“Schwarzbuch des Kommunismus”

Kurz vor dem 7. November 1997 – dem 80. Jahrestag der Oktoberrevolution in Rußland – lagen in den französischen Buchhandlungen stapelweise die 800-Seiten-Schmöker da: Das Schwarzbuch des Kommunismus, mit einer grellroten Bauchbinde, welche die "Wahrheit über die 100 Millionen Opfer des Kommunismus" versprach. Schon Wochen vorher hatte der Verleger des hartleibigen Opus, Bernard Fixot, vollmundig bei einer Pressekonferenz versprochen: "Binnen eines Monats nach Erscheinen dieses epochalen Werkes wird die KPFrankreich vom Erdboden verschwunden sein".

 Bereits im Vorfeld der Erstauslieferung des Schwarzbuchs entbrannten heftige Debatten, und die Lizenzeinkäufer der großen internationalen Verlagshäuser gaben sich bei ihrem französischen Kollegen Robert Laffonte die Klinke in die Hand, um die Übersetzungsrechte für das Werk von Stéphane Courtois, Nicolas Werth, Jean-Lous Margolin und anderen zu erwerben. Für den deutschen Sprachraum machte der Piper-Verlag das Rennen – und so kam das Schwarzbuch auch über die Deutschen (und natürlich auch die Österreicher).

Wie ein Bestseller gemacht wird…

Von Null auf Eins schaffte das für den deutschen Raum um Beiträge zur DDR "angereicherte" Werk den Sprung auf die Bestsellerliste des Spiegel, animierte zu ganz- und doppelseitigen Rezensionen in der stockkonservativen Frankfurter All-gemeinen Zeitung (FAZ) und der angeblich so linken tageszeitung (taz). Die Bild-Zeitung, plötzlich bildungsbürgerlich unterwegs, veröffentlichte gar erstmals in ihrer Geschichte eine Vorabdruckserie – die sich allerdings auf die verknappte Schilderung "kommunistischer Greuel" beschränkte. Natürlich durfte auch Österreich nicht nachstehen – hier war es die Kronen-Zeitung und vor allem ihr dräuendes Geschichtsorakel Ernst Trost, das den Leserinnen und Lesern einbleute: "Der Kommunismus war die größte Verbrecherbande des Jahrhunderts".

Was aber macht den Sensationserfolg eines Buches aus, das sich "wissenschaftlich" mit einer der kompliziertesten Materien dieses Jahrhunderts – nämlich der Bilanz des Kommunismus – auseinandersetzt? Zunächst ist da der Anspruch: Das Schwarzbuch möchte nachweisen, daß der "Kommunismus" (wir werden auf den Begriff noch zurück kommen) nicht nur gescheitert ist, sondern zugleich nicht nur durch verbrecher-ische Regimes, sondern durch eine durch und durch verbrecherische Ideologie bestimmt ist. Das Schwarzbuch beansprucht weiters, erstmals eine globale Sicht des "Kommunismus" zu bieten – zwar steht im Mittelpunkt die Abrechnung mit der ehemaligen UdSSR, aber Detailstudien über alle Kontinente sollen die Ausgangsthese untermauern.

Drittens ist es die "wissenschaftliche Statur" der Verfasser, die dem Werk Reputation verleiht – durch die Bank handelt es sich um Mitarbeiter des Conseil National de la Recherche Scientifique (CNRS), dem französischen Pendant zu unserer Akademie der Wissenschaften. Stéphane Courtois hat als Verfasser einer Geschichte der französ-ischen KP seine akademischen Lorbeeren eingeheimst, Nicolas Werth gilt als Experte zur Geschichte der Sowjetunion, Jean-Lous Panné (Ko-Autor des Beitrages über die KOMINTERN) ist als Historiograph der französischen Arbeiterbewegung der 30er Jahre hervorgetreten – ehrenwert sind sie alle, und vor allem der Ex-Maoist Courtois ist ein ehrenwerter Mann.

