Putsch und Perestroika

Es nähert sich der Tag, an dem im August vor zehn Jahren in Moskau die Panzer vor das Parlament rollten. Der damalige Staatschef der UdSSR, Gorbatschow, wurde an seinem Urlaubsort unter Hausarrest gestellt und abgesetzt. Boris Jelzin schaffte es nach zwei Tagen, Teile des Militärs auf seine Seite zu bringen, ließ die Putschisten verhaften, löste kurze Zeit später die UdSSR formell auf und regierte fortan bis Ende 1999 Rußland. So oder ähnlich hat es jede/r in Erinnerung. Doch wer hatte hier letztendlich gegen wen geputscht und was ging diesem Putsch überhaupt voraus?

Mikhail Gorbatschow, geboren 1931, wurde nach dem Tod seines Vorgängers im März ’85 neuer Parteivorsitzender der KPdSU – mit damals 54 Jahren jüngster Parteivorsitzender seit Lenin. Gorbat-schow – dessen Name scheinbar untrennbar mit den Begriffen „Perestroika“ (Umbau, Reform) und „Glasnost“ (Offenheit) verbunden ist – begann eineinhalb Jahre nach Amtsantritt mit wohlklingenden und vielversprechenden Namen getarnte Privatisierungen und damit Kapitalisierungen der bis dato staatlich kontrollierten Wirtschaft. Gorbatschow war nicht selbst der „Erfinder“ dieser Veränderungen – er hatte mehr die Rolle des Präsentators inne. Er wurde 1985 von einem Komitee aus später mehrheitlich entschiedenen Gegnern der Perestroika zum Generalsekretär gewählt. Vormals zeigte er sich als strukturkon-servativer und linientreuer Stalinist, der noch ’86 anmahnte, Vorsicht und größte Zurückhaltung gegenüber der Beurteilung der Stalinzeit walten zu lassen. Doch schon ein Jahr später proklamierte er, daß niemals verziehen oder beschönigt werden sollte, was ’37 und ’38 geschehen sei und die damaligen Machthaber die Schuldigen waren.

Seine Reformen verkündete er schließlich unter dem Deckmantel des viel mißbrauchten Begriffs der Demokratie. Tatsächlich ging es aber um die Wiedereinführung des Kapitalismus in der Sowjetunion. Gorbat-schow selbst bezeichnete dies natürlich nicht als Kapitalismus, sondern weiterhin als Sozialismus und sprach vom „sozialistischen Markt“. Doch ein Markt hört nicht auf, ein Markt zu sein, wenn ihm ein anderes Etikett aufklebt wird.

Anfangs hatte der Großteil der in der Sowjetunion lebenden Menschen bezüglich der Perestroika Hoffnungen. Gorbatschow verpackte nämlich seine Reformen damit, daß er sagte, daß nicht mehr für die ArbeiterInnen, sondern durch die Arbei-terInnen die (Staats-)Macht verwendet würde. Und auch, daß von nun an nicht mehr die Ministerien in Moskau, sondern das Volk die Produktion führen solle. Er verwies dabei immer auf Lenins Losung „Alle Macht den Räten“, um das Vertrauen der Bevölkerung im Kampf gegen die parteiinternen Gegner auf seiner Seite zu haben.

Doch die Perestroika hob nicht die Lohnarbeit auf, welche auch in der stalinistischen Planwirtschaft für die organisierte Beherrschung der LohnarbeiterInnen sorgte. Allein das zentrale System der Planung von Moskau aus wurde minimiert, damit fortan ökonomische Kategorien wie Profit und Verlust, Nachfrage und Angebot sowie die Produktivität die entscheidende Rolle spielten.

Diejenigen, die Gorbatschows Reformeifer steuerten, gehörten zu der Gesellschaftsschicht, die gerade in den 80er Jahren in der UdSSR mehr und mehr Einfluß gewann – die für den organisatorischen Ablauf in den Staatsbetrieben zuständigen Mana-gerInnen. Und wenn Gorbatschow von Glasnost sprach und Offenheit, Diskussion und Kritik befürwortete, so galt dies nur für die ManagerInnen – das Vorbild hier war die scheinbare „Demokratie“ der westlichen Industrienationen, die „Demokratie“ von und für die herrschende Klasse.

Die ArbeiterInnen ließ er über seine Absichten im Unklaren – wie hätte er ihnen auch begreiflich machen können, daß diese jetzt tüchtiger arbeiten müssen und dabei höchstens derselbe Lohn herausspringt, weil ja die Perestroika darauf hinauslief, daß Kon-kurrenzgehabe der sowjetischen Betriebe zu verstärken? In der Praxis sahen die Reformen so aus: Zwar hatte eine Propagandakampagne den Ar-beiterInnen das Gefühl vermittelt, sie würden bei der Lösung empfindlicher Probleme der Produktion miteinbezogen, doch de facto bestimmte weiterhin die Geschäftsleitung und der Rat der Arbeiterkollektive, dessen Vorsitzender in der Regel der Betriebsdirektor war, ob nun für den gleichen Lohn mehr gearbeitet wurde oder nicht.

