismus reicht heute weniger denn je.

Auch in Frankreich und Italien waren (Mitte der 90er Jahre) Klassenkampfbewegungen in der Lage, neoliberale Rechtsregierungen zu stürzen, nicht aber, die Machtfrage in einem systemüberwindenden Sinn zu stellen. Deshalb sind dann in beiden Ländern Regierung ans Ruder gekommen, in die die Massen Hoffungen auf eine Verbesserung der Situation hatten, die aber Privatisierungen, Deregulierungen, Angriffe auf Renten etc. weitgehend unverändert fortsetzen. Dass sich in dieser Situation in Frankreich nicht in dem Ausmaß wie in Italien Teile der Lohnabhängigen erneut dem rechten Populismus zuwenden, sondern sich viele nach konsequenteren Kräften auf der Linken umschauen, liegt entscheidend daran, dass in Frankreich mit Lutte Ouvrière eine aus trotzkistischer Tradition kommende revolutionäre Organisation existiert, die in der Arbeiter/innen/klasse verankert ist und in Klassenkämpfen immer wieder eine wichtige Rolle gespielt hat.

Das ist auch der Punkt, in dem sich die Entwicklung in Argentinien von Revolten in anderen halbkolonialen Ländern (etwa in Südkorea, Indonesien oder der Türkei unterscheidet): In Argentinien existieren relativ starke aus trotzkistischer Tradition kommende Organisation, die unter Umständen verhindern können, dass sich die Massenproteste – wie in so vielen anderen Ländern – in Perspektivlosigkeit und Apathie auflösen. Neben der Solidarität mit den Kämpfen und den Revolutionären in Argentinien ist deshalb auch für uns in Österreich und Deutschland die zentrale Aufgabe der Aufbau von revolutionären Organisationen.