Es ist nicht "trotzkistische Häme", wenn wir darauf hinweisen, daß ein Gutteil der Autoren des Schwarzbuch eine bewegte Vergangenheit bei diversen mao-stalinistischen Zirkeln vorweisen kann – Courtois, seine Verleger (national wie international), freundliche Rezensenten und politische Nutznießer der sperrigen Publikation führen dieses Argument immer wieder mit Lust an, um die Glaubwürdigkeit des Schwarzbuchs zu unterstreichen. Immerhin – diese intelligenten Menschen waren einst in die Irre gegangen, doch in der Ferne leuchtete ein Licht, und dieses Licht hat Namen, und seine Namen sind Legion: Kapitalismus, Demokratie, Liberalismus. Und aus dem Dunkel rief eine Stimme: "Tuet Umkehr", und sie taten sie, – sie, die sie einst die Ideologie des Marxismus-Leninismus mit Eßstäbchen in sich hineingestopft hatten, und sie warfen ihre wirren Theorien und ihre falschen Götzen über Bord und wurden wohlbestallte (selbstverständlich wertfreie) Wissenschafter und wandelten sich vom Saulus zum Paulus, und so legen sie Zeugnis ab, das mehr Gewicht hat, als jenes von hundert Gerechten.

Der Wirrwarr der Begriffe und der Zahlen

Das in der Rezeption meistaufgegriffene Thema der Verfasser des Buches lautet: Der "Kommunismus" hat mehr Menschenleben auf dem Gewissen als der Nationalsozialismus; der "Rassenmord" des NS-Regimes war läppisch gegen den "Klassenmord" der "Kommunisten" an Kulaken (russischen Mittelbauern), Bourgeois, Kleinbürgern und allen Abweichlern. Diese Verbrechen seien dem "Kommunismus" inhärent, ihre Wurzeln finden sich bereits bei Karl Marx und Friedrich Engels. Vor allem die diesbezüglichen Äußerungen von Courtois, die sofort den frenetischen Beifall der rechtsradikalen Front Nationale fanden – etwa die Forderung nach einem "Nürnberger Gericht gegen den Kommunismus" – gingen aber sogar seinen eigenen Mitarbeitern zu weit. In aller Öffentlichkeit, nämlich den Spalten des linksliberalen Le Monde, warf der sicherlich nicht philo-kommunistische Nicolas Werth Courtois vor, er habe den geplanten "wissenschaftlichen Charakter" des Buches über Bord geworfen und ein "polemisches Pamphlet" herausgegegen.

Zunächst ist die "Fahrlässigkeit" bemerkenswert, mit der die Verfasser den Sammelbegriff "Kommunismus" verwenden. Bezüglich Rußlands etwa unterscheiden nicht zwischen den revolutionären Umwälzungen 1917/18, dem Bürgerkrieg und der ausländischen Intervention 1918-1921, der Konsolidierungsphase der Neuen Ökonomischen Politik, dem Kampf gegen die bürokratische Entartung in Staat und Partei bis 1927 und der sich durchsetzenden stalinistischen Konterrevolution und derem ersten Klimax des Massenterrrors 1936/37. Ebenso wird bei der "internationalen Analyse" alles für kommunistisch erklärt, was gut und teuer ist: Die nicaraguanische FSLN ebenso wie diverse afrikanische Befreiungsbewegungen. So füllen denn die Herren Historiker ihre Sündenverzeichnisse, zählen Tote und Verhaftete zusammen und kommen auf – ja, manchmal 60 Millionen, manchmal 80 Millionen und, wenn sie besonders in Eifer geraten, gar 100 Millionen "Opfer des Kommunismus".

Daß die Buchhaltung nicht immer stimmt, steht auf einem anderen Blatt. Wahllos einige Beispiele: Laut Schwarzbuch gab es 1986 auf Kuba "12.000 bis 15.000 politische Gefangene" – Amnesty International, sicher nicht pro-castristisch bei seinen Angaben, kommt im Jahresbericht 1987 auf 450. Laut Schwarzbuch ermordeten Sandinisten am 23. Dezember 1981 in Leimus 100 Bergarbeiter – sogar ein Hirtenbrief der stockkonservativen katholischen Bischöfe vom 17. Februar 1982 weiß nur von "etwa zehn Personen". Die Hungersnot in Rußland 1932/33 (6 Millionen Tote) wird von Courtois im Vorwort als "ukrainische Hungernot" bezeichnet, die 6 Millionen Toten seien samt und sonders Ukrainer gewesen, die sich der Politik Moskaus widersetzt hätten. Die Regierung hätte den "Hunger als Waffe" eingesetzt – in Wirklichkeit hat die Hungersnot Landesteile der UdSSR weit über die Ukraine hinaus betroffen und sogar die Hauptstadt Moskau erfaßt…

