Die NATO und die Menschenrechte

 Mit der tiefsten Betroffenheit und dem heiligsten Ernst, den einem PR-Berater antrainieren können, haben US-Präsident Clinton und NATO-Generalsekretär Solana die Angriffe auf Jugoslawien begründet: Die "Greueltaten gegen die albanische Bevölkerung" müßten beendet werden. Die Geduld der internationalen Staatengemeinschaft sei am Ende.

Wenn es derart um Menschenrechte geht, darf natürlich auch die sozialdemokratische Regierung Schröder nicht fehlen: Alle deutschen Mitbürger müßten in dieser schweren Stunde geschlossen "hinter unseren Soldaten stehen". Und während deutsche Kampfflugzeuge wieder einmal an einer Mission am Balkan teilnehmen, apportiert der willige österreichische Verteidigungsminister Fasslabend mit seiner ureigenen einfältigen Aufgeregtheit: Milosevic!, "der letzte Diktator Europas!", muß endlich! gestoppt werden!! Mit dieser Propaganda, daß es sich bei den NATO-Angriffen um einen humanitären Einsatz handelt, werden wir im folgenden aufräumen.

Der Westen und die Menschenrechte

Trotz all der bemühten gegenteiligen Darstellungen von Solanas medialen Hilfstruppen geht es der NATO am Balkan zweifellos weder um Menschenrechte noch um Frieden. Die Kommandeure der Neuen Weltordnung wollen vielmehr klar machen, daß sie Bürgerkriege, Vertreibungen und Instabilität nur dort dulden, wo sie das selbst angezettelt haben oder es ihren Interessen entspricht. Der Apartheitstaat Südafrika war von den USA und ihren Verbündeten nicht nur geduldet, sondern auch – gegen die antiimperialistischen Staaten Angola und Mocambique – unterstützt und aufgerüstet worden. Ein militärisches Eingreifen wegen der jahrzehntelangen brutalen Unterdrückung der schwarzen Bevölkeungsmehrheit stand nicht einmal zur Debatte. Der Rassistenstaat war eben die wichtigste Bastion des freien Westens in der Region und auch ökonomisch unentbehrlich.

Das war nur auf den Kalten Krieg zurückzuführen? Seit dem Ende der Sowjetunion sieht die Sache ganz anders aus? Mitnichten. Bei den vorgeblich ethnischen Konflikten in Zentralafrika in den letzten Jahren haben die westlichen Großmächte, insbesondere Frankreich und die USA, ihre sauberen Finger mit im Spiel. Sie finanzieren verschiedene Diktatoren und solche, die es werden wollen, rüsten sie mit Waffen aus und sichern ihren Konzernen als Gegenleistung den Zugriff auf Erdöl und andere Bodenschätze.

In Lateinamerika wurden überhaupt sämtliche blutigen Militärregimes – von den vorrevolutionären Präsidenten in Kuba und Nicaragua bis zu den Putschisten in Chile und Argentinien – von den USA aufgepäppelt und ausgehalten, waren Batista, Pinochet und Co. doch ebenso brav marktwirtschaftlich wie stramm antikommunistisch. Gab es da irgendwo mal Probleme, wurden CIA und US-"Militärberater" losgeschickt, konterrevolutionäre Söldnerbanden zusammengestellt, Gebiete entvölkert und rebellische Bevölkerungsteile systematisch terrorisiert. In solchen mörderischen Einsätzen in El Salvador, Honduras und Nicaragua hat der jetzige US-Botschafter und OSZE-Beauftragte Walker, der nun im Kosovo die Einhaltung Menschenrechte kontrollieren soll, in den 80er Jahren eine Schlüsselrolle gespielt. Ironie der Geschichte ist da wohl nicht ganz der passende Ausdruck.

In Indonesien wurde der Schlächter Suharto, der 1965 durch ein Massaker an einer Million Kommunist/inn/en und Arbeiter/inne/n (und mit der unvermeidlichen CIA-Hilfe) an die Macht gekommen war, erst im Mai 1998 fallengelassen – als das auch beim besten Willen nicht mehr zu vermeiden war. An eine humanitäre Mission der NATO-Bomber war hier nie gedacht, war Suharto doch stets ein zuverlässiger Parteigänger des Westens. Demokratie? Menschenrechte?

