65 Jahre Moskauer Schauprozesse – Stalin enthauptet die Revolution

Vor fünfundsechzig Jahren, im August 1936, fand der erste der drei Moskauer Schauprozessen gegen sogenannte KonterrevolutionärInnen statt. Der zweite begann im Januar 1937 und am 13. März 1938 ging der letzte der drei Prozesse zu Ende.

Zusammen bildeten die drei Prozesse, deren Hauptangeklagte die engsten Mitarbeiter Lenins aus der Zeit der Oktoberrevolution waren, den zeitlichen und propagandistischen Rahmen für eine beispiellose Welle des staatlichen Terrors. Neben den offiziell Angeklagten, die meist noch in der Nacht der Urteilsverkündung per Genickschuß hingerichtet wurden, starben Hunderttausende nach kleineren, oft geheimen, Prozessen, wurden ohne Urteil erschossen oder gingen in den stalinistischen Lagern dem sicheren Tod entgegen.

Durch die Vernichtung einer ganzen Generation hochgebildeter und politisch erfahrener revolutionärer SozialistInnen wurde die marxistische Kultur ausgerottet, die sich in der internationalen ArbeiterInnenbe-wegung in den vorangegangenen neunzig Jahren herausgebildet hatte.

Russland nach 1917

Nach der Oktoberrevolution 1917 versuchten die Kapitalist-Innen mit aller Macht, die sozialistische Revolution zu verhindern. Die weiße Armee, in der russische Reaktionäre, sowie imperialistische Soldaten kämpften, versuchten den noch im Aufbau begriffenen Staat zu zerschlagen. Leo Trotzki, der Organisator der Oktoberrevolution, wurde von der Partei aufgefordert, ein Gegenstück, die Rote Armee, aufzubauen.

Die Auswirkungen des folgenden BürgerInnenkrieges hatten verheerende Auswirkungen auf die Sowjetunion. Eine Generation der politisch bewußtesten ArbeiterInnen wurde getötet und das Land war wirtschaftlich ruiniert.

In dieser Zeit sah sich die Partei gezwungen, die politischen Rechte der Bevölkerung immer mehr einzuschränken. Sie sah die Alternativen: Sieg der Konterrevolution oder Beschneidung der bürgerlichen Rechte. Gleichzeitig bleibt aber klar, daß die Politik des Verbotes der ArbeiterInnenparteien und später auch der Fraktionen in der Partei, wie Trotzki später selbstkritisch festgestellt hat, die Bürokratisierung erheblich erleichtert hat.

Weg in die Bürokratisierung?

Dieser Schritt, den Lenin und Trotzki nur als Übergangslösung vor der nahen Revolution in Westeuropa sahen, wurde ihnen oft schwer angelastet. Die später einsetzende Bürokratisierung, an deren Spitze sich Josef Stalin stellte, verfestigte diese Übergangslösungen, da das in ihrem Interesse stand. Diese kleine privilegierte Schicht von HändlerInnen, BeamtInnen und Parteimitgliedern kämpfte während des Ausbleibens der erwarteten Revolutionen für ihre eigenen Interessen. Trotzki und Lenin sahen die Gefahr schon 1923, wo Trotzki warnte: Die Bürokratie ist der Todfeind des Sozialismus. Stalin stützte sich auf KarrieristInnen, zum Teil sogar ehemalige Zaristen, in der Partei.

Lenins Tod

Der Tod Lenins am 21. Januar 1924 war der Beginn für Stalins Schlag gegen Trotzki und die Revolution. Trotzki wurde vom Zentralkomitee aus dem revolutionären Kriegsrat entfernt. Gleichermaßen entfernte sich Stalin auch ideologisch von Trotzkis und Lenins Ideen. Auf dem Parteikongreß 1926 proklamierte er die Theorie vom “Sozialismus in einem Land”. Mit diesem Schritt stellte er sich klar gegen Trotzki, der die internationale Revolution vertrat.

Das war der Beginn des Verrates an der ArbeiterInnenklasse, denn die Interessen der Bürokratie standen in einem krassen Gegensatz zu denen der internationalistisch denkenden ArbeiterInnenklasse. Und es war auch der Beginn der Diffamierung Trotzkis und vieler Anderer, die dann in den Prozessen mündete. Ausschlaggebend dafür waren aber nicht, persönliche Aversionen, sondern politische Hintergründe. Stalin war gezwungen, um an der Macht zu bleiben, jede Art von Opposition und Kritik zu unterbinden. Aus Angst einer Verbreiterung des Einflusses Trotzkis im Ausland und der zunehmenden oppositionellen, “trotzkistischen” Stimmung in der UdSSR sah Stalin sich zu immer härteren Vorgehensweisen gezwungen. Der große Terror und sein unabdingbarer Bestandteil – die Schauprozesse gegen die ehemaligen Führer der Partei wie Sinowjew, Ka-.menjew oder Radek hatten tiefreichende soziale und politische Ursachen.