En passant: Courtois und Compagnie haben mit ihren dubiosen Opferberechnungen natürlich zynischen Zahlenspielereien aller Art Tür und Tor geöffnet. In Frankreich und Deutschland haben sich Rechtsextremisten mit Begeisterung auf die Daumenpeilungen des Schwarzbuches gestützt, um die Massenmorde der Nazis und ihrer Kollaborateure zu verharmlosen.

Und etliche Linke sind prompt in die Falle getappt, haben ihrerseits zum Taschen-rechner gegriffen und zu addieren begonnen. Das Instrument der Opfer-Quantifizierung läßt sich ja auch leicht gegen die Verfasser des Schwarzbuches wenden. Würde man lediglich das 20. Jahrhundert hernehmen und die Opfer zweier imperialistischer Weltkriege, des Kolonialismus, die Toten und Verschwundenen nach diversen reaktionären Staatsstreichen und die Opfer von Hungersnöten, Epidemien und Naturkatastrophen hernehmen, die das Produkt kapitalistischer Ausbeutung sind: man könnte mit Leichtigkeit nachweisen, daß die kapitalistischen Verbrechen ein Vielfaches der "Opfer des Kommunismus" ausmachen – und womöglich zu dem Schluß kommen, daß "der Kommunismus" im Vergleich gar nicht so schlimm war.

Eine derartige Auseinandersetzung geht aber am Kern der Debatte vorbei. Die Grundfragen sind doch die: Was bezwecken die Autoren mit ihrer Methode? Sind die Ungereimtheiten und Widersprüche in den einzelnen Beiträgen Zufall oder Produkt des beabsichtigten Ergebnisses? Und müssen wir nicht vor allem dem bürgerlichen Urteil über "den Kommunismus" eine eigene Bilanz von Kommunismus und Stalinismus entgegensetzen?

Die revolutionäre Gewalt

Die Oktoberrevolution 1917 leitete eine Wende in der Geschichte ein. Nach einer Reihe von gescheiterten Aufständen und Revolutionen mit starker proletarischer Beteiligung oder gar Prägung hatte erstmals das Proletariat eines Landes, geleitet von einer revolutionären Partei – den Bolschewiki – und gestützt auf breite, basisdemokratische Komitees – die Arbeiterräte oder Sowjets – erfolgreich die Macht ergreifen können. Entgegen der modischen Interpretation, daß die Oktoberrevolution der Putsch einer kleinen Minderheit gewesen ist (unter anderem wird diese Theorie in den Werken von Richard Pipes und Orlando Figes vertreten, popularisiert wurde sie in unseren Breiten mit beredter Gestik von Hugo Portisch), hat es sich tatsächlich um eine breite, in der Tiefe der russischen Gesellschaft herangereifte Revolution gehandelt.

Hatten die proletarischen Parteien und insbesondere die Bolschewiki in der ersten Phase der Revolution (Februar bis Anfang April 1917) noch eine untergeordnete Rolle gespielt, verschob sich die Massenbewegung zusehends nach links. Je weniger die bürgerlich-demokratischen oder konstitutionell-monarchistischen Parteien bereit waren, den Forderungen der russischen Arbeiter, Bauern und Soldaten nach Frieden – Freiheit – Brot nachzukommen, desto rasanter wuchs der Einfluß des radikalen linken Flügels. Hatten die Bolschewiki beim Gesamtrussischen Rätekongreß im Juni knapp 13 Prozent der Deputierten gestellt, waren es im Oktober beim 2. Rätekongreß- trotz einer Phase der Verfolgung und Illegalisierung der Partei ab Juli – zwischen 45 bis 60 % der Delegierten. Daß der effektive Sturz der Regierung Kerenski fast unblutig über die Bühne ging, spricht weniger für die These vom "meisterlichen Handstreich" sondern vielmehr für die Tatsache, daß die alte Gesellschaft so morsch und so zerbrechlich geworden war, daß sich in der Schicksalsstunde des alten Regimes niemand mehr fand, der auch nur die Hand zum Schutze dieses moribunden Kabinetts gehoben hätte.