Auch der irakische Parade-Bösewicht Saddam Hussein war jahrelang von den USA, Frankreich und der BRD aufgerüstet worden, um nach 1979 den unverläßlichen Iran durch den irakisch-iranischen Krieg (1980-88) zu schwächen. Über Saddams Massaker an den dortigen Kurden (inklusive Giftgaseinsatz) wurde großzügig hinweggesehen. Erst als der Irak 1990 die pro-westliche Scheich-Diktatur Kuwait annektierte und seine militärische Stärke auch nicht mehr als wünschenswert betrachtet wurde, erklärten die Schreiberlinge der Neuen Weltordnung den irakischen Präsidenten zum neuen Hitler und zu einer Bedrohung für den Weltfrieden. Das Ergebnis der wochenlangen alliierten Bombardements waren 200.000 tote Irakis. Saddam Hussein wurde dann doch an der Macht gelassen – er war den Vorreitern der Demokratie allemal lieber als ein südirakischer Schiitenstaat im Bunde mit dem Iran und ein Staat der irakischen Kurden, der den NATO-Staat Türkei hätte destabilisieren können. So wurden dann – auch um die Erdölpreise am Weltmarkt nicht völlig in den Keller fallen zu lassen – Wirtschaftssanktionen gegen den Irak verhängt, an denen mittlerweile hunderttausende Menschen (insbesondere Kinder) gestorben sind.

Die NATO-Massaker an der irakischen Bevölkerung haben ganz offensichtlich nichts mit der völkerrechtswidrigen Besetzung Kuwaits zu tun. Das ist schon daraus zu ersehen, daß Israel jahrzehntelang palästinensische Gebiete besetzen, Teile davon ethnisch säubern konnte und dabei trotz unzähliger UNO-Resolutionen mit den westlichen Verteidigern der Menschenrechte nie Schwierigkeiten bekam. Kein Wunder: Der Zionistenstaat ist der loyalste und militärisch wichtigste Kettenhund des US-Imperialismus in der Region. Treue Vasallen des Westen sind auch die islamistischen Diktaturen in Pakistan und Saudi-Arabien. Sie erfreuen sich deshalb in den demokratischen Regierungskanzleien weit größerer Beliebtheit als etwa der Iran und können ebenso wie lange Zeit die afghanischen Islamisten der Taliban mit umfangreicher Finanz- und Militärhilfe des Pentagon rechnen.

Daß die türkische Unterdrückungspolitik gegenüber der kurdischen Bevölkerung, durch die bereits drei Millionen Menschen vertrieben wurden, zu keinen NATO-Angriffen führt, ist allerdings logisch – sind doch im türkischen Teil Kurdistans bereits NATO-Truppen am Werk. Der brutalste Krieg nach 1945 wurde freilich von der NATO-Führungsmacht selbst geführt. In der US-Aggression gegen Vietnam wurden auf das kleine Land dreimal soviel Bomben abgeworfen wie auf allen Kriegsschauplätzen des 2. Weltkrieges zusammen, ganze Regionen entvölkert und verwüstet und insgesamt zwei Millionen Vietnamesen ermordet. Zumindest seltsam mutet schließlich an, daß ausgerechnet die herrschende Klasse der USA den Anspruch erhebt, die Welt davor zu bewahren, daß irgendwelche unberechenbaren Schurken in den Besitz von Nuklearwaffen kommen – sind doch die US-Militärs die einzigen, die bisher solche Waffen auch eingesetzt haben.

Menschenrechte und Weltwirtschaftsordnung

Angesichts dieser Bilanz ist es reichlich unglaubwürdig, wenn uns die Damen und Herren Staatsmänner und ihre journalistischen Lakaien weismachen wollen, daß gerade die USA und die NATO die globalen Vorkämpfer für Menschenrechte, Demokratie und Frieden sind. Es fragt sich also, was Milosevic und seine Militärs eigentlich falsch machen, tun sie doch nichts anderes als das, was für die USA und die ihnen ergebenen Regimes in vielen Teilen der Welt zum Alltagsgeschäft gehört.