Zwischen der Abrechnung mit der alten Garde und der politischen Diskreditierung Trotzkis bestand ein Zusammenhang. Diejenigen alten ParteiführerIn-nen, die in den Jahren davor kapituliert hatten, wurden vorgeführt, um die Existenz der faschistisch-sinowjewistisch-trotzkistischen Verschwörung zu bestätigen. Gleichzeitig wurde ihnen die Beteiligung an ebenjener vorgeworfen. Ihr moralisches Gewicht hatten sie in den Jahren davor durch ihre Kapitulation und die darauffolgenden oft schon peinlichen Kniefälle vor der Bürokratie meist sowieso schon restlos eingebüsst.

Zu nennen wären hier vor allem Sinowjew, Kamenjew und Radek, die seit ihrer Kapitulation Ende der 20er in die Lobeshymnen auf Stalin eingestimmt hatten. Stalin spielte hier geschickt die verschiedenen Fraktionen gegeneinander aus. Zuerst arbeitete er mit der Parteirechten zusammen, um die Linke um Trotzki auszuschalten, nach dem erfolgreichem Abschluß spielte er die Teile der Linken (unter anderem Radek), die sich blenden ließen, gegen die Rechte aus.

Ursachen der Moskauer Prozesse

Die erste und wichtigste der Ursachen resultierte aus den unversöhnlichen Gegensätzen der sozialen Interessen. Diese Widersprüche, die das gesamte Leben der Sowjetunion zerrissen, waren darauf zurückzuführen, daß eine “neue privilegierte Schicht” entstanden war, “die, gierig nach der Macht, gierig nach den Gütern des Lebens, Angst hat um ihre Positionen, Angst vor den Massen – und jegliche Opposition tödlich haßt”. (Trotzki, Stalins Verbrechen, S. 288)

Diese Schicht verwandelte die politische Macht in der Sowjetunion in eine bürokratische Tyrannei. Das Ergebnis dieser Degeneration war eine Veränderung der sozialen Struktur der Gesellschaft, die in Widerspruch zu den Zielen der Oktoberrevolution geriet. Diese Ziele hatten darin bestanden, “eine Gesellschaft ohne Klassen zu errichten, das heißt ohne Privilegierte und ohne Übervorteilte. Eine solche Gesellschaft bedarf keiner staatlichen Gewalt. Die Gründer des Regimes hatten vorausgesetzt, daß alle gesellschaftlichen Funktionen vermittels der Selbstverwaltung der Bürger ausgeführt werden sollen, ohne professionelle Bürokratie, die sich über die Gesellschaft erhebt.” (Stalins Verbrechen, S. 48 )

Mit zunehmender Degeneration des Regimes ließ die reale Wirklichkeit immer mehr die offizielle Lüge erkennen und bestätigte, daß die Kritik und das Programm der Linken Opposition um Trotzki richtig waren. Das zwang die Bürokratie, um den Anschein ihrer Unfehlbarkeit zu wahren, zu immer schärferen Formen des Kampfes gegen die Opposition zu greifen. Zunächst entfernte man die Oppositionellen aus wichtigen Ämtern und schloß sie aus der Partei aus, danach schickte man sie in die Verbannung.

Verleumdungskampagnen

Zu Stalins Gehilfen in diesem Kampf wurden allmählich diejenigen, die mit der Opposition gebrochen und sich in professionelle falsche Zeugen gegen die Opposition und gegen sich selbst verwandelt hatten. In allen Erklärungen dieser sogenannten KapitulantInnen wird, beginnend mit 1929, unverändert Trotzki als Hauptfeind der UdSSR genannt. Zuerst war die Rede von “Abweichungen” Trotzkis in Richtung Sozialdemokratie, dann von den “konterrevolutionären” Folgen seiner Tätigkeit und anschließend von seinem Bündnis mit der Bourgeoisie gegen die UdSSR.

Diese Verleumdungskampag-nen gingen logischerweise damit zu Ende, daß man Trotzki zuschrieb, er wolle nicht nur die Partei spalten, sondern den Kapitalismus wiederherstellen und sogar im Bündnis mit Nazi-Deutschland ein faschistisches Regime etablieren. Um diese Beschuldigungen in den Augen der Sowjetmenschen und der Weltöffentlichkeit überzeugend wirken zu lassen, war es erforderlich, in den Gerichtsprozessen namhafte ehemalige Oppositionellen als Ankläger gegen Trotzki vorzuführen.

Das Hauptmittel zur Ausrottung des “Trotzkismus” vor diesen Prozessen waren Parteisäuberungen, bei denen als TrotzkistInnen nicht nur unzufriedene ArbeiterInnen bezeichnet wurden, sondern auch alle jene WissenschaftlerInnen und Publizisten, die gewissenhaft historische Tatsachen und Zitate anführten, die der offiziellen Lüge widersprachen. Infolgedessen wurde die geistige Atmosphäre des Landes immer mehr durch direkten ideologischen und historischen Fälschungen beeinflußt. Die Fälschungen der Theorie und Geschichte des Bolschewismus, die immer plumper wurden, erfüllten ihren Zweck nicht. Jede Kritik oder Widerspruch wurde als schwerstes Verbrechen betrachtet. Darum mußten immer größere Lügengebäude geschaffen werden und diese Fälschungen mußten auch immer wieder ausgebaut und umgeschrieben werden, damit alles ins Bild paßte. In der Sowjetunion war aber der Gedanke an die sozialistische Revolution noch nicht vergessen und so mußte jede Art der Opposition vernichtet werden, damit die Glut nicht zum Feuer werden konnte.