Aber natürlich bringt eine so radikale Umgestaltung einer rückständigen, armen, durch entbehrungs- und verlustreiche Jahre des Weltkriegs geprägte Umwälzung auch immer wieder neue Konflikte mit sich – vor allem mit Angehörigen der ehemals herrschenden Klassen, die auf ihr heiligstes Recht – das auf Ausbeutung – nicht verzichten wollen, und mit dem Imperialismus. Trotzdem kann das junge Sowjetrußland mit den inneren Feinden ebenso fertig werden wie mit den 21 ausländischen Interventionsarmeen. Aber der Preis dafür ist schrecklich: Während des Bürgerkriegs sterben alleine eine Million Menschen an Hunger, die genaue Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung läßt sich (aufgrund mangelnder Statistiken aus der Vor- und Kriegszeit) nicht genau feststellen. Hier muß noch einmal mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden: Courtois und Werth machen für die Opfer der Bürgerkriegs ausschließlich "den Kommunismus" verantwortlich. Also: nicht die zaristischen oder imperialistischen Aggressoren haben blutbefleckte Hände – diejenigen, die sich gegen die feindliche Erdrosselung gewehrt haben, sind schuld!

Die Bolschewiki haben stets die Verantwortung für die Opfer der Revolution übernommen – auch wenn diese im Kern dem Widerstand der Herrschenden anzulasten sind. Die Toten des Bürgerkriegs und der Intervention aber gehen eindeutig auf das Konto der internationalen Bourgeoisie. Und noch etwas ganz anderes sind die Opferzahlen des konterrevolutionären stalinistischen Terror ab den 20er Jahren.

Während des Bürgerkrieges hat es auch auf Seite der revolutionären Ordnung Übergriffe und Verbrechen gegeben – als Antwort auf den Terror der Reaktionäre gegen Arbeiter und Bauern. Was später die Nazis während des Okkupationskrieges gegen die UdSSR ab 1941 praktizierten – den "Kommissarsbefehl", also die sofortige Er-schießung aller kommunistischen Funktionäre in der Roten Armee, praktizierten die Denikin, Wrangel, die britischen, französischen, amerikanischen und … und… und… Generalstäbe bereits während dieses Krieges. In den von den Weißen besetzten Gebieten wüteten die alten zaristischen Pogromhelden mit unbeschreiblicher Grausamkeit gegen die jüdische Bevölkerung, standen summarische Erschießungen auf der Tagesordnung.

Der Rat der Volkskommissare (also die Revolutionsregierung) hat die Übergriffe und Grausamkeiten gegen gefangene Konterrevolutionäre verurteilt und Beteiligte an ihnen immer wieder öffentlich verurteilt und bestraft. Aber diese oft aus Rache- und Haßgefühlen entstandenen Verbrechen sind quer durch die Geschichte immer die Folge von konterrevolutionären Unternehmungen, die jeder Revolution folgen wie ein finsterer Schatten.

Das Schwarzbuch verweist natürlich nicht nur auf diesen Aspekt der "kommunistischen" Gewalt – mit Vehemenz wird die Errichtung von Gefangenenlagern für Mitglieder der Bourgeoisie oder die Verhängung der Geiselhaft über Angehörige der ehemaligen herrschenden Klasse und die Exekution solcher Geiseln angeprangert. So unerfreulich das ist – ohne diese Maßnahmen wäre die Revolution binnen weniger Monate von der Bühne der Geschichte verschwunden – vom Wüten der Sieger hatten die arbeitenden Massen schon mehr als nur einen Vorgeschmack zu spüren bekommen. Die letztlich moralisierende Kritik der Courtois und Co. heißt, in Klartext übersetzt: "Jede Veränderung der bestehenden Ordnung ist automatisch verbrecher-isch, müssen doch die Revolutionäre zwangsläufig auf gegenrevolutionäre Gewalt ihrerseits mit Gewalt antworten."