Auch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention kommt die jugoslawische Regierung durchaus nicht in Konflikt. Dort heißt es in Artikel 2, daß die Anwendung staatlicher Gewalt legitim ist, "um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder einen Aufstand zu unterdrücken". Daß der serbische Staat über die notwendigen Gesetze verfügt, um gegen albanische Seperatisten und Terroristen vorzugehen, kann ebensowenig bezweifelt werden, wie daß der staatliche Terror gegen die Kurden in der Türkei oder die Schwarzen in den USA jeweils entsprechend juristisch gedeckt ist. Was Milosevic falsch macht, ist etwas anderes: Er betreibt Repression, Vertreibung und Krieg ohne Lizenz der NATO. Das betrachten die Verwalter der Neuen Weltordnung als Anmaßung und macht den Anspruch des serbischen Regimes auf sein staatliches Gewaltmonopol innerhalb seines Territoriums zur Aggression.

Warum aber haben die Türkei und Indonesien die westliche Lizenz zum Töten, während Jugoslawien und der Irak das modernste NATO-Kriegsgerät zu spüren bekommen? Beide gehören – neben dem Iran, Libyen, China, Kuba und einigen anderen – zu den wenigen Staaten, die nicht sofort springen, wenn in Washington, London oder Berlin jemand Hopp sagt. Beide Staaten agieren in der jeweiligen Region auf eigene Rechnung. Beide verweigern dem Westen den völligen politischen und wirtschaftlichen Zugriff. Beide verfügen über ein relativ großes militärisches Potential. Das wollen die westlichen Großmächte jetzt schrittweise abstellen. Wenn man dazu Rußland und China durch wirtschaftlichen Druck eine Zustimmung aufzwingen konnte, läuft das ganze mit UNO-Mandat. Zunehmend – und das macht auch die neue Qualität der militärischen Attacken auf Jugoslawien aus – handelt aber die NATO auf eigene Faust. Damit etablieren sich die politsch-militärischen Führungen der USA und mit Abstrichen auch von Großbritannien, Frankreich und Deutschland immer mehr als alleinige richterliche und polizeiliche Instanz über Gut und Böse in der Welt.

Dabei kommen die Destruktivität und die Absurdität des kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung immer dramatischer zum Ausdruck. Für den größten Teil der Menschheit bedeutet das freie Wirken der Marktkräfte Elend und permanente Existenzangst, für unzählige Hunger und Tod. Obwohl an industrielle ebenso wie an landwirtschaftlichen Produkten eine massive Überproduktion existiert, leidet ein großer Teil der Menschheit Mangel an Gütern und Dienstleistungen – Wohnungen, Essen, medizinische Versorgung etc. Die verschärfte internationale Konkurrenz macht ökologische Rücksichtnahmen für das Großkapital – trotz häufiger gegenteiliger Beteuerungen – weitgehend zu einem Randthema und führt zu einer fortgesetzten Zerstörung des Ökosystems. Mit einem Bruchteil der Aufwendungen für die Rüstungsproduktion könnten Kindersterblichkeit, Seuchen und Hungertod weltweit weitgehend zum Verschwinden gebracht werden. Stattdessen nehmen Elend, Hunger und armutsbedingte Krankheiten auf allen Kontinenten zu. Das Reichtumsgefälle zwischen den westlichen Industriestaaten und den (halb-) kolonialen Ländern, das 1945 bei 30:1 lag, liegt heute bei 70:1.

Bei der kapitalistischen Ausplünderung der Welt spielen die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF), in dem wenige reiche westliche Staaten die Stimmenmehrheit haben, eine wesentliche Rolle. Mit Zins und Zineszins im Anschlag werden den imperialisierten Ländern eine Öffnung zum Weltmarkt und eine Kürzung der ohnehin mageren Sozialprogramme aufgezwungen. Dafür gibt es dann neue Kredite, die als Zinsen umgehend bei den westlichen Banken landen, und oft so nebenbei auch Militärhilfe, mit der aufmüpfige Bevölkerungen niedergehalten werden sollen. Für die Mehrheit der Menschheit sind Demokratie und Menschenrechte im Kapitalismus schlicht und einfach nicht vorgesehen. Und auch in Westeuropa und Nordamerika ist die vielgepriesene Demokratie nur formal und konjunkturell: formal, weil die Kapitalistenklasse mit ihrem Reichtum ganz andere Möglichkeiten hat, die Medien, das Ausbildungs- und Justizsystem zu bestimmen als die Arbeiter/innen und sich dort, wo es um den Profit geht, im Produktionsbereich, die Demokratie sowieso aufhört; und konjunkturell, weil die Bourgeoisie, sobald es ihr opportun erscheint, auch in den kapitalistischen Zentren zu autoritären Maßnahmen greift – vom Einsatz von Polizei und Militär gegen Demonstrationen oder Streikende bis hin zu faschistischen Regimes.

