Von Gut und Böse – Betrachtungen marxistischer Moral und Ethik

Immer wieder wird die Frage nach der "moralischen Berechtigung" des Sozialismus bzw. jene nach der "sozialistischen Moral" gestellt. Auch der Vorwurf des amoralischen Pragmatismus ("Der Zweck heiligt die Mittel") wird laut, wenn mensch versucht eine Opposition zur tief verwurzelten bürgerlichen Moral darzustellen. Wir möchten uns aus diesem Grund ausführlicher mit diesem Themenkomplex auseinandersetzen.

 Die Moral ist keine übergeordnete Instanz, sie ist weder unabhängig von geschichtlichen Epochen noch steht sie als Leuchtturm der Tugend über den Klassen. Sie ist vielmehr die Fackel, der sich die jeweils herrschende Klasse einer geschichtlichen Periode bedient, um den Weg vorzugeben. In dieser Funktion ist sie ein wandelbares Instrument. Das religiös geprägte Konstrukt der absoluten Moral hält der Berührung mit der Realität nicht stand und sogar Wertvorstellungen, die in der mitteleuropäischen Gesellschaft heute zum unentbehrlichen moralischen Inventar zählen, sind in anderen Kulturen weitgehend bedeutungslos. Das Privateigentum, dem beispielsweise in der gesamten westlichen Hemisphäre ein grosser Stellenwert zukommt, ist einigen kleineren Kulturen weitgehend unbekannt.

Und auch die Zeit geht nicht spurlos an der Moral vorüber – war es vor einigen hundert Jahren in Europa noch gang und gebe, Menschen als "Ketzer" zu foltern und zu töten, so würde heute in Europa die öffentliche Verbrennung einer "Hexe" eher zu Empörung und Ekel führen. Augenscheinlich ist es hier in den letzten Jahrhunderten zu einem Sinneswandel gekommen, der eine neue Moral, neue Normen und Werte hervorgebracht hat.

Diese Veränderungen des Bewusstseins der Menschen passieren jedoch nicht zufällig; sie sind das Produkt der Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. So ist es beispielsweise in Friedenszeiten etwas Verwerfliches, Menschen zu töten, in Zeiten des Krieges jedoch wird es von den jeweiligen Staaten zur Tugend erhoben und besonders erfolgreiche Mörder werden öffentlich geehrt: Die Moral beziehungsweise deren Veränderung dient also einem bestimmten Interesse und ist keine natürliche oder "gottgegebene" Konstante. Sie wird je nach Bedarf von der jeweils herrschenden Klasse über deren Organe (Medien, Justiz; …) geschaffen und ist durch ihren dogmatischen Charakter ein wichtiger Aspekt von Macht und Machterhalt.

Der schnöde Mammon

Einen besonders intensiven Ausdruck findet diese funktionelle Moral im Umgang der kapitalistischen Gesellschaften mit dem materiellen Eigentum. Für eine Gesellschaftsordnung, deren Basis das Privateigentum und hier im Besonderen das Privateigentum an Produktionsmitteln darstellt, ist eine solche Gewichtung der Werte allerdings verständlich und für den Erhalt der Strukturen absolut erforderlich. Aus diesem Grund sind Angriffe auf das Eigentum in Österreich auch zum Teil mit denselben oder sogar höheren Strafen belegt als Angriffe gegen die physische und psychische Integrität von Personen. Hier ist auch das entsprechende Rechtsverständnis etabliert worden: Die Mehrzahl der Menschen empfindet Diebstahl oder Betrug als schwere Vergehen, wohingegen Delikte wie sexuelle Belästigung belächelt werden. Eine Veränderung dieses Wertdenkens ist jedoch nur über eine Veränderung der gesellschaftlichen Maxime möglich.

Abstrakte Moral

Eine wichtige Eigenschaft der bürgerlichen Moral ist deren Tendenz zur Abstraktion. Selten wird eine Handlung durch eine Moralvorschrift im vollen Konnex erfasst. Phrasen wie "Du sollst nicht töten!" haben ganz allgemein das Problem, dass sie durch ihren absoluten Charakter den Anspruch auf Allgemeingültigkeit stellen und in Situationen, die sich nicht in ein Schwarz-Weiss-Schema pressen lassen, kläglich versagen.

Wie wertlos mutet das biblische Gebot beispielsweise in einer revolutionären Situation an, in der sich die Bevölkerung bewaffnet gegen eine Diktatur erhebt? Eine differenziertere Sichtweise des "Tötens" als Handlung wäre hier sicher geboten.

Wert und Unwert

Die Moral als Steckenpferd der Mächtigen, die vorgibt über den Klassen zu stehen, verliert in Situationen der direkten Konfrontation zwischen den Klassen an Boden. Ihr gegenüber steht die marxistische Amoral, die Dinge unverblümt nach Nutzen oder Schaden für das angestrebte Ziel kategorisiert. Trotzdem existiert auch für MarxistInnen eine ethische Bindung. Der Zweck heiligt also nur solange die Mittel, wie sie ihn nicht in Frage stellen.

Wenn wir nun die Moral als solches ablehnen und eine materialistische Betrachtungsweise keinen objektiven Wert, keinen Verweis auf Gott oder einen anderen übergeordneten Sinn zuläßt, woher nehmen wir die Anleitung zum Handeln? Mit welcher Berechtigung entscheiden wir zwischen dem Einen oder dem Anderen wenn es kein objektives "richtig" und "falsch" gibt? Jede solche Überlegung führt zwangsläufig an einen Punkt, wo empirische Beweisführung schwierig wird. Wie beispielsweise läßt sich unser Wert der sozialistischen Demokratie gegenüber einem zentralistischen System oder der Diktatur des Marktes rechtfertigen? So ist es zwar offensichtlich, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise für Tausende Armut und Tod bedeutet, in der Frage des langfristigen Erhalt der menschlichen Art, der die einzige objektive Kategorie darstellt, sind beide Systeme gleichberechtigt (allerdings stellt ökologisch der Kapitalismus mittlerweile auch die Arterhaltung in Frage).

Genauso läßt sich die Frage unserer Opposition gegenüber faschistischen Ideologien nicht moralisch erklären. Der/die FaschistIn ist subjektiv ebenso von seiner/ihrer Ideologie überzeugt und hält sie für "das Beste" wie wir von unserer. Selbstverständlich ist für die meisten Menschen die Entscheidung keine, die auf der Basis reiflicher Überlegung getroffen wird. Sie wird massgeblich von der Klassenange-hörigkeit des jeweiligen Individuums beeinflußt.

Und trotzdem: Wir haben uns für eines der Modelle entschlossen. Die Entscheidung welchem die Zukunft gehört, wird nicht die Natur einer Beweisführung für oder wider das Eine oder Andere annehmen. Der Klassenkampf in all seinen Formen bis hin zur Revolution, die den Sprung zu einer neuen Qualität darstellt, ist der Ausdruck dieser gegensätzlichen Wertmodelle.