Aber die französischen Meister der Kriminal-Geschichtsschreibung gehen in ihrem maßlosen Zynismus sogar noch einen Schritt weiter: Courtois und Werth verfechten die These, die Bolschewiki hätten den Bürgerkrieg bewußt provoziert, um "ihre Diktatur" festigen zu können. Wie clever: Die Führer eines ausgehungerten, kriegsmüden Landes, dessen Armee sich de facto alleine aufgelöst hat und das einem internationalen Embargo ausgesetzt ist, ruft 21 imperialistische Länder und ein paar Millionen nationale Rabauken zum Losschlagen auf – und gewinnt dann dieses provokatorischen Krieg auch noch, weil sich plötzlich die Massen, die ja so unterdrückt werden, plötzlich zur Verteidigung des Landes bereit finden. Also wann das kein Beweis der kommunistischen Perfidie ist…

Die sozialistische Revolution soll den Grundstein zur Errichtung der klassenlosen Gesellschaft legen, einer Gesellschaft frei von Ausbeutung, Entfremdung und Not. Das in der ersten Phase dieses Weges ein Staatsapparat notwendig ist, der die Verwaltung der Produktion und der Verteilung, der Organisierung der sozialen Dienste, aber auch der Verteidigung gegen die innere und äußere Konterrevolution organisiert, liegt auf der Hand. Diese Diktatur des Proletariats ist jedoch keine "Diktatur" im vulgären Sinn des Wortes – sie ist vielmehr erstmals die Herrschaft der Mehrheit (der arbeitenden Klassen) über die Minderheit (die ehemaligen Ausbeuter).

Ein funktionierendes Rätesystem, also die Existenz eines engmaschigen Geflechts von direkt von den Arbeitern, Landarbeitern und Kleinbauern gewählten Vertretungen, in denen die Delegierten rechenschaftspflichtig und jederzeit wieder abwählbar sind, muß das Rückgrat dieser Diktatur des Proletariats sein, soll sie nicht erstarren, bürokratisch verknöchern und schließlich entarten.

Die stalinistische Konterrevolution

Genau ein solcher Degenerationsprozeß setzte in der Sowjetunion ein. Die Partei- und Staatsbürokratie, die im Generalsekretär der bolschewistischen Partei, Josef W. Stalin, ihren kristallisierten, personalisierten Ausdruck fand, nutzte die Erschöpfung der Massen nach dem Ende des Bürgerkriegs und die Wende in der Wirtschaftspolitik, die nach den radikalen Enteignungen des Kriegskommunismus eine begrenzte Zulassung marktwirtschaftlicher Elemente zuließ, um ihre Macht zu festigen und sukzessive das Volk von den politischen Entscheidungen auszuschließen.

Innerhalb der Kommunistischen Partei formierten sich schon früh – ab 1921 – Tendenzen und Fraktionen, die auf diese Gefahren hinwiesen und durchaus von-einander verschiedene Lösungsvorschläge unterbreiteten. Der todkranke Lenin wies im letzten Jahr seines Lebens, 1923, wiederholt auf die drohenden Gefahren der bürokratischen Entartung des Arbeitsstaates hin.

Nach seinem Tod 1924 begann Stalin, gestützt auf bekannte Parteiführer wie Grigorij Sinowjew oder Lew Kamenew, die innerparteiliche Opposition zurückzudrängen und schließlich zu zerschlagen. Daß der Sieg des Stalinismus nicht unausweichlich war, läßt sich aus den Dokumenten der Linken Opposition rund um Leo Trotzki ablesen, die in allen Punkten – von der Frage der Sowjetdemokratie bis zu Wirtschafts- und Agrarfragen, in der Außenpolitik und in der Frage der politischen Orientierung der Kommunistischen Internationale – Alternativen vorlegte. Letztlich entschied aber die Kontrolle über den Partei- und Staatsapparat diese Schlacht, da der Opposition die Verbreitung ihrer Ideen so gut wie unmöglich gemacht wurde. Der Hintergrund dieser Entwicklung war, daß die proletarische Revolution auf Rußland beschränkt geblieben war und in diesem rückständigen Land gegenüber dem Weltkapitalismus nicht überleben konnte.