Sind die bürgerlichen Staatsapparate (Polizei, Militär, Justiz) generell schon Instrumente zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems, so ist die NATO eine militärische Vereinigung, in der dieselben Staaten das Sagen haben, die auch im IWF den Ton angeben – die USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien. Dementsprechend agieren NATO und IWF oft Hand in Hand. Beispielsweise bekommt Rußland eben nur dann einen neuen IWF-Kredit, wenn es der NATO nicht ins militärische Handwerk pfuscht. Die NATO ist die Institution, die von der Leine gelassen wird, wenn wirtschaftliche Erpressung und der Einsatz von US-³Militärberatern" nicht mehr ausreichen, um Rebellionen niederzuschlagen oder unbotmäßige Regierung zur Räson zu bringen. Die Aufgabe der NATO ist es, die mörderische kapitalistische Weltwirtschaftsordnung und die Interessen der internationalen Großkonzerne gegen die Interessen der Mehrheit der Menschheit zu verteidigen. Die Verteidigung von Menschenrechten der NATO und ihren Hintermännern zu überantworten, bedeutet deshalb nichts anderes als den Bock zum Gärtner zu machen. Das gilt auch und gerade für den Balkan.

Der Zerfall Jugoslawiens und die Rolle des Westens

Das titoistische Jugoslawien war – anders als die zentralistische Königsdiktatur der Zwischenkriegszeit – ein Bundesstaat, der auf den gemeinsamen Kampf der jugoslawischen Völker gegen die Nazi-Besatzer und ihre Kollaborateure (Ustascha, Tschetniks …) zurückging. Die Partisanenbewegung war multinational zusammengesetzt. Dementsprechend wurde auch der neue Staat konstituiert. Freilich wurde das Prinzip des gleichberechtigten Zusammenlebens der Völker gleich zu Beginn verletzt: Den Kosovo-Albanern, die selbst etwa 20.000 Partisanen stellten, war während des Krieges versprochen worden, daß sie nach dem Sieg eine eigene Teilrepublik bekommen. Das wurde aber – als Zugeständnis Titos an den serbischen Nationalismus – nicht eingehalten, was die Grundlage für spätere Spannungen legte. Nichtsdestotrotz hatten auch die Kosovo-Albaner in der Zeit Titos mehr Rechte als je zuvor (insbesondere mit der Autonomie ab 1974). Insgesamt beruhte die Stärke des titoistischen Jugoslawiens gerade auf der Einheit der Völker.

Die Führung der jugoslawischen Kommunisten – der Kroate Tito, der Serbe Rankovic, der Slowene Kardelj, der Montenegriner Djilas – konnten sich durch den Partisanenkampf auf eine weit breitere Unterstützung in der Bevölkerung stützen als die KPen in den osteuropäischen Ländern. Die KPJ konnte sich einen eigenständigeren Kurs erlauben, beseitigte 1946 gegen den Willen Stalins die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und orientierte sich auf eine sozialistische Balkanföderation unter dem Einschluß von Bulgarien, Griechenland, Albanien und Rumänien, was schließlich eine wichtige Rolle beim Bruch mit der Sowjetunion 1948 spielte.