Da es aber dem stalinistischen Regime nicht möglich war die Opposition für ihre wirklichen Gedanken und Taten zu bestrafen, weil das Volk sich mit der Erklärung, daß die Opposition Kritik an der Selbstherrlichkeit der Bürokratie übte und dafür umgebracht gehöre, nicht hätte überzeugen lassen. Stalin beschuldigte bei der ideologischen Begründung seines Terrors die TrotzkistInnen der faschistischen Agitation. Außerdem wurden ihnen alle ökonomischen Mißerfolge, Fehlentscheidungen, Entwendungen und andere Unregelmäßigkeiten angelastet.

Politische Ziele

“Wenn die Stalinisten uns Verräter nennen”, schrieb Trotzki, “so klingt darin nicht nur Haß, sondern auch eine eigenartige Aufrichtigkeit. Sie meinen, wir hätten die Interessen der heiligen Kaste… verraten, die angeblich allein fähig ist, den Sozialismus aufzubauen, die aber in Wirklichkeit die Idee des Sozialismus kompromittiert. Wir unsererseits halten die StalinistInnen für Verräter an den Interessen der russischen Volksmassen und des Weltproletariats. Es ist sinnlos, diesen erbitterten Kampf mit persönlichen Motiven zu erklären. Es handelt sich nicht nur um verschiedene Programme, sondern um verschiedene soziale Interessen, die immer feindlicher aufeinanderstoßen.” (Stalins Verbrechen S. 138 ff)

Das Hauptziel der Moskauer Prozesse bestand darin, die Bedingungen zu schaffen für eine politische Diskreditierung und physische Vernichtung der gesamten kommunistischen Opposition. Und dieses Ziel gelang. In den Säuberungen starben zehntausende TrotzkistInnen und andere Oppositionelle. Doch nicht nur Mitglieder der Opposition, fast alle Mitglieder des Zentralkomitees von 1917, das die Revolution durchgeführt hatte, wurden in den Säuberungen umgebracht.

Chefankläger Wyschinski, ein ehemaliger rechter Mensche-wik, der im Bürgerkrieg gegen die Bol-schewiki gekämpft hatte, bezeichnete die Angeklagten als “tollwütige Kettenhunde des Kapitalismus”, als “Lügner und Clowns, elende Pygmäen, die einen Elefanten anknurren” und forderte – im Einklang mit den psychisch zerstörten Angeklagten (!) – die Todesstrafe. Einige Beschuldigte, die in der Anklageschrift genannt wurden, erschienen bei dem Prozeß nicht, ohne daß dies erklärt wurde. Offenbar hatten sie sich geweigert, zu “gestehen”, und waren sofort erschossen worden. Die anderen Verurteilten wurden innerhalb von 24 Stunden erschossen, weil sie im Bündnis mit Hitlers Gestapo Mordanschläge auf Stalin und andere Mitglieder der Sowjetregierung geplant hätten. Der Hau-ptangeklagte jedoch fehlte auf der Bank: Leo Trotzki, der zu diesem Zeitpunkt schon im Exil im Auland lebte. Doch auch ihn erreichte Stalins langer Arm. 1940 wurde er in Mexiko von einem Geheimagenten mit einem Eispickel erschlagen.

 

Terror in Zahlen

Gleichzeitig mit den Moskauer Prozessen begannen „Säuberungen“ in gigantischem Ausmaß. Mindestens 9% der gesamten erwachsenen Bevölkerung der UdSSR, 8,5 Millionen Menschen, befanden sich 1939 im Gefängnis. Von den auf dem 17. Parteitag gewählten Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees wurde 1937/1938 98 (das entspricht 70%) Personen verhaftet und liquidiert. Von 1956 Delegierten zum 17. Parteitag wurden 1108 Personen umgebracht. Von den Politkomissaren wurden mindestens 20.000 erschossen. Insgesamt wurden 37/38 125.000 Soldaten der Roten Armee umgebracht, darunter fast alle höheren Offiziere.

Folgende Menschen wollten laut Stalin den Faschismus in der UdSSR aufbauen:

Gregori Sinowjew, ehemaliger Vorsitzender der Dritten Internationale

Lew Kamenew, ehem. Vorsitzender des Politbüros

V.A. Ter-Waganjan, ehem. Vorsitzender der armenischen Kommunistischen Partei

Karl Radek, ehem. Sekretär der Dritten Internationale

Juri Pjatakow, von Lenin „zu den hervorragendsten unter den jüngeren Kräften“ gezählt

Nikolai Bucharin, ehem. Chefredakteur der Prawda und Führer der Dritten Internationale

Alexej Rykow, offizieller Chef der Sowjetregierung in den fünf Jahren nach Lenins Tod

Christian Rakowski, ehem. Chef der ukrainischen Regierung

N.N. Krestinski, ehem. Sekretär des Zentralkomitees und Politbüromitglied