Der stalinistische Sieg über seine innerparteilichen Gegner leitete ab 1927 einen rasanten Prozeß ein, der immer weiter von den re-volutionären Positionen der Bolschewiki wegführte. Die "Theorie" vom Sozialismus in einem Land führte zur Aufgabe der Unterstützung der Revolution in anderen Ländern und zur erzwungenen Unterwerfung der ausländischen KPen unter die Interessen der Stalin-Bürokratie. Zugleich reproduzierte sich die Bürokratie aus sich selbst heraus: Durch materielle Privilegien wurden Opportunisten und Glücksritter angelockt, die voller Verachtung auf Prinzipien spuckten, die nur noch zur Täuschung der arbeitenden Bevölkerung in den Mund genommen wurden.

Diese konterrevolutionäre Kaste war es auch, die den Terror in der Arbeiterbewegung internationalisierte und sich von nun an systematisch daran beteiligte, Revolutionen in anderen Ländern im Rahmen des Kapitalismus zu halten. Die Sowjetbürokratie war an arbeiterdemokratischen Räterepubliken gar nicht interessierrt – hätten die doch auch die Bürokraten-Herrschaft in Rußland in Frage gestellt.

Courtois, Werth und Konsorten bemühen sich krampfhaft, eine Kontinuität von Lenin zu Stalin zu konstruieren. Sie setzen in Wahrheit damit ein Gleichheitszeichen zwischen Revolution und Konterrevolution. Denn nichts anderes war der Stalinismus: Ein konterrevolutionäre Operation, die zwar Errungenschaften der Revolution – das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, das Außenhandelsmonopol, die Zerschlagung des Großgrundbesitzes – aufrechterhalten mußte, jedoch nicht, um das materielle und kulturelle Niveau des Landes zu heben, sondern um die materielle Basis zu erhalten, die der Bürokratie ihre Privilegien sicherte.

Daß diese Konterrevolution "rot angestrichen" war, hat viele Zeitgenossen, aber auch viele Nachgeborene in tiefste Verwirrung gestürzt. Aber wer die unterschiedlichen Etappen der russischen Revolution und Konterrevolution nicht begreift, wird sich in der sowjetischen Geschichte heillos verirren. Den Fachhistorikern Courtois, Werth, Margolin und wie sie sonst noch alle heißen, muß der Vorwurf gemacht werden, daß sie wider besseres Wissen aus ideologischen Gründen mit Taschenspielertricks Revolution und Konterrevolution gleichsetzen, um ihr Ziel – die Verteufelung jeglichen Kampfes gegen die soziale Ungleichheit – zu erreichen. Beispielsweise gehen sie mit erstaunlicher Nachlässigkeit mit einem besonders intensiv erforschten Abschnitt der Geschichte der kommunistischen Bewegung um. Die Fraktionskämpfe innerhalb der Kommunistischen Partei Rußlands spielen bei ihnen keine Rolle, mit aller Gewalt biegen sie die Fakten zurecht, um ihre ideologisch motivierte These von der "Kontinuität Lenin – Stalin" zu untermauern.

Wenn langgediente Politiker wie in Frankreich der Führer der konservativen UDF, de Courson, oder in Deutschland der CDU-Chef Wolfgang Schäuble, das Schwarzbuch bei öffentlichen Auftritten schwenkten und entsetzt ausriefen, daß man "nun endlich" das ganze Ausmaß der kommunistischen Verbrechen erahnen könne, ist das zumindest erstaunlich. Bereits in den 30er Jahren hatten in vorderster Front die Anhänger der Internationalen Linken Opposition, also der späteren IV. Internationale, immer wieder auf die stalinistischen Verbrechen hingewiesen und zur Verteidigung der Opfer der Repression aufgerufen. Klare Zeugnisse dafür sind etwa das Rotbuch über den Moskauer Prozeß 1936 (eine von Trotzkis Sohn Leo Sedow im August 1936 verfaßte Analyse des ersten Moskauer Schauprozesses) und Trotzkis Buch Stalins Verbrechen (1937). Mit dem stalinistischen Terror in der spanischen Revolution setzte sich etwa der Journalist und Schriftsteller George Orwell in Mein Katalonien (1938) auseinander.