Allerdings war Jugoslawien damit in eine internationale Isolation geraten. Und da die Titoisten an den stalinistischen Konzepten des Sozialismus in einem Land und der friedlichen Koexistenz mit dem Imperialismus festhielten und vor einem offensiven Konzept der Ausweitung der Revolution zurückscheuten, suchten sie ihr Heil schließlich in einer Annäherung an den Westen. Bereits in den 50er Jahren bezog Jugoslawien massive US-Kredite, mit denen eine wirtschaftliche Abhängigkeit eingeleitet wurde. Die Kredite mußte natürlich zurückgezahlt werden. In Kombination mit Stagnationstendenzen in der bürokratischen Planwirtschaft führte das bereits Ende der 60er Jahre zu ersten Krisenanzeichen. Mitte der 70er Jahre versuchten Tito & Co. mit einer Schwächung der zentralen Lenkungsorgane gegenzusteuern, was aber im Gegenteil die wirtschaftliche Stagnation nur noch verstärkte. 1979 geriet die Rückzahlung der Westkredite erstmals ins Stocken. Nach Titos Tod 1980 vertiefte sich die ökonmische Misere immer weiter und kombinierte sich auch zunehmend mit Anzeichen einer politischen Destabilisierung. Die westlichen Banken und der IWF hatten Jugoslawien nun fest im Würgegriff: Obwohl das Land allein zwischen 1985 und 1991 23 Milliarden Dollar an seine Gläubiger zahlte (während man im gleichen Zeitraum 7 Milliarden an neuen Krediten bekam), konnten damit nur Zinsen bedient, nicht aber die Schuldenlast verringert werden.

Unter dem Druck der imperialistischen Blutsauger versuchte die jugoslawische Bürokratie, die Krise auf die Arbeiter/innen abzuwälzen. Betriebe wurden geschlossen, Löhne monatelang nicht ausgezahlt und durch rasante Inflation entwertet. Die jugoslawischen Arbeiter/innen, von Slowenien bis Mazedonien, antworteten darauf mit einer Streikwelle, die in den Jahren 1986-88 immer größere Ausmaße annahm. Die erste Reaktion der jugoslawischen Arbeiterklasse auf die Krise war eine klassenkämpferische und keine nationalistische. Die Bürokratien der verschiedenen Republiken sahen sich nun aber zunehmend bedroht, machten da und dort Zugeständnisse – und setzten immer mehr auf die nationalistische Karte, mit der man die Arbeiter/innen gegeneinander aufhetzen und so die eigene Macht retten wollte. Die Streikbewegungen scheiterten schließlich an ihrer Orientierungslosigkeit. Es fehlte ihnen eine politische Führung, die eine alternative (arbeiterdemokratisch-revolutionäre) politische Perspektive anzubieten gehabt hätte. Erst auf den Trümmern der Arbeiterkämpfe von 1986-88 konnten die nationalistischen Tendenzen nun die Oberhand gewinnen und – in Kombination mit dem Westen – Jugoslawien in die Katastrophe der letzten Jahre steuern.

Die Konflikte zwischen den Republiksbürokratien entwickelten sich auch darum, wer die neuen Westkredite erhält und wer in welchem Ausmaß die alten Schulden bezahlen muß. Slowenien weigerte sich seit 1990, Zolleinnahmen an die Bundeskasse abzuführen. Die serbische Regierung wiederum hatte im Winter 1990/91 die Notenpresse angeworfen, damit die antiinflationäre Geldverknappungspolitik der Zentralregierung unterlaufen und sich so den Westen zum Feind gemacht. Die Regierung Markovic (1989-91) hatte nämlich mit dem IWF einen Sanierungsplan ausverhandelt, eine Schocktherapie, die wie üblich Einfrieren der Löhne, Streichung der Sozialausgaben und Öffnung der Märkte vorsah. Letzteres bedeutete, daß Jugoslawien von westlichen Importprodukten überschwemmt wurde. Das wiederum führte zu drastischen Produktionsrückgängen der jugoslawischen Betriebe und zu Kündigungswellen. Damit entstand eine soziale Sprengkraft, die schließlich in nationalistische Exzesse umgeleitet wurde.

Das wirtschaftliche Desaster war die wesentliche Motivation, daß sich die beiden reichsten Republiken Slowenien und Kroatien zunehmend auf eine Loslösung aus dem Staatsverband orientierten. Beschleunigt wurde das durch die Entwicklung in Serbien: Hier war 1989 Milosevic mit einer nationalistischen, anti-albanischen Kampagne zum Präsidenten aufgestiegen und hatte die Autonomie des Kosovo und der Vojvodina aufgehoben. Die Folge war nicht nur eine schrittweise Zuspitzung der Situation im Kosovo, sondern auch eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse im Staatspräsidium. Serbien verfügte jetzt (mit Kosovo, Vojvodina und Montenegro) fix über vier der acht Stimmen, wodurch Slowenien und Kroatien politisch ins Out gedrängt wurden. Damit hatte auch der serbische Nationalismus ganz entscheidend zur Desintegration Jugoslawiens beigetragen. Die Folge war, daß Slowenien und Kroatien im Juni 1991 ihre Unabhängigkeit erklärten. Dieser Schritt war von den Regierungen Deutschlands und Österreichs systematisch gefördert worden, die sich davon die Schaffung einer gemeinsamen Einflußzone versprachen.