Noch tiefgreifendere Reformen forderte ’87 Boris Jelzin, der damalige Moskauer Parteichef. Sein Reformeifer ergab sich daraus, daß er eine andere Schicht der Bürokratie als Gorbatschow repräsentierte, die eine schnellere und noch radikalere Umsetzung der Reformen forderte. Er wurde daraufhin abgesetzt. Jelzin diente lediglich als „Bauernopfer“ zur Besänftigung der Gegner der Perestroika im Zentralkomitee, wurde jedoch wenig später wieder rehabilitiert. Es ist anzunehmen, daß dieser Vorfall Jelzins Beziehung zu Gorbatschow stark beeinträchtigt hat.

Aber auch andere waren nicht gut auf Gorbatschow zu sprechen. Sein Stellvertreter, der Verteidigungsminister, der Ministerpräsident und der KGB-Chef setzen Gorbatschow am 18. August 1991 während dessen Urlaub auf der Krim fest und erklärten, daß sie nun die Amtsgeschäfte übernehmen würden, da Gorbatschow erkrankt sei. Nur drei Tage lang konnten sie sich halten, dann hatte Jelzin, der nun schon Präsident der russischen Teilrepublik der UdSSR war, das Militär auf seine Seite gebracht.

Gorbatschows anschließende Heimkehr war kein Triumph – dafür hatte Jelzin, der „Held“, gesorgt. Noch nicht einmal vier Monate danach beschlossen die Führungen Rußlands, Weißrußlands und der Ukraine, auf Initiative von Jelzin, einen seperaten Staatenbund zu gründen (GUS – Gemeinschaft Unabhängiger Staaten). Sie lösten damit auch die UdSSR am 8.12.1991 eigenmächtig auf und putschten somit auf ihre Art und Weise gegen Gorbatschow. Drei Wochen später trat dann auch Gorbatschow zurück, da der Staat, den er regierte, nur noch auf dem Papier existierte.

„Sein Glasnost zerlöcherte die Autorität im Lande, zuletzt auch seine eigene. Seine Perestroika zerschlug die bis dahin recht und schlecht funktionierende Sowjetwirtschaft, ohne der Bevölkerung im freien Fall ihres Lebensstandards wirkliche Alternativen zu bieten. Und schließlich: Seine Öffnung nach Westen brachte jene Jungradikalen der letzten Komsomol-Generation an die Macht, deren neoliberale Rezepte jämmerlich versagten und bei vielen eine endgültige Abkehr vom westlichen Demokratie-Modell bewirkten“, schrieb das bürgerliche Magazin SPIEGEL. Und weiter: “Russlands Oligarchen, die den Reichtum des Landes unter sich aufteilten und binnen weniger Jahre Dollarmilliarden zusammenrafften, erlebten ihre Gründerzeit; sie müssten dafür noch heute Gorbatschow dankbar sein.“

Nun, im Jahr 2001, stehen die „unabhängigen“ Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR vor ungelösten sozialen Problemen: Anstelle von wirtschaftlichem Aufschwung, Wohlstand und Demokratie haben die kapitalistischen Reformen zu einem rasanten Anwachsen von Armut, sozialer Ungleichheit und einer nie gesehenen Blüte von Korruption und Kriminalität geführt. Vielfach wurden autoritäre Polizeiregime hervorgebracht, die den Interessen der Massen völlig feindlich gegenüber stehen. Die Wiederkehr des Kapitalismus hat die Einschätzung des russischen Revo-lutionärs Leo Trotzki aus den 30er Jahren auch praktisch bestätigt. Er analysierte den Stalinismus als reaktionäres System, das nicht auf Dauer bestehen könne. Die einzige Lösung bestand seiner Meinung nach in einer politischen Revolution gegen den Stalinismus. Im Falle, das dies nicht stattfinden würde, prophezeite er eine Rückkehr zum Kapitalismus.

"Das Verbot der Oppositionsparteien zog das Verbot der Fraktionen (Anm.: innerhalb der bolschewistischen Partei) nach sich; das Fraktionsverbot mündete in das Verbot, anders zu denken als der unfehlbare Führer. Der polizeiliche Monolithismus der Partei brachte die bürokratische Straflosigkeit mit sich, die zur Quelle aller Spielarten von Zügellosigkeit und Zersetzung wurde."

Leo Trotzki in: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie, 1936