Bemerkenswert übrigens: Die Herren Schwarzbuch-Verfasser, die die exquisitesten Quellen strapazieren, scheinen diese Bücher nicht zu kennen. Zumindest zitieren sie sie nicht und führen sie auch nicht im Literaturverzeichnis an. Schlägt hier bei den Weißen Rittern der Demokratie vielleicht doch noch ein bißchen von ihrer ach so lamentablen mao-stalinistischen Vergangenheit durch, die sie trotzkistische Literatur scheuen läßt wie den Teufel das Weihwasser?

Diese Werke stießen jedoch nicht nur bei den "offiziellen" Kommunistischen Parteien auf erbitterte Ablehnung – auch von bürgerlicher Seite wurde das Thema des stalinistischen Terrors bis in die Zeit des Kalten Krieges heruntergespielt und verniedlicht. Richtete sich dieser konterrevolutionäre Terror in erster Linie gegen Kommunisten, gegen geschworene Feinde von Kapitalismus wie Stalinismus gleichermaßen. Und auch dannach wurden die "Verbrechen" des "Kommunismus" im Westen je nach der politischen Konjunktur medial aufgegriffen oder nicht.

Warum jetzt?

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 hatten die Ideologen der bürgerlichen Ordnung weltweit verkündet: "Der Kapitalismus hat gesiegt – er ist das tauglichere System" (eine Ansicht, die übrigens auch Courtois teilt: "Im Moment haben wir kein besseres Wirtschaftssystem als das kapitalistische. Es hat viele Fehler, aber alle anderen haben in die totale Katastrophe geführt."). Tollkühne Meisterdenker wie Francis Fukuyama haben gar "das Ende der Geschichte" proklamiert.

Nun – die Zeiten ändern sich. Nach kleinen, beschönigend "Zwischenrezessionen" genannten Krisen, einem permanenten Anstieg der Arbeitslosenzahlen in den entwickelten kapitalistischen Ländern, der Schuldenkrise in Lateinamerika und dem Kollaps der asiatischen Tiger sind solche jubilierenden Triumpfgesänge verklungen. Osteuropa, und vor allem die ehemalige Sowjetunion, wurde zum Experimentierfeld neoliberaler Wirtschaftswissenschafter und ihrer politischen Helfer – von den versprochenen Segnungen des freien Marktes haben die arbeitenden Menschen wenig mitbekommen. Die versprochenen politischen Freiheiten kommen in erster Linie Spekulanten und Krisengewinnlern zugute, die sich oft genug aus den Reihen der ehemaligen stalinistischen Organisationen rekrutieren und plötzlich die Muezzins des Kapitalismus geworden sind.

Die Unzufriedenheit mit diesem "besten aller Systeme" ist latent, auch wenn sie sich heute in Europa erst zaghaft manifestiert – ökonomisch Widerstandskämpfen, politisch in einer Stärkung der Sozialdemokratie wie in Frankreich, Großbritannien oder Deutschland. In Asien hat die Krise zur Radikalisierung von Millionenmassen geführt, die – ohne echte politische Führung – nach einem Ausweg tasten, der für sie jedoch sicherlich keine Neuauflage der alten, gescheiterten Wirtschaftsstrukturen sein kann.

In einer so delikaten internationalen Situation ist es wenig verwunderlich, daß die Bourgeoisie die Arbeiterbewegung der fortgeschrittenen Länder mit allen Mitteln gegen die Gefahr des Kommunismus impfen möchte. Die Auflistung der Verbrechen und "Verbrechen" im Schwarzbuch ist eines dieser Medikamente. Dabei nutzt die Bourgeoisie die Schwächung der Linken weidlich aus, muß sie doch nur mit geringem Widerstand rechnen, selbst wenn sie – wie Courtois – mit Halb- und Unwahrheiten operiert.

Im Gefolge der "Mutter aller Abrechnungsschwarten" sind eine Reihe von ähnlichen "Werken" publiziert worden – etliche werden nachfolgen. Alleine der literarische Output an neuester anti"kommunistischer" Literatur straft das Gerede vom "Ende der Geschichte" lügen. Wieviel Angst müssen diese angeblich so selbstbewußte Klasse und ihre Ideologen haben, wenn sie sich dauernd mit fast pathologischer Manie wechselseitig versichern, daß ihr Hauptfeind tot und begraben sei.