Während Slowenien von der jugoslawischen Bundesarmee rasch aufgegeben wurde, entwickelte sich in Kroatien ein jahrelanger nationalistischer Bürgerkrieg, in dem beide Seiten versuchten, jeweils auch andere Mehrheitsgebiete unter Kontrolle zu bekommen. Anders als bei der Sezession Kroatiens wurde das Selbstbestimmungsrecht der serbischen Mehrheitsgebiete in Kroatien vom Westen nicht anerkannt. Im Gegenteil rüsteten die USA und Deutschland das autoritäre Tudjman-Regime in Kroatien auf und ermöglichten ihm so 1995 die ethnische Säuberung der Krajina und Westslawoniens. Die Vertreibung von über 400.000 Serben aus Kroatien, die teilweise mit brutalen Übergriffen der kroatischen Soldateska einherging, war in den westlichen Medien freilich kaum von humanitärer Betroffenheit begleitet.

Auch das multinationale Bosnien wurde von Deutschland und Österreich geradezu in die Unabhängigkeit gedrängt. Allerdings blieb dann nicht nur die versprochene finanzielle Hilfe aus, sondern der Westen wollte in Europa auch keinen islamischen Staat zulassen. In der Folge entwickelte sich hier der bislang brutalste nationalistische Krieg im zerfallenden Jugoslawien, in dem die moslemischen Bosnier der schwächste Teil waren und lange Zeit drohten, zwischen Kroatien und Serbien zerrieben zu werden. Schließlich entschied sich der Westen, in Bosnien selbst die Kontrolle zu übernehmen. Nach einem Massaker an der Zivilbevölkerung in Sarajewo, das äußerst zweifelhaft der serbischen Seite angelastet wurde, griff die NATO serbische Stellungen an und begannen kroatische Truppen eine Offensive in Westbosnien. Die geschwächten serbischen Nationalisten waren nun bereit, einer Halbierung Bosniens zuzustimmen, die im Vertrag von Dayton Ende 1995 besiegelt wurde. Bosnien wurde zu einem (mit UNO-Mandat getarnten) NATO-Protektorat, in dem weder die bosnische Regierung noch die Republika Srpska viel zu sagen haben und in dem die kroatischen Truppen überproportional große Gebiete kontrollieren. Insgesamt ist aus den Kriegen um Kroatien und Bosnien der – vom Westen unterstützte – kroatische Nationalismus als klarer Sieger hervorgegangen, während die serbische und moslemische Bevölkerung die Hauptopfer sind und deren Nationalismen mit ihren Zielen gescheitert sind.

Die NATO-Aggression und ihre Perspektiven

Im Kosovo hatte die Politik des serbischen Nationalismus die albanische Mehrheitsbevölkerung inzwischen soweit vom jugoslawischen Staat entfernt, daß die albanische Führung um Rugova zunehmend an Einfluß verlor – an die militanteren Nationalisten der UCK. Die traten der nationalistischen Unterdrückung bewaffnet entgegen, was schließlich ab dem Frühjahr 1998 zur Eskalation des Konflikts führte. In der UCK gab es von Anfang an auch eine links-nationalistische Strömung, die sich an Enver Hodscha und dem Stalinismus albanischer Prägung orientierte. Die dominante Rolle spielten aber zunehmend rechtsgerichtete, mit dem albanischen Ex-Präsidenten Berisha verbundene Kräfte. Dennoch war die UCK dem Westen keineswegs geheuer, zielte sie doch auf die Schaffung eines Großalbaniens ab – unter Einschluß der albanischen Mehrheitsgebiete Mazedoniens. Um einer beginnenden Destablisierung Mazedoniens und Albaniens und potentiell auch Bulgariens und der NATO-Staaten Griechenland und Türkei entgegenzuwirken, orientierten sich die Imperialisten schließlich auf ein bosnisches Modell, das in Rambouillet den beiden Seiten aufgezwungen werden sollte: ein NATO-Protektorat, das einerseits ein eigenmächtiges Agieren der UCK militärisch unterbindet und andererseits Rest-Jugoslawien weiter schwächt – mit der sehr realistischen Option, direkt gegen Jugoslawien vorzugehen.

Die jugoslawische Regierung konnte Rambouillet ja unmöglich akzeptieren, hätte das doch bedeutet, die militärische Kontrolle über den Kosovo an die NATO und neue albanische ³Polizeikräfte" (d.h. eine von der NATO kommandierte UCK) abzugeben und damit den Kosovo letztlich zu verlieren. Daß der Westen die Fristen für eine jugoslawische Unterzeichnung des Vertrages solange verlängert hat, bis Ungarn NATO-Mitglied war, ist sicher kein Zufall. Mit Rambouillet und erst recht mit dem Beginn der NATO-Angriffe ist die UCK offen und eindeutig auf eine proimperialistische Position übergegangen.

Der NATO geht es mit dem Angriff auf Jugoslawien freilich – ganz im Gegensatz zur medialen Propagandaoffensive – nicht im geringsten um die albanische Bevölkerung. Die Luftschläge, deren dritte Phase von der NATO zynischerweise als Operation Dresden bezeichnet wird, haben nicht nur für die serbische, sondern auch für die albanische Zivilbevölkerung die Lage nur weiter verschlechtert: Während die zivilen Opfer in Jugoslawien weit größer sind, als in den westlichen Medien zugegeben wird und für Hunderttausende die Lebensgrundlagen vernichtet werden, haben die serbischen Truppen und Paramilitärs im Kosovo angesichts der NATO-Attacken jede Zurückhaltung gegenüber der albanischen Bevölkerung aufgegeben und sich auf eine Massenvertreibung orientiert.

Worum es der NATO tatsächlich geht, sind – wenn man einmal von den Interessen der US-Rüstungsindustrie absieht – im wesentlichen drei Dinge: Erstens soll ein unbotmäßiges Regime geschwächt und in die Schranken gewiesen (und eventuell gestürzt) werden. Zweitens soll der südliche Balkan befriedet und eine stabile Einflußzone des Westens, durchsetzt mit NATO-Protektoraten, verwandelt werden. Drittens, und dabei geht es um weit mehr als um den Kosovo und den Balkan, soll die NATO endgültig als die Polizeitruppe der Neuen Weltordnung etabliert werden. Allerdings hat sich die NATO dabei in eine äußerst schwierige Situation manövriert, in der noch unklar ist, wie sie da wieder herauskommt. Im wesentlichen sind fünf Szenarien möglich, die alle ziemliche Probleme mit sich bringen:

Daß das serbische Regime nachgibt, ist im Moment äußerst unrealistisch. Die NATO-Angriffe haben Milosevic innenpolitisch unheimlich gestärkt. Außerdem könnte eine Kapitulation der jetzigen Regierung leicht dazu führen, daß extremere Nationalisten vom Schlage Seselj ans Ruder kommen und damit in Serbien keineswegs eine pro-westliche Stabilisierung erreicht wird. Freilich ist auch nicht völlig ausgeschlossen, daß angesichts eines fortgesetzten Bombenterrors die Stimmung in der jugoslawischen Bevölkerung kippt.

Wenn die NATO angesichts eines ungebrochenen Widerstandes in Jugoslawien ihre Angriffe einfach einstellt, käme das einer totalen Blamage gleich. Das würde nicht nur den westlichen Plänen für den Balkan, sondern der ganzen imperialistischen Weltordnung einen schweren Schlag versetzen. Das kann sich die NATO kaum leisten und ist deshalb ebenfalls äußerst unwahrscheinlich.

Eine realistischere Alternative ist die Teilung des Kosovo. Wenn durch NATO-Luftschläge und Vertreibungen sowohl die serbische als auch die albanische Bevölkerung in eine ausreichend aussichtslose Lage gebracht wurde, könnte es für die Führungen beider Seiten argumentierbar werden, ³als kleineres Übel" auf einen Teil des Kosovo zu verzichten. Nach dem bereits seit Jahren vorliegenden Plan der serbischen Akademie der Wissenschaften würde Serbien das nördliche Drittel entlang der Linie Pristina-Pec bleiben, in dem die meisten Rohstoffe zu finden sind. Für die NATO könnte ein solcher ³Kompromiß" durchaus akzeptabel und als Erfolg argumentierbar sein. Allerdings könnten neu gezogene Grenzen im Kosovo für die Albaner in Mazedonien, für die Serben in Bosnien und andere als Präzedenzfall wirken und neue Konflikte auslösen. Außerdem müßte eine Teilung des Kosovo durch NATO-Truppen abgesichert werden, die nur allzuleicht zu Zielen revanchistischer Übergriffe auch von albanischer Seite werden könnten.

Trotz der vorläufigen Beteuerungen der westlichen Politiker ist der Einsatz von NATO-Bodentruppen gegen Jugoslawien durchaus realistisch. Die NATO könnte sich bei einem erfolgreichen Verlauf definitiv als Weltpolizei im Dienste des Großkapitals durchsetzen, das lästige Regime in Belgrad beseitigen, den Kosovo und eventuell Montenegro von Jugoslawien abtrennen und die jugoslawische Militärmacht nachhaltig schwächen. An der militärischen Überlegenheit der NATO besteht kein Zweifel, allerdings würde ein Einsatz von Bodentruppen unweigerlich mit erheblicheren Verlusten bei den NATO-Soldaten einhergehen. Ob das politisch durchsetzbar ist, wird vor allem davon abhängen, wie sich die öffentliche Meinung in den NATO-Staaten entwickelt. Trotz der humanitären Kriegspropaganda, die den Weg für Bodentruppen gegen Jugoslawien bereiten soll, gibt es bereits jetzt insbesondere in Griechenland und Italien, aber auch in anderen NATO-Ländern erheblichen Widerstand gegen die NATO-Angriffe. Dazu kommt, daß der Einsatz von Bodentruppen den Konflikt mit Rußland beziehungsweise den Preis für ein russisches Stillhalten vergrößern würden.

Möglich ist auch eine Mischung der beiden letzten Szenarien: ein halbherziger Einsatz von NATO-Bodentruppen im Kosovo, der erst vor der Linie Pristina-Pec auf ernsthaften Widerstand stößt, dort zum Stehen kommt und schließlich auf eine Teilung hinausläuft, die nun für das serbische Regime noch eher argumentierbar wäre. Diese Variante wäre freilich auch mit den Problemen der beiden anderen verbunden.

Eine Ausweitung der NATO-Aggression wird jedenfalls umso schwieriger sein, je klarer sich die Linke, die antiimperialistischen Kräfte und die Arbeiterbewegung der NATO-Kriegspropaganda entgegenstellen, je mehr es gelingt, die ohnehin skeptische Bevölkerung für die Antikriegsbewegung zu gewinnen. Die Massendemonstrationen in Italien und die Anti-NATO-Streiks in Griechenland weisen hier den richtigen Weg. Der gegenwärtige Krieg der NATO hat historische Bedeutung. Der globale Herrschaftsanspruch des Finanzkapitals soll mit Bomben und Granaten festgeschrieben werden. In diesem Sinn bedeutet eine Niederlage der NATO, bedeutet jedes abgeschossene NATO-Flugzeug und jeder personelle Verlust auf NATO-Seite eine Niederlage für das weltweite kapitalistische Ausbeutungssystem – und damit einen Sieg für alle Ausgebeuteten. Die deshalb notwendige bedingungslose Verteidigung Jugoslawiens gegen die imperialistische Aggression kann aber nur glaubwürdig sein, wenn sie mit einer entschiedenen Kritik am serbischen Regime und seiner nationalistischen Politik einhergeht und auch das Selbstbestimmungsrecht der Kosovo-Albaner einfordert. Schluß mit den NATO-Attacken gegen Jugoslawien! Kampf der NATO-Kriegspropaganda und der nationalistischen Hetze gegen die Serben! Kein NATO-Beitritt Österreichs! Smrt NATO-Imperializmu! Smrt Nacionalizmu!